EinzelkinderAuch ohne Geschwister niemals einsam

Einzelkinder gelten als verwöhnt, egoistisch und einsam. Ist an diesen Klischees eigentlich etwas dran? kizz sprach mit dem Entwicklungspsychologen, Frühpädagogen und Familienforscher Prof. Hartmut Kasten, der sich viel mit Geschwisterbeziehungen beschäftigt hat. Er macht deutlich, dass Einzelkinder oft falsch eingeschätzt und den Geschwisterkindern gar nicht so unähnlich sind.

Einzelkinder: Auch ohne Geschwister niemals einsam
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Die meisten Haushalte mit Kindern sind hierzulande inzwischen Familien mit nur einem Kind. Fehlt diesen Einzelkindern etwas?
Einzelkindern wird häufig unterstellt, sie seien egoistisch und verwöhnt, erwachsenenorientiert oder einsam. Bestenfalls lobt man es, wenn sie mehr Förderung genießen, und bescheinigt ihnen dann höhere Lernbereitschaft oder Intelligenz. Dabei zeigen neuere Studien, dass die Zahl der Geschwister für die Entwicklung eines Kindes gar nicht so wichtig ist, sondern viel mehr die Art und Weise, wie die Familienmitglieder miteinander umgehen und wie die Eltern ihre Kinder behandeln.

Fangen wir doch mal beim ersten Klischee an: Fällt es Einzelkindern tatsächlich so schwer zu teilen?
Natürlich ist Teilen ein Lernprozess, und bei Einzelkindern besteht die Gefahr des Verwöhntwerdens. Aber gerade Einzelkinder werden im Durchschnitt viel häufiger in Kleinkindergruppen, bei Tagesmüttern mit mehreren Kindern oder in Horten betreut als Geschwisterkinder. In solchen Einrichtungen erleben sie das Zusammenleben mit Gleichaltrigen hautnah und täglich. Dabei schulen sie ihre sozialen Fähigkeiten und lernen auch abzugeben und zu teilen.

Ein Spielzeug lässt sich aber leichter mit einem anderem Kind teilen als die Mama, oder?
Das engere Verhältnis zu den Eltern spielt natürlich eine wichtige Rolle. Aber anders als Sie meinen. Einzelkinder haben keine "Pufferzone", sie sind ihren Eltern mehr ausgeliefert als Geschwisterkinder. Überfrachten die Eltern ihr Kind mit Wünschen, Ansprüchen und Förderung, haben sie keinen Schutz, keine Unterstützung, zum Beispiel durch ein Geschwister. Und wenn's mal Streit gibt, stehen zwei Erwachsene einem Kind gegenüber - oder das Kind sitzt zwischen zwei Stühlen. Geschwister geben einander Rückendeckung, diese fehlt Einzelkindern zuweilen.

Stimmt es, dass Einzelkinder in der Schule oft erfolgreicher sind?
US-amerikanische Untersuchungen dokumentieren, dass Einzelkinder im Durchschnitt etwas besser abschneiden als Geschwisterkinder und ein höheres Bildungsniveau erreichen. Interessant ist, dass sie sich selbst auch etwas positiver einschätzen. Vielleicht, weil sie sich der ungeteilten Liebe und Aufmerksamkeit von Mutter und/oder Vater sicher sind. Außerdem können sich Einzelkinder erfahrungsgemäß etwas besser als Geschwisterkinder allein beschäftigen. Sie lesen, musizieren und basteln mehr - davon profitiert auch der Schulerfolg.

Gibt es so etwas wie das typische" Einzelkind?
Nein. Vom wissenschaftlichen Standpunkt aus gibt es keinen Grund dafür, Einzelkinder in einen Topf zu werfen und sie zu vergleichen mit einem anderen "Topf" Geschwisterkinder. Denn so verschieden sind die "Töpfe" auch nicht. Unter den Einzelkindern und Geschwisterkindern gibt es etliche Untergruppen, die sich voneinander viel deutlicher unterscheiden als Einzelkinder von Geschwisterkindern. Ob ein Kind mit einem oder mit beiden Elternteilen aufwächst oder wie sehr die Eltern beruflich eingespannt sind und wie viel Zeit sie sich für die Kinder nehmen, das ist zum Beispiel viel bedeutsamer für die Entwicklung des Kindes als die Frage der Geschwister.

Was ist das Beste, was Eltern für ihr Einzelkind tun können?
Stellen Sie so früh wie möglich regelmäßige und dauerhafte Kontakte zu anderen Kindern her. Und gewähren Sie dem Kind auch innerlich den Freiraum, den es - altersabhängig - braucht. Bringen Sie Ihr Kind zum Beispiel zu der Freundin oder dem Freund, die/der es eingeladen hat - aber bleiben Sie möglichst nicht dabei. Dasselbe gilt auch für Turnstunden, Musikkreise oder ähnliches: Geben Sie dem Kind die Chance, so viele Erfahrungen ohne Sie zu machen wie es möchte. Ansonsten gibt es keine Patentrezepte: Jede Familie ist anders, jedes Kind hat seine Eigenarten, die seine Eltern würdigen und auf die sie eingehen sollten.

Die Fragen stellte Barbara Erbe.

kizz Buchtipp

Kasten, Hartmut: Einzelkinder und ihre Familien. Hogrefe-Verlag 2007

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