Ein Brief nach RusslandChristen schreiben Christen

Seit 35 Jahren setzt sich der deutsche Priester Manfred Deselaers in Auschwitz für Versöhnung ein. Angesichts des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine lässt ihn das Gefühl nicht mehr los: „Tu doch etwas!“ Daraus entstand ein Brief von Christen aus Deutschland, Polen und der Ukraine an Christen in Russland.

Handy-Display mit ukrainischem Luftalarm
© Screenshot Manfred Deselaers

Auf meinem Handy-Display habe ich ein Foto von einer Ikone der Mutter Gottes von Kazan. Ich habe auch noch die Luftalarm-Warn-App von meinen Besuchen in der Ukraine. Fast täglich erscheinen die Alarme über der Ikone. Ich habe immer den Eindruck, Maria und ihr Sohn schauen mich sehr traurig an und wollen mir sagen „Tu doch etwas!“

Täglich höre ich in den Nachrichten, dass etwas getan werden muss: Mehr Waffen! Oder Verhandlungen, die wie Kapitulation klingen. Was auch immer, es bleibt in der Logik der Gewalt. Gibt es nicht auch eine andere Logik?

Ich bin deutscher Seelsorger in Oświęcim, neben der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau, in Polen. Hier habe ich Ukrainer und Russen kennengelernt, mit denen ich mich befreundet habe. Ich war seit 2022 dreimal in Russland und dreimal in der Ukraine. Ich kann nicht sagen, dass mich der Krieg nicht berührt.

Gibt es nicht auch eine Logik der Liebe? Kann die nicht Berge versetzen? Ist das nicht unser christlicher Glaube? So begann ich, in diesem Krieg auf die Suche nach der Logik der Liebe zu gehen.

Am 23. Februar 2022, am Tag vor dem Beginn des großen Krieges, präsentierte ich in Moskau die russische Übersetzung meines Buches über den Kommandanten von Auschwitz mit dem Titel: „Und Sie hatten nie Gewissensbisse?“ Ein Jahr später bin ich als Tourist nach Russland gereist, um meinen Bekannten und Freunden zuzuhören. In diesem Jahr bin ich dann noch einmal als Pilger nach Kazan gereist, um dort um Frieden zu beten.

In die Ukraine wurde ich eingeladen, um im römisch-katholischen Priesterseminar über Vergebung vor dem Hintergrund meiner deutsch-polnischen Erfahrungen zu sprechen. Ich habe mehrmals bei Fliegeralarm im Keller gesessen und in der Psychiatrie in Lviv die Abteilung für Soldaten besucht.

Überall traf ich auf die Sehnsucht, dass einmal eine friedliche Beziehung zwischen Ukrainern und Russen möglich sein solle. Aber wie kann das geschehen? Es ist sicher nicht möglich, die Wunden und Traumata, Verbrechen und Morde, Schuld und Verantwortung nicht ernst zu nehmen.

So entstand die Idee zu diesem Brief. Es ist ein Brief von Christen an Christen, getragen vom Glauben an Gottes Liebe, Gerechtigkeit (und gerechten Zorn) und Barmherzigkeit. Es ist der Versuch, nicht auf einer politischen Ebene, sondern auf einer Glaubensebene einerseits nichts zu verschweigen und Schuld zu benennen, und andererseits gleichzeitig darüber nachzudenken, wie Versöhnung möglich sein kann.

Es ist ein Brief an, nicht über oder gegen Russen, getragen von der Hoffnung, Herzen erreichen und nötigenfalls bekehren zu können.

Der Initiator des Briefes ist ein Deutscher in Polen, kein Ukrainer. Ich kann nicht für Ukrainer sprechen, auch wenn ich mit Ukrainern über diesen Brief gesprochen habe. Ich hoffe, dass viele Christen in Deutschland und in Polen diese Botschaft an die Christen in der orthodoxen Kirche in Russland mittragen. Das hat auch deshalb Bedeutung, weil wir aus der Erfahrung der Deutsch-Polnischen Versöhnungsgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg kommen. Ich hoffe auch, wer den Brief unterschreibt, begreift, dass es nicht leere Worte bleiben dürfen, sondern eine Verpflichtung bedeutet, sich selbst für Frieden, Gerechtigkeit und Versöhnung einzusetzen. 

Den Brief habe ich mit vielen Menschen konsultiert, zuletzt mit den Erstunterzeichnern: in Deutschland Gerold König, Bundesvorsitzender von Pax Christi Deutschland; in Polen Dr. Robert Żurek, Verwaltungsdirektor der Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung, der über die Rolle der Kirchen im Prozess der Deutsch-Polnischen Versöhnung promoviert hat; in Polen der griechisch-katholische Priester Stefan Batruch, der eine Stiftung für Polnisch-Ukrainische Versöhnung gegründet hat; in der Ukraine Weihbischof Edward Kawa, Generalsekretär der römisch-katholischen Bischofskonferenz in der Ukraine; in Deutschland der russische orthodoxe Priester Andrey Kordochkin, der die russische orthodoxe Kirche verlassen musste, weil er für den Frieden statt für den Sieg betete, und dann in das Ökumenische Patriarchat von Konstantinopel aufgenommen wurde. Er ist in einem Netzwerk zur Unterstützung russischer Priester aktiv, die aus dem gleichen Grund in Schwierigkeiten geraten sind.

Wir sind erst am Anfang mit der Verbreitung unseres Briefes. Die bisherige Resonanz ist erstaunlich positiv, soweit sie bei mir ankommt. Nicht alle unterzeichnen. Namen aus Russland anonymisieren wir, weil Unterzeichner in Russland dafür empfindlich bestraft werden können. Wichtig ist nicht so sehr die Anzahl der Unterschriften, sondern vor allem das Gespräch über diese Themen, die Nähe zum Leiden der Menschen in der Ukraine und die ausgestreckte Hand zu den Christen in Russland. Doch am wichtigsten ist wohl, dass wir nicht aufhören, füreinander zu beten.

Hier geht es zum Brief

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