Selten kommt es vor, dass die Erste oder Zweite Lesung eindrucksvoller
und bekannter ist als das Evangelium. Bei der
Perikope, die vom sogenannten Pfingstwunder berichtet
(Apg 2,1–11) und Teil der Leseordnung des Pfingsttages ist, handelt
es sich um einen solchen Fall. Es hat etwas verstörend Wunderbares,
wenn sich plötzlich Feuerzungen auf den Köpfen der Anwesenden
niederlassen. Die Szene macht deutlich, welche Kraft
das Wirken des Heiligen Geistes entfalten kann, wenn man ihn
denn lässt.
Die Herausforderung liegt nun darin, diesen Text mit der
gleichen Freude und Leidenschaft vorzulesen, die er eigentlich
auslösen will. Vordergründig wird eine außergewöhnliche Geschichte
erzählt, doch die Botschaft dahinter ist umwälzend und
soll deutlich machen, mit welcher Intensität der Heilige Geist in
Erscheinung tritt und auch heute in den Menschen wirksam wird.
Dies drückt sich in lebhaften Bildern aus: Da ist das Brausen des
Sturmes, die helle Aufregung der Jünger, die Feuerzungen, das
Sprachengewirr im Freien, die Bestürzung und Irritation über die
Verständigung trotz der verschiedenen Sprachen, die Aufzählung
der zahlreichen Gebiete, aus denen die überwältigend vielen Menschen
kommen, und natürlich das, worüber gesprochen wird: Gottes
große Taten. In der Folge dieser Geschehnisse tritt Petrus vor
die Menge und predigt mit bahnbrechender Überzeugungskraft,
sodass viele Menschen der Glaubensgemeinschaft hinzutreten und
sich taufen lassen (Apg 2,14–42). Es sind ergreifende Ereignisse,
und sie sollten auch so vorgelesen werden. Was man dafür braucht,
sind Vorbereitung, Übung und Fantasie.
Vorlesen mit Fantasie
Wie so oft liegt das Geheimnis im guten Erzählen. Die Hörenden
sollen die Geschichte mit ihren Bildern und Symbolen in all ihren
Details erfassen und trotzdem das Ganze im Blick behalten: nämlich
welche Impulskraft das Geschehen ausgelöst hat, das in seiner Wirkung
und Strahlkraft bis heute spürbar ist. Es ist daher zuerst notwendig,
sich als Leser/in in das Geschehen hineinzudenken. Wenn
man die Perikope vorab liest, ist es ein interessantes und vor allem
emotionales Experiment, sich zunächst die Szene und die Personen
vorzustellen und sich ein Stück weit mit ihnen zu identifizieren.
Die Jüngerinnen und Jünger haben sich auch am 10. Tag nach
Jesu Himmelfahrt „am selben Ort“, einem Haus, versammelt. Vielleicht
sind sie ratlos, wie alles weitergehen sollte. Möglicherweise
sind einige mutlos, einige aber auch voller Tatendrang. Was hätten
die Jüngerinnen und Jünger in dieser Situation gebraucht?
Ablenkung? Ermutigung? Konkrete Unterstützung in Form von
praktischer Hilfe? Oder einen Geistesblitz? Auf jeden Fall machen
sie weiter; manche sind vielleicht eher abwartend und schauen,
wie sich die Dinge entwickeln; andere zeigen sich beharrlich, um
trotz aller Widrigkeiten als Gemeinschaft zusammenzubleiben und
weiter den Glauben zu verkünden. Schließlich hatte Jesus ihnen
zugesagt: „Und ich werde den Vater bitten und er wird euch einen
anderen Beistand geben, der für immer bei euch bleiben soll, den
Geist der Wahrheit (…)“ (Joh 14,16–17). Wie mochte dieser Beistand
aussehen? Wann würde er erkennbar sein?
In dieser Situation erscheinen plötzlich „Zungen wie von Feuer“.
So etwas würde niemanden unberührt lassen; die Wahrnehmung
verschiedener Sprachen löst in der Folge Bestürzung und
Staunen aus. Manchem von uns würde so etwas die Sprache verschlagen.
Womöglich würde man staunend dastehen und das Geschehen
um sich herum einfach auf sich wirken lassen. Hier ist die
eigene Vorstellungskraft gefragt.
Sprecherische Beweglichkeit
Die Grundeinstellung, dass hier etwas absolut Spannendes geschieht,
prägt die Perikope von Anfang an. Der erste Vers beginnt zwar ruhig,
doch kündigt sich eben dadurch an, dass es so nicht bleiben wird.
Vers 2 fordert bereits einen Kontrast im Lesemodus ein: Beim „plötzlichen
Brausen“ sollte das Sprechtempo ein wenig erhöht werden.
Eine anschließende Pause, in der die Spannung gehalten wird, weckt
die Vorstellungskraft bei den Hörenden. Beim „heftigen Sturm“ bauen
sich ebenfalls das Tempo und zusätzlich die Lautstärke auf. Mit
einer Pause wird dem Gedanken Gewicht verliehen. Was man hier
also braucht, ist eine Feineinstellung im Tempo, indem man es innerhalb
eines Gedankens variiert. Dies ermöglicht, ihn farbiger und
lebendiger zu gestalten. Während das beim spontanen Sprechen
spielend gelingt, haben wir beim Lesen meist ein bestimmtes Grundtempo,
das vom Text, von den Sprechgewohnheiten und natürlich dem Raum abhängt. Es ist jedoch ganz entscheidend,
auch beim Lesen innerhalb einzelner
Sätze oder Passagen den Sprechduktus
zu verändern, um eine Szene plastischer
gestalten zu können.
In den Versen 3–4 wird das Geschehen
noch konkreter: „Und es erschienen ihnen
Zungen wie von Feuer, die sich verteilten;
auf jeden von ihnen ließ sich eine nieder.“
In Vers 4 gipfelt die Aussage im Heiligen
Geist. Hier wird vor allem eine sorgfältige
Akzentuierung dazu beitragen, dass sich
das Ereignis mitteilt und verstanden wird,
d. h. die Hörenden berührt.
Die Vorbereitung ist hier wichtig: Durch
ein mehrmaliges lautes Lesen entwickelt
sich ein Gefühl für die eigene Sprechmelodie.
Je nachdem, wie etwas betont wird,
lässt sich die Wirkung des Gesagten verfeinern.
Es erfordert Übung, Haupt- und
Nebenakzente sensibel zu platzieren. Analog
zur Variabilität im Tempo empfiehlt sich
eine Feinabstimmung in der Modulation. Es
reicht nicht, einen Satz im gleichmäßigen
Auf und Ab zu lesen, sondern man braucht
Beweglichkeit, um die Sprechmelodie in
Nuancen zu variieren und etwas von der
Atmosphäre auszudrücken.
Kaum ein anderer Text vermittelt deutlicher
als Apg 2,1–11, dass ein vermeintlich
neutrales Lesen weder hilfreich noch wünschenswert
sein kann. Neutral gelesen wird
jeder Text farblos und konturlos. Er verliert
seine Wirkungskraft. Doch das Pfingstgeschehen
will uns ja gerade berühren, mitreißen
und verwandeln!<>/p>
Verwandlung durch Inspiration
Die Verwandlung, die der Heilige Geist bewirkt,
drückt sich in der Pfingsterzählung
schließlich im Wunder der Verständigung
aus: Alle reden in ihrer jeweiligen Sprache,
und trotzdem verstehen sie einander. Um
die Dimension deutlich zu machen, werden
Sprachen oder vielmehr Gebiete und Völker
aufgezählt (V. 9–11), die die damals bekannte
Welt symbolisieren sollen. Die zahlreichen
fremden Bezeichnungen mögen
dem Lektor bzw. der Lektorin aber nicht
zu Zungenbrechern werden. Dies würde
die Schönheit und Wirkungskraft des Geschehens
überdecken oder verzerren.
Ganz gegensätzlich zu dem emotionalen
Zugang in der ersten Hälfte der Perikope
ist es nun hilfreich, in der Vorbereitung
systematisch und analytisch vorzugehen.
Zuerst stellt die Sprechzeilen-Gliederung
im Lektionar eine Hilfe dar. Wenn man
zunächst jede Zeile mit den zwei bis drei
Namen für sich alleine liest, werden sie
überschaubarer. Als Zweites hilft es, die
Namen in Sprechsilben zu gliedern, um sie
in kleineren Einheiten zu erfassen, etwa
Phry-gi-en oder Pam-phy-li-en. Nun kommt
es auf die richtige Betonung an. Anders als
im Satz, wo die Betonung immer flexibel
gesetzt werden kann, ist sie in einem Wort
nicht beliebig. Manche Wörter tragen daher
einen Akzent als Betonungszeichen auf
einem Buchstaben. Die so ausgezeichnete
Silbe wird betont, z. B. Kap-pa-dó-ki-en.
Hat man sich all dies bewusst gemacht und
geübt, empfiehlt es sich, die Länder- und
Völkernamen in der Zeile fließend hintereinander
zu lesen und zu artikulieren, bis
man mit dem Sprechrhythmus vertraut ist
und einen flüssigen Lesestil entwickelt hat.
Auf diese Weise verliert die Aufzählung der
Namen ihren Schrecken, weil sie Struktur
bekommt.
Pfingsten erinnert uns an die Frische
und Verwandlungsfähigkeit des Geistes.
Es ist ein Fest, das für Esprit sorgt, uns Mut
und Energie schenkt, tatkräftig zu werden
oder zumindest mit der Ausstrahlung von
Zuversicht unterwegs zu sein. Ist das nicht
das Wesentliche des Christseins? „Denn Gott
hat uns nicht einen Geist der Verzagtheit
gegeben, sondern den Geist der Kraft, der
Liebe und der Besonnenheit“ (2 Tim 1,7) –
dieser Geist ist wie ein innerer Kompass, auf
den man sich verlassen kann.
Manchmal scheint es, als hätten wir
Christen dies vergessen. Dabei sind es
gerade diese Qualitäten, mit denen wir
auch andere inspirieren können. Es sind
Ressourcen, die uns selbst stärken und
mit denen wir anderen helfen können. In
der Zweiten Lesung des Pfingsttages finden
wir den Vers: „Jedem aber wird die
Offenbarung des Geistes geschenkt, damit
sie anderen nützt“ (1 Kor 12,7). Auch dies
beschreibt, was der Heilige Geist bewirkt.
Es liegt auch an uns Lektorinnen und Lektoren,
zu zeigen, aus welchem Geist wir eigentlich leben. Wir können als Einzelne,
als Kirche und als Gesellschaft gar nicht
genug von dem Geist bekommen, der fortwährend
schöpferisch, belebend und verwandelnd
wirkt.