Das gute Leben ohne Gotteshorizont: mehrheitsfähig geworden zu sein scheint es mittlerweile. Neu ist diese Erkenntnis freilich nicht. Bereits während früherer Beschleunigungsphasen der westlichen Moderne gelangten aufmerksame Beobachter zu ihr. Sie heben Ursachen hervor, über welche nachzudenken sich unvermindert lohnen sollte.

I.

"Ich bleibe bei meiner alten These: der gegenwärtige Mensch ist weithin nicht nur gott-los, rein tatsächlich oder auch entscheidungsmäßig, es geht die Gottlosigkeit viel tiefer. Der gegenwärtige Mensch ist in eine Verfassung des Lebens geraten, in der er Gottes unfähig ist." Sätze von Alfred Delp. Zwischen Ende November und Mitte Dezember 1944 niedergeschrieben, im Gefängnis Berlin-Tegel, da der 37-jährige Jesuit auf seinen Prozess vor dem Volksgerichtshof wartete, die Hände gefesselt, auf hineingeschmuggeltem Papier.

II.

Vormals weit verbreitet war dieses Wort über eine Entwicklungslinie der westlichen Moderne. Keineswegs ausschließlich, doch zumal von der Religionsbetrachtung wurde es nach dem Zweiten Weltkrieg rasch aufgegriffen und oft zitiert. In maßgebliche Lehrbücher fand es Eingang, die Katholische Dogmatik von Michael Schmaus von 1960 etwa oder Adolf Kolpings acht Jahre später erschienene Fundamentaltheologie. Während des Zweiten Vatikanischen Konzils ging Joseph Ratzingers Kommentar zur Pastoralkonstitution Gaudium et spes darauf ein. So deute Artikel 19 dort auch "das Problem der 'Gottunfähigkeit' des Menschen" an, "der Gott gar nicht mehr zu leugnen braucht, sondern schlicht in der Abwesenheit Gottes lebt und die Frage, die sie aufrichtet, kaum zu empfinden scheint".

Danach brach die Aufmerksamkeit für Delps Diagnose ab. Angesichts euphorischer Hinwendung zur "Welt von heute", welche nun einsetzte, mag sie nicht mehr opportun erschienen sein.

III.

Dass der Mensch zur Wahrnehmung einer ihn überschreitenden Wirklichkeit angelegt sei, Gottes fähig, war christlicherseits lange Grundüberzeugung: homo capax Dei. Gleichsam konstitutionelle Zugänge setzt jene Perzeption voraus. Entsprechend "geistige und transzendentale Organe" zweifelt auch Delp nicht an. Allerdings: sie können verkümmern, insuffizient werden, ja völlig ausfallen. Kommunikationstheoretisch gesprochen läge die Störung dann beim Empfänger, nicht einem Sender, der seinen Betrieb eingestellt hätte.

Zur Inkompetenz jedenfalls führt sie, sich einer göttlichen Wirklichkeit gegenüber noch zu verhalten, und sei es nur neugierig oder herausgefordert. Sein Dasein scheint diesem Menschen komplett. Weder Sehnsucht noch Verheißung tasten es an. Gleichgültigkeit hinsichtlich eines Ganz-Anderen ist die Folge. Nicht eigentlich anti-, sondern a-religiös wirkt der aufkommende Phänotyp. Gott bleibt ihm obsolet, im Abseits restloser Unerheblichkeit.

IV.

Weniger absichtsvolle Wahl sieht Delp bei solchem Abbau der inneren Natur am Werk, als zuständlich gewordene Umstände struktureller Art, die Überwältigung durch eine selbsterzeugte Lebenswelt. Auf verschiedenen Ebenen wirken hier intellektuelle, soziale und materialisierte Einflussfaktoren zusammen. Ihre Kausalkette, die, "einmal begonnen, ihre eigene Logik und Konsequenz hat", treibt für den Mannheimer Jesuiten "fortschreitende Säkularisation" an, im Äußeren wie mental. Unter dem Vorzeichen allseitiger Kalkulier- und Bemächtigbarkeit (dem Optimierbaren entgegen allemal) stehe "das moderne Weltbewusstsein".

Die täglichen Erfahrungen bieten keine Anhaltspunkte mehr für ein Jenseits zur Immanenz als leuchtendem Raum jener "eigenherrlichen Selbstverwirklichung" und "subjektiver Glückserfüllung". Dem passförmigen Exponenten dieser Verhältnisse entschwindet es aus seinem Horizont. Interesse dafür bleibt Fehlanzeige. "Dieser endliche Mensch", schreibt Delp, "ist so sehr Tatsache, dass er nicht einmal mehr reden oder irgendwie denken kann von einer anderen Welt."

V.

Anschaulich hatte der protestantische Theologe Ernst Troeltsch früher noch (in seinem Aufsatz Das Wesen des modernen Geistes von 1907) dessen kolonisierendes Ausgreifen auf alle Lebensbereiche beschrieben: wie nämlich "Verdiesseitigung, Selbstvergötterung" – ja, auch sie gehöre wesentlich dazu! –, und "Rationalismus durch tausend Kanäle in alle Poren unseres Daseins" strömten, "uns allen" wie bereits "in Fleisch übergegangen" seien. Von einer "flüssig gewordenen Existenz" (mit welcher "die überkommene Form oder Gestalt" des Religiösen schwer "zusammen" zu bringen sei) ist bei Delp die Rede. In seinen Befindlichkeiten, Welt- und Daseinsbezügen tritt ein neuer Charakter zutage. Beide nehmen die Metapher einer "anthropologischen Mutation" vorweg. Vor dem Hintergrund sich verschärfender Modernisierungsschübe wird Pier Paolo Pasolini sie zu Beginn der 1970er Jahre in seinen Freibeuterschriften prägen: ein Ausdruck, welcher Unumkehrbarkeit signalisiert. (Aktuell greift etwa der Philosoph Guillaume Paoli auf dieses Modell zurück)

VI.

Aller Skepsis ungeachtet: Mit bloßer Bestandsaufnahme will Delp sich in seinen Reflexionen aus der Zelle nicht abfinden. "Alle Bemühungen um den gegenwärtigen und kommenden Menschen" (wie er paradigmatisch zu formulieren pflegt) "müssen dahin gehen, ihn wieder gottesfähig zu machen, wenigstens in der Offenheit zu und Ansprechbarkeit durch Gott". Zwei unterschiedliche Vorgehensweisen schlägt er vor. Das Bemühen um Reintegration der Individuen und ihrer Lebensverhältnisse in eine heilende "Seinsordnung", die es ihnen ermögliche, "zu-sich" zu kommen. Unterfüttert von seinem Tadel, dass "die Religion" selbst "in dieses moderne Leben so oft nur grundsätzlich und praktisch ahnungslos gesprochen" habe, wäre dafür jedenfalls zu werben. "Kein Ressentiment" sodann, sondern "Dienst": "das Nachgehen und Nachwandern auch in die äußersten Verlorenheiten und Verstiegenheiten des Menschen", bei ihm ausdrücklich grundiert "vom Ernst transzendenter Hingabe und Anbetung".

Doch vermag das Beispiel solidarischer Praxis tatsächlich den Pfad zur möglichen Gottes-'Neubefähigung' zu weisen und jene viel tiefer wurzelnde Säkularisation zu überwinden? Tritt hier kein wishful thinking zutage, das hinter seinen eigenen Erkenntnissen zurück bleibt? (Vorzuwerfen wäre ihm das jedoch nicht.) In aller Schärfe läuft das Nachdenken des Mannheimer Jesuiten ja eigentlich auf die Frage hinaus, ob es unter den Bedingungen dieser Moderne gemeinhin überhaupt noch den Glauben an einen welt-überschreitenden Gott geben könne.

VII.

Was vor acht Jahrzehnten im Anfangsstadium so hellsichtig umrissen wurde, kam mir in den Sinn, als ich (auf dieser Plattform) zuletzt mehrere Beiträge zu neuen Ergebnissen über die aktuelle Zuspitzung des Säkularisierungsprozesses las. Hätten sozialwissenschaftliche Studien doch hieb- und stichfest zutage gefördert, dass in Europa – "die bislang tonangebende Menschheit", so Delp, leicht spöttisch – ihrer Selbstauskunft nach Zeitgenossen "ohne Religion ein sinnvolles und glückliches Leben führen können", mit dem sie rundum zufrieden seien. "Leben in Fülle" sogar, upps! Nichts gehe ihnen ab, wenn Gott ausfalle. "Apa-Theismus".

Pathos und Bestürztheit der Reaktionen überraschten mich. Sollte 'Religionsexperten' dann und wann nur ein Kurzzeitgedächtnis zu eigen sein? Hatte man die wirklichkeitserschließende Kraft all der zahlreichen Einlassungen zum "Tod" oder einer Transformation Gottes (wohin auch immer) nie zur Kenntnis respektive ernst genommen, sie für Spintisierereien irgendwelcher Sonderlinge gehalten? Manch gewitzte Igel jedenfalls waren längst schon da – Martin Buber u.a. mit seiner Theorie von der Gottesfinsternis (1953) noch, C. G. Jung auch und die "Zeit des Gottesverschwindens" (1939) –, bevor die Empiriker nun die Furche entlanggeflitzt kommen. Auf anderen Denkwegen entwickelten sie zeitig und (mancherlei Auslassungen ungeachtet) recht genau ein Gespür für das, was jetzt – Leerstellen-behaftet nicht minder – auf breiter Front konstatiert wird. Nicht zuletzt haben sie tiefer reichende, plausible (wenn uns vielleicht auch unangenehm berührende) Gründe dafür benannt.

Ob in anderen Kulturen mit anderen religiösen Prägungen vielleicht andere Befindlichkeiten ortbar wären? Dies beispielsweise bedürfte ebenso des Diskurses wie mögliche Ursachen für die geringe Resilienz des westlichen Christentums.

VIII.

Eine innere Gerichtetheit moderner Gesellschaften ist kaum zu bestreiten. Sie läuft auch darauf hinaus, dass Gott zu einem Gegenüber vor allem wacher oder beunruhigter Einzelner in ihrem existentiellen Getroffensein wird. Mehrheiten zu bilden dürften sie kaum mehr, wahrscheinlich nicht einmal eine besonders signifikante Minorität. Sie zählen nicht, aber sie wiegen. Das Rechnen mit Gott wird zum Merkmal der Distinktion.

Andererseits bleibt man – gerade im Versuch, Christ zu sein – fortwährend gehalten, selbst Unerwartbares nicht auszuschließen. Und, wie Leszek Kołakowski einmal bemerkte: Die Moderne okzidentaler Spielart muss keineswegs das letzte Wort der Geschichte sein.

IX.

Finales spotlight auf den "Kirchenvater des 20. Jahrhunderts". Ein kluger Gewährsmann hat Alfred Delp füglich so beschrieben. Überliefert ist, was er auf dem Weg zur Hinrichtungsstätte Plötzensee seinem Begleiter sagte: "In wenigen Minuten werde ich mehr wissen als Sie."

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