"Nun bitten wir den Heiligen Geist" (EG 124) – Lieder predigen

Heimkehr ins Wort

Manche Worte verdichten sich zu Räumen, die zum Verweilen einladen. Der alte Hymnus „Nun bitten wir den Heiligen Geist“ ist so ein bergendes Wortgehäuse und hat Generationen miteinander verbunden. Als ich das Lied zum ersten Mal hörte, hatte es tausendfach Geschichten und Geschichte geschrieben. Jedes Wort schien Welten zu hüten. Die erste Strophe stammt aus dem 9. Jahrhundert. Später legte Berthold von Regensburg (1210-1272) sie seinen Hörern ans Herz. Martin Luther erkannte zu seiner Zeit sofort die Kraft dieser Zeilen. Weil er wusste, dass Anfechtung und Elend schneller gedeihen, als der Glaube wachsen kann, schrieb er 1524 drei weitere Strophen unter die Noten. Er verwob die neuen Verse innig mit dem ersten und schuf aus dem alten Sterbehymnus ein starkes Lebens- und Glaubenslied.

„Heimat ist das, was gesprochen wird“ (Herta Müller)

36 Lieder von Martin Luther sind überliefert. Bis heute haben sie feste Zeiten im kirchlichen Jahreslauf. So fällt es schwerer, Worte und Wendungen des Reformators zu vergessen, als sie zu lernen. Viele blieben gleich in meiner kindlichen Seele haften. „Landpfleger“, „Wohlgefallen“, „Missetat“, „holdselig“, „Übel“, „Friedefürst“, „Magd“, „Kindeskind“, „barmherzig“ waren mir Wegmarken. In dem Lied „Nun bitten wir den Heiligen Geist“ wohnte ich schon, ehe ich es erfassen konnte. Der beträchtliche Text will gründlich rückwärts gelesen sein, bevor er vorwärts verstanden werden kann. Er erzählt seine Herkunft. Mir gingen die Worte erst ins Herz, als ich begriff, dass dieser uralte Choral mühelos fast alles zusammenbrachte, was ich über Jahre gesammelt hatte. Alle auf- und angelesenen Bruchstücke fanden eine stille Bleibe. Chagalls Engel und Brechts Weihnachtsgedichte, da Vincis Christus und ein zerschossener Marmor-Luther, das heitere Gesicht Elsa Brandströms und die Predigten Martin Niemöllers, die unruhigen Züge Dostojewskijs und die Verse Zinzendorfs, Emil Noldes Gartenparadiese, Bachs Magnifikat und Barlachs Bettler, das alles passte restlos zwischen die Zeilen der vier Strophen, als wären sie eine gotische Kathedrale. Ich wuchs in das Lied. Das Lied wuchs in mir. Es mischte sich in Gebete und Gespräche, stürzte in Einsamkeiten oder sang im lärmenden Getriebe. Einmal explodierten die Worte vor aller Augen und Ohren im Fernsehen. Das war im Oktober 1989. Bilder aus Leipzig zeigten junge Menschen, die sich mit Kerzen in den Händen und diesem Lied auf den Lippen aus Elend, Angst und Ohnmacht befreiten. Der Heilige Geist machte den Herbst zum Frühling. Die Friedliche Revolution beendete den Kalten Krieg in Europa. In diesem kurzen Moment enthielt jedes Wort die ganze Geschichte.

Not-Wenden

Oft haben diese Strophen mich oder sich gedreht. Es sind teuer bezahlte Not-Wenden. Wie die meisten Lutherlieder sind sie in Notlagen geboren, die bekämpft oder bewältigt werden mussten. So schrieb Luther sein erstes Lied, als zwei seiner Mitstreiter, Hinrich Voes und Johannes van den Eschen, am 1. Juli 1523 wegen ihres Bekenntnisses zur Reformation öffentlich verbrannt worden waren. Als hätte ihm die Nachricht die Sprache verschlagen, rettete er sich Wort für Wort aus der Verzweiflung zurück in den Glauben: „Ein neues Lied wir heben an“. Er zählte dem Tod die Tage, denn jede Blume musste ihm gewachsen sein.

„Der Sommer steht hart vor der Tür,
der Winter ist vergangen.
Die zarten Blumen gehn herfür.
Der das hat angefangen,
der wird es wohl vollenden!“,

heißt es in einer der Strophen.

Dieser trotzige Ton, für den der Reformator sich die Worte von der Straße sammelte, macht in allen seinen Liedern die Musik. Wohl deshalb sah Heinrich Heine nicht in der Bibelübersetzung, sondern in Luthers Liedern den eigentlichen Beginn des Hochdeutschen und war fasziniert von diesen Texten.

Todesfuge

Dem Lied ist nicht anzumerken, dass es vor dem Hintergrund einer unmenschlichen Zerreißprobe entstanden ist. Unmut und Unruhen der Bauern waren 1524 zu heftigen Auseinandersetzungen angewachsen. Die Überzeugung, dass ihre Forderungen berechtigt waren, entnahmen die aufgebrachten Kämpfer ihrer beklemmenden Not und dem druckfrischen Evangelium, das ihnen Martin Luther in ihre Sprache gebracht hatte. Auf den Feldern bei Frankenhausen standen sich 1525 plötzlich Glaube und Glaube mit der Bitte um den Heiligen Geist gegenüber. Die verzweifelten protestantischen Bauern sollen die erste Strophe angestimmt haben, ehe sie in der aussichtslosen Schlacht gegen die Übermacht der lutherischen Fürsten den Tod fanden. Die Strophe geriet zur „Todesfuge“. Kein Lied im Gesangbuch hat tiefere Wunden. Wer die Abgründe zwischen den Worten nicht kennt, bekommt sie womöglich zu spüren. Richtiges Singen kann auch sehr falsch klingen.

Verlässlicher Wegweiser

Das letzte Wort der ersten Strophe, „Elend“, bedeutet ursprünglich „Ausland“ und beschreibt eine zeitlose Mischung aus Weltangst und Himmelssehnsucht. Viele Menschen kehrten ihr Heimweh nach innen und wurden Ausländer im eigenen Land. Ihnen wurden Luthers Strophen ein verlässlicher Wegweiser im irdischen Labyrinth des Glaubens. In der zweiten Strophe wälzt Luther zuerst den Angststein vom Herzen und entfacht ein Osterlicht. Gott hat das Elend heimgesucht und das „Ausland“ zur Herberge gemacht. Er wurde Hausbesetzer im eigenen Haus. Im Reich Gottes gibt es kein Ausland mehr. Das ist die Botschaft. Die Gottesferne ist aufgehoben, seit Gott selbst in einem irdischen Grab lag. „Gottes Sohn wurde Mensch, damit der Mensch Heimat habe in Gott“, schreibt Hildegard von Bingen (1098-1179). Niemand stirbt mehr für sich allein. Luther nennt die so geschenkte Freiheit in der neuen Muttersprache „Vaterland“. Nirgends war dieses Wort wahrer als auf Rembrandts letztem Bild. An der „Heimkehr des Verlorenen Sohnes“ malte seine Seele ein ganzes Leben lang. Deshalb konnte er den entscheidenden Augenblick göttlicher Liebe ins Licht rücken. Die Hände des Vaters liegen auf dem Rücken des Bettlers, in dem er sein heimgekehrtes Kind erkennt. Die ganze Welt wird in die Arme des Vaters zurückgetragen.

Angesehen werden

Liebe, die im Glauben geboren wird, macht aus Waisen Schoßkinder. In der dritten Strophe wird ihre Wirkung beschrieben. Sie verändert die Beschenkten bis an den Rand der Sprache. Wer liebt, braucht immer weniger Worte. „Liebe, und tu, was du willst.“ Ein einziger Satz genügt dem Kirchenvater Augustinus (354-430) als gültiges Maß für die ganze Welt. Wen Gott ansieht, dem zeigt er sein Herz. In solcher Zuwendung weckt er den „Geschmack fürs Unendliche“, wie Friedrich Schleiermacher (1768-1834) es treffend nannte. Nur den Liebenden schmeckt Gott „süß“.

Die Kraft göttlicher Liebe vergleicht Luther nun mit der glühenden Hitze des Feuers, der „Brunst“, wie es im Original noch heißt. Diese Liebe kann den „eisigen Ring“ schmelzen, den die „Selbstsucht um das Ich gelegt hat“, notierte der UNO-Generalsekretär Dag Hammarskjöld (1905-1961) in seinem Tagebuch. Zum Schluss der Strophe geht die Liebe aufs „Ganze“. In einzelnen Menschen wird der „Schalom“ geboren, der Frieden, der die ganze Welt vereinen und befreien kann.

Wo der Himmel anfängt

Die letzte Strophe ruft den Tröster. Nicht selten geraten Glaube, Licht und Liebe innerhalb eines einzigen Herzschlags an ihre Ränder. Schande und Tod bleiben enge Nachbarn. Nur so können ganze Machtsysteme auf Furcht und Zittern setzen und Sinne und Seelen deformieren. Die Hölle wird zum schleichenden Prozess. Sie beginnt und endet auf Erden. Unaufhörlich verlangt der Tod das letzte Wort. „Mitten im Tod sind wir vom Leben umfangen“, setzt Luther andernorts in einer gedrehten Liedzeile dagegen und verweist auf den Samariter aus dem Lukasevangelium (10,34). „Diese Wunde wird nur geheilt, wenn man in der Herberge Öl und Wein hineingießt.“ Dort fängt der Himmel an. Mitten in der Welt, wo Trost und Liebe, Hoffnung und Tat zu einem einzigen Geschehen werden, ist Gott selbst nichts als Barmherzigkeit. Zuvor ruft er in die Entscheidung. Denn, so schreibt Luther, „Furcht ist nichts anderes als ein Anheben der Verzweiflung, wie Hoffnung ein Anheben der Genesung ist“.

Trost mag die empfindlichste Frucht des Heiligen Geistes sein, aber dem Tod bleibt sie gewachsen wie ein Reis im Winter:

„Die zarten Blumen gehn herfür.
Der das hat angefangen,
der wird es wohl vollenden.“

Gebet:
Gib mir Einsicht,
dass ich begreife.
Gib mir Nachsicht,
dass ich verzeihe.
Gib mir Vorsicht,
dass ich erwarte,
Gib mir Umsicht,
dass ich erkenne.

Tagesgebet:
Erleuchte uns
durch die Wahrheit deines Wortes.
Bewahre uns
die Kraft des Glaubens.
Wecke in uns
die Stimme des Gewissens.
Erhalte uns
die Gnade unabhängiger Gedanken.
Lass uns fragen, was du willst,
und tun, was du erwartest.

Psalmvorschlag: Psalm 67,2-8
Evangelium: Johannes 12,44-50
Lesung: 1. Petrus 1,3-5
Liedvorschläge: 193 (Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort)
421 (Verleih uns Frieden)
347 (Ach bleib mit deiner Gnade)

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