Aufhören und anfangen

Das Foto der großen Fotografin Herlinde Koelbl auf der Titelseite dieses Themenheftes zeigt, wie sich ein Kind, vorsichtig noch, ins Wasser wagt. Irgendwann wird die stützen­de Hand loslassen. Es wird allein weitergehen. Hinaus ins Leben. Hinein ins Meer der Möglichkeiten. Kindheit und Erwachsenenalter, Berufsleben und nachberufliche Zeit: Immer hört etwas auf und Neues fängt an. Nach den Alten kommen die Jungen. Nach dem Winter kommt der Frühling und auf die Nacht folgt der Tag. Auch wenn wir uns gerne im Gewohnten einrichten – Veränderungen sind unvermeidlich. So ist das Leben.

Es gibt die geplanten und die vorhersehbaren, die erwarteten und herbeigesehnten Über­gänge: Endlich ist die Schulzeit vorbei, und das Abenteuer des Lebens kann beginnen. Endlich die Kinder aus dem Haus. Endlich der Ruhestand, die große Freiheit. Und was dann kommt?
Das ist noch weit weg.

Und es gibt die abrupten Übergänge. Den Praxisschock nach der Schulzeit. Den Pensi­onierungsschock nach dem Ruhestand. Oder: Plötzlich wirft einen eine Krankheit aus der Bahn, unerwartet stürzt einen der Tod eines geliebten Menschen in den Abgrund. Trauerphasen sind akzeptiert. Aber bitte nicht zu lange. Leben geht doch weiter. Zwi­schen Ende und Anfang, Nicht-mehr und Noch-nicht, ist eine Schwelle.
Dahinter beginnt das Unbekannte, der unbetretene Pfad: Was nun?

Übergänge brauchen Zeit und geben Zeit. Jetzt ist Innehalten angesagt, Geduld, Lang­samwerden, auch Neugier und Ausprobieren von Neuem.

Natürlich bestimmt immer auch die Gesellschaft oder eine bestimmte Kultur mit, wie Veränderungen erlebt und Übergänge gestaltet werden. Wie Jugendliche etwa durch die Pubertät kommen, hängt, ganz von der Umgebung ab. Mädchen in Deutschland, so zeigen Untersuchungen, erleben ihre Pubertät eher negativ, sie sehen sich häss­licher werden. In Ghana dagegen erhalten Mädchen, die zum ersten Mal ihre Regel bekommen, einen Perlengürtel umgelegt. Das wirkt sich natürlich auch auf das Selbstbe­wusstsein aus. In Kenia empfinden Jungen diese Zeit als negativ – sie haben Angst, weil, zumindest in ländlichen Gebieten, jetzt die Beschneidung ansteht und Perspektiv­losigkeit droht. In Indien dagegen freuen sich ihre Alters­genossen. Sie gelten jetzt als männliches Schönheitsideal. So unterschiedlich sind die Erfahrungen.

Übergänge müssen gestaltet werden. Das geschieht in ver­schiedenen Kulturen durch Rituale. Rituale sind Schwel­lenhandlungen. Sie sollen Geborgenheit und Sicherheit vermitteln in Zeiten der Unsicherheit und so neue Frei­heit geben im Weitergehen. Besonders wichtig sind sie bei der Geburt, beim Übertritt ins Erwachsenenalter, bei der Eheschließung und der Beerdigung. Dazu kommen im Kreislauf des jahreszeitlichen Geschehens Übergangs­rituale wie Erntedank im Herbst oder Lichterfeste in der dunklen Jahreszeit.

Übergang heißt auch: Grenzen überschreiten. Dass das auch eine reale politische Seite hat, erleben wir heute. Flüchtlinge, die Schlagbäume überrennen, Grenzzäune überklettern, das Meer überqueren, suchen Auswege in ein anderes, besseres Leben.

Gesellschaftlich erleben wir Übergänge in der Dynamik der wirtschaftlichen Entwicklung, in den Umbrüchen der Politik, der Klimaveränderung, den weltweiten Migrati­onsbewegungen. Wohin wird das führen? Welche Gren­zen gelten noch? Und was bedeutet das alles für unseren Lebensstil? Für unser Verhältnis zueinander?

Wann der Tag beginnt und die Nacht endet, wird in einer chassidischen Geschichte gefragt. Wenn man einen schwarzen Faden von einem weißen unterscheiden könne? „Nein“, sagt der Meister: „Der Tag beginnt dann, wenn ihr in das Gesicht eines Menschen blicken könnt und euren Bruder oder eure Schwester darin erkennt. Bis dahin ist die Nacht noch bei uns.“

Zeit des Übergangs ist immer. Etwas endet immer, mit jedem Augenblick. Und Neues fängt an, jeden Moment. So ist das Leben. Aber am Ende steht das endgültige Hin­übergehen. Was dann beginnt, und wohin genau es füh­ren wird?

Wir wissen es nicht.
Doch gespannt dürfen wir sein.

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