Die Bestimmung des FeindesThomas Morus will selbst dem Teufel Gerechtigkeit widerfahren lassen

Der eminenten Figur des europäischen Humanismus war die unbedingte Selbst-Verpflichtung zur Gerechtigkeit oberster Anspruch. Eine Besinnung darauf könnte unserer Konstruktion von Bösewichtern abträglich sein. Hinter irgendwelchen "Werten" oder "Menschenbildern" sollte man sich vor den damit verbundenen Zumutungen nicht verstecken.

Der heilige Thomas Morus auf einem Bild Hans Holbein d. J.
© Wikimedia commons / gemeinfrei

I.

"If the parties will at my hands call for justice, then, all were it my father on the one side and the devil on the other, his cause being good, the devil should have his right." Wie bitte? Haben wir das richtig verstanden? Dieser ungeheuerliche Satz also noch einmal, jetzt auf Deutsch: "Wenn die Parteien Gerechtigkeit von mir verlangen und es stände dabei mein Vater auf der einen Seite und der Teufel auf der anderen und dessen Sache wäre gut, dann sollte der Teufel recht bekommen." Sagte ein Großer des europäischen Geistes, Thomas More (latinisiert: Morus), Humanist aus der vordersten Reihe, "Erfinder" des utopischen Denkens (unter dem Vorbehalt der Ironie wahrscheinlich), Lordkanzler Englands unter König Heinrich VIII., zurückgetreten, da er diesem keinen Gehorsamseid als Oberhaupt der Kirche schwören mochte, vierhundert Jahre nach seiner Hinrichtung als Märtyrer des Gewissens gegen die Macht heiliggesprochen. Ohne Verwerfungen war wohl auch jenes "gelungene Exemplar Mensch" nicht (dessen Hauptwerk Rudolf Augstein innerhalb der legendären "ZEIT-Bibliothek der 100 Bücher" vorstellte). Aber wie könnte das überhaupt jemand sein?

II.

Um persönlich zu werden: Im Alter, wo grundsätzliche Weichenstellungen für das Leben anstehen, bestärkte mich just diese Äußerung Mores sehr darin, dauerhaft beim (so der Schweizer Autor Gerhard Meier) "Volk der Christen" anzudocken. War darunter doch tatsächlich jemand über die Schmerzgrenze hinaus dazu bereit, am unbedingt verpflichtenden Anspruch von Lauterkeit jenseits eigener Bindungen, Interessen und Lager festzuhalten. Das imponierte mir. Wo sonst gäbe es dergleichen?

III.

Dies Außerordentliche lässt noch Robert Bolts Stück Ein Mann zu jeder Jahreszeit nachhallen, dessen Verfilmung durch Fred Zinnemann 1967 nicht weniger als sechs Oscars abräumte, darunter für den besten Film, die beste Regie, den besten Hauptdarsteller (Paul Scofield) und das beste adaptierte Drehbuch. Dort wird Mores Standpunkt zum Rechtsschutz selbst angesichts moralischer Verkommenkeit umakzentuiert. William Roper jedoch nahm in der Lebensbeschreibung seines Schwiegervaters andere Gewichtungen vor: "Durch keine Rücksichtnahme wollte er von der Gerechtigkeit abweichen". Muss sie demnach selbst dem Ur- und Erzbösen zuteil werden?

IV.

Den realen Teufel, lesen wir bei Roper schon vorher, fürchtete Sir Thomas als Versucher. Meinte er mit seiner Wendung also etwas anderes? Zielt sie auf den Umgang mit denjenigen ab, die wir erst zu Dämonen machen? Auf unsere höchst eigenen Ver-Teufelungen? Nehmen wir einmal an, es wäre so. Und bedenken wir ferner, dass es More weder um eine abstrakte Theorie von Gerechtigkeit ging (jenes Begriffs, der, wie man weiß, ohnehin ziemlich biegsam bleibt), noch um die Voraussetzung von Strafen, sondern um ein Verhalten Menschen gegenüber.

V.

Armer Märtyrer des Gewissens! Was er Roper anvertraute, würde ihm heute – von "naiv" über "verharmlosend" bis "brandgefährlich", wo nicht gleich "komplizenhaft" – mutmaßlich um die Ohren gehauen. Genussvoll pflegt die Lust am Abgrenzen von und Fertigmachen der uns entgegengesetzten Seite durch ethische Selbsterhöhung unterfüttert zu werden. Unsere Teufel sind selbstverständlich allemal gesichert und irreversibel solche. Gegen sie taugt nur harte Konfrontation, möglichst kollektiv. Jedes Argument wider die sie verpanzernde Sicht ist definitiv ausgeschlossen, von Bedingungen für ihre Bosheit oder einer Vorgeschichte ganz zu schweigen. Noch so winzig dosiert Ambivalenzen zuzulassen, "gute Sachen" bei ihnen allein in Erwägung zu ziehen, liefe darauf hinaus, Nicht Duldbares zu relativieren, Schädliches aufzuweichen, dessen unstatthafter (welch ein Vorwurf!) "Versteher" zu sein. Selbst die kleinst-partielle Bemühung zum Ent-Feinden bleibt vom Übel.

Dass wir den erklärten Teufeln durch solch strikten Antagonismus Unrecht tun könnten, darin besteht Mores kritischer Impuls. Für eine rational differenzierende Auseinandersetzung mit Positionen und Handlungen, zugunsten eines Austauschs, der nichts billigen müsste, sondern nur etwas aufbrechen, auch um Veränderungen zu eröffnen.

VI.

Audiatur et altera pars lautet ein ehrwürdiger Rechtsgrundsatz. Geschenkt! Mit dem von uns inkriminierten "Teil" zu reden (ja ihn auch nur reden zu lassen), bedeutet moralischen Verrat, ihm einmal zuzuhören und darüber nachzudenken, erst recht. Was immer er vorbringen mag, wäre doch schiere Tarnung, Lüge, oder Propaganda. Wahrheit hingegen wie sämtliche Facetten der Gerechtigkeit: Sie ist, sie sind immer schon und immer nur bei uns, den wehrhaften Gegen-Teufeln. Individuell verhält sich dies nicht anders als im öffentlichen Raum. Unter sehr verschiedenen inhaltlichen Vorzeichen ließen sich Exempel hierfür ausgiebig beibringen.

Bisweilen gerät obendrein "Gott" zum affirmierenden Mitstreiter, wo (und sei es in krasser Umwidmung biblischer Texte, dem 1. Petrusbrief, Kapitel 2, Vers 5 etwa, mit dem Bild "lebender Steine"), geistliches Führungspersonal die Bestimmung von Feinden als "Christ:innenpflicht" aufnötigen mag – so hingebungsvoll übrigens, wie es bei der Verkündigung von Glaubensinhalten kaum je zu Werke geht.

VII.

Mit seiner Einstellung noch in vorerwähntem "Volk" zum Außenseiter geworden, redet Sir Thomas gleichwohl wie ein authentischer Christ, indem er sich nicht hinter einem Über-andere-definitiv-bescheid-Wissen verschanzt. Eventuell hat er etwas von dem begriffen und in einer drastischen Formulierung zugespitzt, das Jesus – der große Welt-Fremde, dessen Zumutungen gern durch irgendwelche "Werte" oder "Menschenbilder" domestiziert werden – in verschiedene Aspekte ausfächerte. "Zöllner" und "Samariter" einmal genau betrachten! Menschen nie auf einen Nenner bringen! Feinde überwindend lieben (die am gründlichsten beerdigte unter seinen Weisungen)! Kein falsches Zeugnis ablegen! Nicht maß-los den Stab brechen! Balken und Splitter gehörig identifizieren! Eine "Höllenfahrt der Selbsterkenntnis" antreten (wie derlei verschärfend übersetzt werden könnte)! Frieden stiften, höchst nachdrücklich – mit Blick auf die Leidenden (denen allemal oberste Gerechtigkeit gebührt!) wieder und wieder wenigstens die Möglichkeit für ein Ende von Gewalt und Zerstörung ausloten!

VIII.

Auf die Frage eines Außerirdischen, ob das, was wir hier "Intellekt" nennen, sich sinnlich mitteilen kann, würde ich ihm das Porträt des Thomas Morus von Hans Holbein googeln. Gepaart mit Ernst und (was Wunder!) einem Anflug von Trauer, tritt Geistigkeit hier nachgerade erschütternd zutage.

IX.

Unter Inkaufnahme auch fatalster Konsequenzen wird ständig an verteufelnden Schemata und deren Zementierung hantiert. Hätte die Hinterlassenschaft skandalöser Humanisten und Heiliger dem nicht einiges entgegen zu setzen? Unbeirrbar – wie voller Trotz?

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