Bilder, Worte und Klänge verbinden sich beim Singen: Die oft sehr emotionale Klangwelt ist im Mittelpunkt, aber auch die rationale Dimension der Worte ist präsent mitsamt der symbolischen Kraft von Bildern. Bei fast jedem biblischen oder theologischen Thema könnte ich angeben, in welchen Liedern oder Werken der geistlichen Musik es mir zuerst begegnet ist: von der Schöpfung im „Sonnengesang“ bis zum „Amen“ der Vollendung. Solche Verbindungen von Wort und Ton sind in meiner Erinnerung viel stärker als die meisten theologischen Bücher, die ich gelesen habe. Vielleicht deshalb, weil man im Singen die spirituelle Botschaft nicht nur von außen wahrnimmt, sondern mit dem eigenen „Organ“ hervorbringt?
Das Instrument des eigenen Körpers
Es gibt keine einfachere Art Musik zu machen, als zu singen. Das Instrument ist der eigene Körper, nicht nur die Kehle. Der Atem spielt eine wichtige Rolle, aber auch die vielen Resonanzräume kommen ins Spiel. Und immer ist das Singen ein Spiegel der gesamten Befindlichkeit: Trägt meine Stimme oder bebt sie aufgeregt? Kann ich „meine Stimme halten“, auch wenn neben mir ganz andere Klänge zu hören sind, etwa bei einem mehrstimmigen Choral? Den richtigen Ton treffen, auch darum geht es. Singen umspannt und verbindet überdies ganz organisch viele Bereiche der Musik.
Komponierte Gebete
Das Spektrum des Singens im Chor reicht vom Kirchen- oder Gospelchor bis zum Vokalensemble, vom schlichten vierstimmigen Choralsatz bis zu Bachs Weihnachtsoratorium. All diese Gesänge sind „komponierte Gebete“, die nicht nur den Gehalt der vertonten Worte intensivieren, sondern vor allem deren Geste – sei es ein Flehen und Seufzen, Loben und Danken; oder gar ein Jubel, der sich in freien Aufschwüngen erhebt. Diese körperlich-geistige Intensivierung meint wohl auch der Augustinus zugeschriebene Satz: „Wer singt, betet doppelt.“ „Doppeltes Beten“ ereignet sich, wenn der Brückenschlag gelingt zwischen Komponist und Werk, Sängern und Hörern und der Situation: der Aura einer romanischen Kirche etwa oder dem Flair einer Landschaft, wenn im Freien gesungen wird.
Erfahrung von Gemeinschaft
Vermutlich gibt es keine bessere Möglichkeit, eine Gruppe versammelter Menschen zu innerer Sammlung zu führen als Singen. Einen Psalm gemeinsam nur zu sprechen gelingt nur selten. Singend finden wir viel schneller zu einer Gemeinsamkeit. Und was könnte wohltuender sein als das organische Spiel von Hören, Singen und Schweigen, wenn zwei Gruppen beim Psalmieren miteinander abwechseln. Wenn die Pause zwischen zwei Psalmhälften zur gemeinsamen erfühlten und erfüllten Gestalt wird, weil jeder er selbst bleibt und wir zugleich die Länge des Innehaltens – ohne Dirigent und ohne Orgelspiel – gemeinsam erspüren, dann ist vieles erreicht, was sich nur schwer in Worte fassen lässt.
Gesungene Ikone
Die Reinkultur des gesungenen Gebets ist der gregorianische Choral, den manche eine „gesungene Ikone“ nennen. Ein „Klangleib“ umgibt die Worte, indem er sie zugleich versinnlicht und ihnen musikalisch nachspürt. In der Osternacht genügen die beiden Töne der „Rufterz“ zu den Worten „Lumen Christi – Deo gratias“ als Begrüßung des Lichtes. Dieser gregorianische Gesang des Osterlobes, der „Exultet“ genannt wird und in der Osternacht zum Lob der Osterkerze erklingt, ist ein einzigartiger Höhepunkt des Singens: „Frohlocket, ihr Chöre der Engel, frohlocket, ihr himmlischen Scharen, lasset die Posaune erschallen...“ Der Gesang gleicht einer großen Prozession, weil von den Engeln über die Natur bis zur „Mutter Kirche“ alle Geschöpfe zum „Frohlocken“ aufgefordert werden, dessen „Echo“ hier und jetzt die heilige Halle des Kirchenraums erfüllen soll. In einem solchen Gesang steckt nicht nur Musik, sondern auch die ganze Ostertheologie: Dreiklang, der das Singen mit dem Hören und dem Denken verbindet.
Lieder – spirituelle Muttersprache
Lieder sind die „Intimgeschichte des Christentums“ (H. Kurzke). Wer sie sich einprägt, wird auch von ihrer Botschaft geprägt, erfährt und lernt also viel für die Partitur seines Lebens. Lieder wie „Christ ist erstanden“ (12./13. Jh.), „Wer nur den lieben Gott lässt walten“ (1641) oder „O Haupt voll Blut und Wunden“ (1656) können sich über die Jahrhunderte hinweg behaupten. Besonders im Protestantismus sind solche Choräle geradezu zur spirituellen Muttersprache geworden, die den Rhythmus des Kirchenjahres ebenso prägt wie die persönlichen Lebensstationen. Obwohl Choräle typische „Wir“-Gesänge sind, stehen sie oft in der „Ich“-Form, weil mein eigener Beitrag zum Gesamtklang wichtig ist. Spannend ist es, in einer kleinen Gruppe zu singen, weil jeder auf jeden hören muss. Und auch wenn zum solistischen Singen Mut gehört: bei keinem Instrument kann man so deutlich erleben, wie ein musikalischer Schritt den ganzen Menschen verändert. Nach einer halben Stunde Stimmbildung stehe ich anders da, klinge anders und habe eine neue Ausstrahlung.
Entgrenzende Kraft des Menschengesangs
Dass Singen Grenzen geradezu aufsprengt, kann jeder spüren in Erlebnissen der Stimmigkeit: Wenn wir nicht mehr an der Musik arbeiten müssen, weil sie uns „trägt“; oder wenn sie mit ihrer Botschaft so klar erklingt, dass wir singend und hörend alles andere vergessen. Höchste Aufmerksamkeit paart sich mit Spielfreude. Oft wird die entgrenzende Kraft des Singens auch in das Bild vom Menschengesang gefasst, der sich mit dem Lob der gesamten Natur verbinden will: „Alles, was atmet, lobe den Herrn“ (Psalm 150); oder noch weiter strebt zu den himmlischen Klängen der Engel, damit „Menschen- und Engelsstimmen“ das ewige „in dulci jubilo“ anstimmen. Oder denken wir an Beispiele aus jüngerer Zeit, etwa an Taizé-Gesänge wie „Ubi caritas et amor“ oder „Meine Hoffnung und meine Freude“, die von meditativer Wiederholung leben, was in großen Gruppen und mit wechselnder instrumentaler Begleitung besonders gut gelingt. Niemand hat es in der Hand, ob und wann der Funke eines Liedes überspringt. „Vertraut den neuen Wegen“ von Klaus-Peter Hertzsch entstand im Jahr 1989 zu einer Hochzeit in der damaligen DDR. Ohne dass jemand es beabsichtigt hätte, fand das Lied seinen Weg in Gruppen und Gemeinden, weil der Verfasser, etwa mit den Worten „Weil Leben heißt: sich regen, weil Leben wandern heißt“ einen Nerv getroffen hatte. Die schönste Verheißung für das Singen ist das „Neue Lied“. Der Theologe Dietrich Bonhoeffer nennt es „das Lied, das uns neu macht, auch wenn es ein ganz altes Lied ist“.