Gemeinsame Studie von ver.di und der Hochschule Fulda„Gewalt ist eng mit den Arbeitsbedingungen verknüpft“

Wie viel Gewalt in Kitas alltäglich erlebt wird, hat kürzlich wieder eine Befragung zu verletzendem Verhalten in der Sozialen Arbeit bestätigt. Für Elke Alsago und Nikolaus Meyer ist klar, dass die Erkenntnisse Folgen haben müssen.

Drei illustrierte Windräder mit Symbolen in der Mitte: eine Hand, ein Herz und ein Kopf im Profil.
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Was war der Auslöser für Ihre Befragung?
Elke Alsago: Mehrere Entwicklungen. ver.di-Personal- und Betriebsräte berichten uns zunehmend von Vorfällen mit verletzendem Verhalten. Es häufen sich Fälle, in denen Fachkräfte unangemessen und übergriffig agieren. Manchmal werden sie aber auch selbst durch Kinder verletzt. Unsere Kolleg:innen berichten von immer mehr Elternbeschwerden und untragbarer Belastung der Fachkräfte. Diese Situation untersuchen wir seit fünf Jahren gemeinsam mit Befragungen. Besonders zu nennen ist hier der Kita-Personalcheck von 2021 mit 19.400 Teilnehmenden und alarmierenden Ergebnissen: 38 Prozent betreuten zeitweise 13 bis 20 Kinder allein, 24,4 Prozent sogar über 20. Fast 46 Prozent gaben an, nicht genug Zeit für die Kinder zu haben. Es stellt sich die Frage, ob es sich bei der beobachteten Gewalt um Einzelfälle handelt oder ob strukturelle Probleme Gewalt begünstigen. Unsere Untersuchung von 2023 zu den Arbeitsbedingungen zeigt: Wo vorgeschriebene Pausen nicht eingehalten werden, kommt es häufiger zu Gewalt.

Nikolaus Meyer: Andere Studien wie die von Astrid Boll und Regina Remsperger-Kehm belegen den Zusammenhang zwischen Gewalt und strukturellen Bedingungen. Verletzendes Verhalten reicht von unbeabsichtigten Grenzverletzungen bis zu Machtmissbrauch und Vernachlässigung. Ursachen sind oft nicht aufgearbeitete Erfahrungen in der eigenen Biografie, mangelnde Fachkompetenz oder strukturelle Probleme wie hohe Arbeitsbelastung oder eine schlechte Aufstellung des Teams. Mit Kolleg:innen des ver.di-Netzwerks haben wir an der Hochschule Fulda einen Fragebogen erstellt, der diese Annahmen überprüft und weitere Gewaltfaktoren im Alltag untersucht. Dabei wollten wir nicht nur die Gewalt gegen Kinder, sondern auch durch Kinder und unter Kolleg:innen in den Blick nehmen.

Was sind die wichtigsten Ergebnisse Ihrer aktuellen Befragung?
Nikolaus Meyer: Teilgenommen haben 930 Kita-Fachkräfte mit mindestens einem Jahr Berufserfahrung. 80 Prozent von ihnen berichten von psychischer Gewalt unter Kindern, fast die Hälfte auch von physischer; ein Drittel von sexuellen Grenzverletzungen oder sogar Übergriffen.

Elke Alsago: Physische Gewalt üben besonders häufig Kinder gegen Beschäftigte aus. Psychische Gewalt erlebt mehr als jede zweite Person durch Kolleg:innen, über 60 Prozent beobachteten psychische Gewalt von Fachkräften gegen Kinder. Besonders problematisch zeigt sich, dass weitere negative Dynamiken entstehen, sobald sich Gewaltmuster im Einrichtungsalltag etabliert haben. Gewalt darf aber nicht isoliert betrachtet werden, da sie eng mit den Arbeitsbedingungen verknüpft ist. Und wenn die Strukturen es nicht verhindern, wiederholen sich die Verletzungen.

Um genau dem entgegenzuwirken, gibt es doch Schutzkonzepte, oder?
Nikolaus Meyer: Schutzkonzepte sind in vielen Kitas zwar vorhanden, greifen aber oft zu kurz. Sie fokussieren meist auf Fortbildungen oder den Kontakt zum Jugendamt, während die eigentliche Arbeit mit den Kindern und Eltern sowie in Konfliktsituationen im Kita-Alltag unberücksichtigt bleibt.

Elke Alsago: Hinzu kommt die Personalfluktuation: Nur knapp 12 Prozent der Teams haben sich vergangenes Jahr nicht verändert. Zwei von fünf Beschäftigten verlassen pro Jahr die Einrichtung. Das macht die Kontinuität in der Beziehung zu Kindern und gute Einarbeitung sowie Teamarbeit schwierig und verschärft die Überlastung zusätzlich. Viele Fachkräfte spielen mit dem Gedanken, ganz aus der Kita auszusteigen. Daher brauchen wir dringend eine Aufwertung des Berufs.

Nikolaus Meyer: 65 Prozent sind auch außerhalb der Arbeitszeit erreichbar, 89 Prozent leisten ständig Überstunden, 65 Prozent verzichten auf Pausen, 99,7 Prozent berichten von Arbeitsüberlastung, 98 Prozent erfüllen den eigenen pädagogischen Anspruch nicht mehr. Das ist eine Abwärtsspirale, in der die Qualität der Arbeit sinkt und Fachkräfte immer mehr erschöpfen.

Welche Schlüsse ziehen Sie daraus?
Elke Alsago: Wir sehen Fachkräfte, die durch persönliches Engagement den Betrieb aufrechterhalten, während die Politik Kita-Plätze ausbaut, ohne ausreichendes Personal mit entsprechender Qualifikation dafür zu haben. Viele Träger vernachlässigen Arbeitsschutzpflichten wie die Gefährdungsbeurteilung bei psychischer Belastung. Zugleich muss sich die Berufsgruppe klar positionieren: Verletzendes Verhalten jeglicher Art widerspricht unserem beruflichen Selbstverständnis, darf nicht toleriert werden und gemeinsam mit dem Träger muss die Situation analysiert und Abhilfe geschaffen werden.

Wie geht es nun weiter?
Elke Alsago: Ministerien und Fachverbände erhalten von uns die Ergebnisse, um Qualitätsstandards weiterzuentwickeln, und politisch Verantwortliche in Kommunen, Ländern und Bund, um gesetzliche und strukturelle Verbesserungen voranzutreiben. Niemand soll sagen können, nichts von der Überlastung der Fachkräfte gewusst zu haben. Zudem bringen wir die Ergebnisse in Anhörungen auf Bundes- und Landesebene sowie in die Tarifverhandlungen ein. Aber auch Träger müssen ihren Einfluss auf die Arbeitsbedingungen für Verbesserungen nutzen. Nur so lassen sich Überlastung und damit Gewalt verhindern.

Was muss Ihrer Meinung nach passieren, um die Kita-Situation zu entspannen?
Elke Alsago: Gute Arbeitsbedingungen sind nicht nur ein Gewerkschaftsthema, sondern Grundvoraussetzung für pädagogische Qualität. Oft werden Entscheidungen wie etwa die Änderung der Fachkräftekataloge in einigen Bundesländern oder die Vergrößerung von Gruppen ohne die Beschäftigten getroffen. Kindeswohl ist aber nicht nur eine abstrakte Größe in Extremfällen, sondern wird direkt von den strukturellen Bedingungen in Kitas beeinflusst. Fachkräfte und Kinder brauchen deshalb dringend Verbesserungen.

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