Mehr als das GanzeBruckners kleine None – eine Annäherung

Anton Bruckner, dessen 200. Geburtstags in diesem Jahr gedacht wird, war gläubiger Katholik. Seine letzte Symphonie, die Neunte, widmete er "Dem lieben Gott". Deren dritter Satz beginnt mit einer None, durch die der regulär von einer Oktave gebildete Ton-Kosmos um eine Winzigkeit überragt wird: eine kleine Sekunde über das Ganze hinaus. Was für ein Fingerzeig auf das Transzendente hin.

Anton Bruckner in seiner Wohnung in der Heßgasse, Wien. Fotografie Ludwig Grillich, 1890
© Österreichische Nationalbibliothek, Anton Bruckner in seiner Wiener Wohnung 1890

I.

Die Oktave umschließt mit ihren zwölf Tönen – symbolisch – die ganze Welt. Das Adagio, der dritte Satz von Bruckners Neunter, der "Langsam, Feierlich" zu spielen ist, beginnt mit einer kleinen None, die von den Geigen einstimmig auf der G-Saite intoniert wird. Die kleine None – durch ein Glissando auf derselben Saite zu spielen – ist ein klein wenig mehr als die ganze Welt. Der Kosmos, der in einer Oktave gleichnishaft eingefasst ist, wird um eine Winzigkeit überragt, eine kleine Sekunde über das Ganze hinaus! Was für ein Fingerzeig: das Ganze der Welt wird durchlässig, der gewöhnliche Blick der Immanenz geöffnet auf ein Anderes, ein Transzendentes hin. Kaum zufällig hat Bruckner seine letzte Symphonie "Dem lieben Gott" gewidmet – jenem Deus semper maior, in dem alles, was war, ist und kommt, rettend eingeborgen ist.

II.

Dieser Gott kann nicht durch Maximalkategorien definiert werden, wie es der philosophische Theismus in seinen unterschiedlichen Spielarten immer wieder versucht hat, als er Einfachheit, Allmacht, Unveränderlichkeit, Ewigkeit und andere Hoheitsprädikate auf Gott bezogen hat. Das unergründliche göttliche Mysterium ist vielmehr durch Komparative zu umschreiben, die ins Offene, ins Größere, ins Lichtere und Herrlichere einweisen. Anselm von Canterbury (1033–1109) hat die Versuche, Gott in den Käfig von Maximalkategorien einzusperren, durch die Sprachregel des Komparativs aufgebrochen und der Theologie ein für alle Mal eingeschrieben, dass das göttliche Geheimnis als etwas zu denken ist, "über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann" – id quo maius cogitari nequit.

III.

Bruckner ist gläubiger Katholik. Für den frommen Revolutionär der Tonsprache ist das "etwas" ein "jemand", das namenlose Geheimnis ein "Du". Gott, den er täglich im Gebet angerufen und in der heiligen Messe durch Orgelmusik und Chorwerke verherrlicht hat, ist für ihn Ursprung und Ziel des Lebens, Fluchtpunkt seiner Sehnsucht. Schriftlich ist die Widmung der 9. Symphonie "Dem lieben Gott" allerdings nicht überliefert, wohl aber mündlich, der Komponist soll nach Mitteilung seiner Biografen August Göllerich und Max Auer gesagt haben: "Sehen Sie, ich habe bereits zwei irdischen Majestäten Symphonien gewidmet, dem armen König Ludwig als dem königlichen Förderer der Kunst, unserem erlauchten, lieben Kaiser als der höchsten irdischen Majestät, die ich anerkenne, und nun widme ich der Majestät aller Majestäten, dem lieben Gott, mein letztes Werk und hoffe, dass er mir so viel Zeit schenken wird, dasselbe zu vollenden." Die Kaiserliche Majestät ist in der sozialen Hierarchie der K.u.K.-Monarchie das Höchste. Durch die Rede von der "Majestät aller Majestäten" wird auch hier die alles Hohe überragende Größe Gottes zum Ausdruck gebracht – und da es die letzte Symphonie ist – Bruckner ist über der Komposition des vierten Satzes verstorben –, haftet der Widmung etwas Testamentarisches an.

IV.

Bemerkenswert aber auch die "Tonspaltung", die Bruckner durchführt. Die Sequenz h – c – h – ais umspielt das h. Zugleich entstehen durch die chromatische Umspielung des h schmerzliche Dissonanzen, wenn die Folgen durch mehrere Stimmen chiastisch gekreuzt werden. Als solle hier kompositorisch das Kreuz in den Gottesbegriff eingezeichnet werden. Die kleine Sekunde ist das kleinste Intervall. Sie deutet an, dass die "Majestät der Majestäten" durch Erniedrigung und Entäußerung nicht geschmälert wird (vgl. Phil 2,6-11). Der Deus semper maior hat sich durch die Passion des Sohnes als der Deus semper minor erwiesen, er hat das Kleine aufgesucht, um es groß zu machen. Was könnte es Größeres geben: "Magnificat anima mea …"


Hinweis: Im Jahr 2024 feiert die Musikwelt den 200. Geburtstag Anton Bruckners. Aus diesem Anlass präsentiert die Österreichische Nationalbibliothek vom 21. März 2024 bis 26. Januar 2025 eine Auswahl aus ihrer Bruckner-Sammlung unter dem Titel "Anton Bruckner: Der fromme Revolutionär". Bruckners Hauptwerke werden in dieser Schau ebenso vorgestellt wie seine biografischen Stationen, die die Vielfalt des österreichischen Kulturlebens im 19. Jahrhundert sichtbar machen.

Website zur Sonderausstellung

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