Psalm 20 – God save the KingDie Psalmen als Weg zur Kontemplation

Wohl kaum ein Thema wird in der gegenwärtigen weltpolitischen Lage theologisch so intensiv und kontrovers diskutiert wie die Frage nach der religiösen Legitimation von Gewalt. Ein Blick auf Psalm 20 lehrt: Das Volk erhofft Hilfe vom HERRN für den Gesalbten "am Tag der Bedrängnis", das heißt: an dem Tag, da er angegriffen wird. Weder kann der Psalm für eine gewaltbasierte imperiale Politik noch für eine gewaltsame Durchsetzung religiöser Geltungsansprüche in Anspruch genommen werden.

Bibel
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Nach der Überschrift gliedert sich der Psalm, den wir heute genauer betrachten wollen, in drei Strophen:

2–6    Wir-Strophe:  Wünsche für den Regenten
7    Ich-Strophe:   Reaktion des Gesalbten
8–10  Wir-Strophe:  Bekenntnis und Anrufung Gottes

Wünsche für den Regenten

In der ersten Strophe (V. 2–6) äußert eine erste Person Plural ("wir") Wünsche für eine zweite Person Singular ("dir"), die JHWH erfüllen möge. Im weiteren Verlauf des Gedichtes wird deutlich, dass die Wünsche einem König gelten, der im gesamten Gedicht allerdings nicht König, sondern nur einmal Gesalbter (Maschiach) genannt wird (V. 7). Nur Gott wird König genannt, und zwar nur einmal in der letzten Strophe in direkter Anrede (V. 10): "JHWH, hilf (rette) doch! O König, antworte uns am Tag, da wir rufen!"

Der erste Wunsch setzt voraus, dass sich der Regent "am Tag der Bedrängnis" an JHWH wenden wird: "Es antworte dir JHWH am Tag der Bedrängnis, es schütze dich der Name des Gottes Jakobs" (V. 2). Die Wünsche gelten einem vorbildlichen Regenten, der sich "am Tag der Bedrängnis" nicht an andere Götter wendet und der auch nicht – wie es später in Vers 8 heißt – auf "Rosse und Kriegswagen" seine Hoffnung setzt, sondern der auf JHWH vertraut. Der Wunsch setzt keine akute Gefahr voraus, sondern spricht von einem "Tag der Bedrängnis", der in Zukunft eintreten könnte. Wenn sich der Regent an einem solchen Tag an JHWH wendet, möge dieser ihm antworten. Bei der Bedrängnis dürfte vor allem an einen kriegerischen Angriff zu denken sein. Die Gottesbezeichnung Gott Jakobs erinnert an Jakobs Kampf am Jabbok, an dem dieser in Israel umbenannt wurde. Israel heißt Gottesstreiter, "denn mit Gott und Mensch hast du gestritten und gesiegt" (Gen 32,29). Kampf und mehr noch göttlicher Schutz verbinden sich mit dem Gott Jakobs: "Vor deinem Drohen, Gott Jakobs, erstarrten Wagen und Rosse", heißt es in Psalm 76,7. Und in Psalm 46 bekennen die Bewohner der Gottesstadt: "Mit uns ist der HERR der Heerscharen. Der Gott Jakobs ist unsere Burg."

Von dem Ort seiner Anwesenheit inmitten seines Volkes möge JHWH dem Gesalbten am Tag der Bedrängnis zu Hilfe eilen: "Er sende dir Hilfe vom Heiligtum, und vom Zion aus stütze er dich" (V. 3). Mit dem Heiligtum verbindet sich das Opfer. Genannt werden im folgenden Vers das Morgen- und das Abendopfer. Damit dürften alle Opfer gemeint sein, die der Regent während seiner Amtszeit am Tempel darbringt; ihrer möge JHWH am Tag der Bedrängnis gedenken: "Er gedenke all deiner Opfergaben, und dein Brandopfer erachte er für fett" (V. 4). Gedenken meint in der Bibel kein distanziertes Nachdenken, sondern ein handlungsorientiertes Wahrnehmen; wenn Gott des Elends seines Volkes in Ägypten gedenkt, dann kündigt er an, dass er nicht weiter zuschauen, sondern eingreifen wird (Ex 2,24).

Der folgende Vers verallgemeinert die Wünsche im Sinne einer guten und glücklichen Amtsführung. Das Anliegen erinnert an das Recht des Königs, bei Amtsantritt eine Bitte zu äußern; davon wird beim Regierungsantritt Salomos erzählt, als der HERR ihm des Nachts im Traum erschien und ihn aufforderte: "Sprich eine Bitte aus, die ich dir gewähren soll" (1 Kön 3,5). Vor und nach der Traumvision bringt Salomo Brand- und Heilsopfer dar (1 Kön 3,4.15).

In unserem Psalm lautet der Wunsch: "Er gebe dir nach deinem Herzen, und all deine Pläne erfülle er" (V. 5). Im folgenden Vers 6 bezieht sich das "Wir" in die Wünsche für den Regenten mit ein. Wenn Gott dem Gesalbten im Falle eines drohenden Krieges hilft, dann ist auch dem Volk geholfen und dann hat es allen Grund zu jubeln: "Wir wollen jubeln über deine Hilfe (Rettung) und im Namen unseres Gottes das Feldzeichen erheben" (V. 5a). Der letzte Vers verallgemeinert erneut die Wünsche für den König: "JHWH erfülle all deine Bitten!" (V. 5b).

Die Erkenntnis des Gesalbten

In Vers 7 wechseln plötzlich der Sprecher und die Sprechrichtung. Eine erste Person Singular ergreift das Wort. Aus dem Gesamtzusammenhang des Gedichtes kann es sich dabei nur um die Stimme des Regenten handeln. Bisher hatte ein "Wir" über JHWH und zum Regenten gesprochen. Jetzt spricht der Regent – über JHWH und über sich in der dritten Person. Dabei bezeichnet er sich nicht als König, sondern als Gesalbter. Die vom Volk vorgetragenen Wünsche haben ihn zu einer Erkenntnis geführt: "Jetzt habe ich erkannt, dass JHWH seinem (seinen) Gesalbten hilft (rettet). Er wird ihm antworten von den Himmeln seines Heiligtums mit Taten der Hilfe (Rettung) seiner Rechten." Die Rettung gründet in der Beziehung zwischen JHWH und seinem Gesalbten. Deshalb sagt dieser nicht: "JHWH hilft mir", sondern: "JHWH hilft seinem Gesalbten."

Die Rettung, um die es hier geht, gründet in der Zusage JHWHs an David und seinen Nachfolger: "Wenn deine Tage erfüllt sind und du dich zu deinen Vätern legst, werde ich deinen leiblichen Sohn als deinen Nachfolger einsetzen und seinem Königtum Bestand verleihen" (2 Sam 7,12). Die Einsetzung des Gesalbten "auf Zion, meinem heiligen Berg", angesichts eines bevorstehenden Aufstandes "von Völkern und Nationen gegen JHWH und seinen Gesalbten", hat Psalm 2 in Erinnerung gerufen. Hatte das Volk noch die Rettung ausgehend vom Heiligtum erbeten, so präzisiert der Gesalbte, dass die Rettung, wie einst im Kampf gegen die Könige Kanaans (Ri 5,20), vom Himmel kommen muss (vgl. 1 Kön 8,27–30; Ps 18,14–20).

Gefallen und aufgestanden

In der dritten und letzten Strophe (V. 8–10) ergreift das Volk wieder das Wort. Jetzt benennt es ausdrücklich eine Alternative, die bisher unausgesprochen im Hintergrund stand, und verwirft sie: "Die einen (rühmen sich) der (Kriegs-)Wagen, die anderen der Rosse, wir aber rühmen uns im Namen JHWHs, unseres Gottes. Sie sind gestürzt und gefallen, wir aber sind aufgestanden und hielten uns aufrecht" (V. 8–9). Der Unterschied besteht nicht im Fallen, sondern im Liegenbleiben und Wiederaufstehen. Im Unterschied zu denen, die ausschließlich auf "Rosse und Kriegswagen" vertrauen und nach der Niederlage nicht mehr aufstehen (vgl. Ps 18,39), sind "wir", die wir uns nicht der "Rosse und Wagen, sondern des Namens JHWHs unseres Gottes rühmen", wieder aufgestanden. Das Bekenntnis gründet in einer langen geschichtlichen Erfahrung Israels. Israel ist oft gefallen, doch immer wieder aufgestanden – eine Hoffnung, die nie aufgegeben wurde: "Siehe, ich öffne eure Gräber und hole euch, mein Volk, aus euren Gräbern herauf" (Ez 37,12).

Vor dem Kampf gegen den übermächtigen Goliath klingt das Bekenntnis im Munde Davids so: "Du kommst zu mir mit Schwert, Speer und Sichelschwert. Ich aber komme zu dir im Namen des HERRN der Heerscharen, des Gottes der Schlachtreihen Israels, den du verhöhnt hast" (1 Sam 17,45). Völlig unbewaffnet war David allerdings nicht; das wäre ein pazifistisches Missverständnis. Er ruft dem Philister zu: "Heute wird dich der HERR mir ausliefern. Ich werde dich erschlagen und dir den Kopf abhauen" (1 Sam 17,46). Wie in Psalm 18 rettet Gott seinen Gesalbten vor den Feinden, wenn dieser sich dem Tun Gottes gegenüber nicht verschließt, wenn er mitwirkt, wenn auch er kämpft (Ps 18,38f). Dreimal kommt in unserem Psalm das Wort "antworten" vor: am Anfang (V. 2), in der Mitte (V. 7) und am Schluss (V. 10). JHWH antwortet nicht nur mit Worten, sondern auch mit Taten "seiner Rechten".

Zwischen Militarismus und Pazifismus

Wohl kaum ein Thema wird in der gegenwärtigen weltpolitischen Lage theologisch so intensiv und kontrovers diskutiert wie die Frage nach der religiösen Legitimation von Gewalt. Einige verwerfen jede Form der religiösen Legitimation von Gewalt. Sofern eine solche Legitimation im Alten Testament noch anzutreffen sei, müsse ihr – nicht zuletzt im Namen Jesu – entschieden widersprochen werden. Andere unterscheiden zwischen rechtmäßiger und unrechtmäßiger Gewalt, halten die Anwendung rechtmäßiger Gewalt im Falle der Verteidigung für legitim und sind der Ansicht, dass sie mit der biblischen Botschaft nicht nur zu vereinbaren, sondern – in klar umschriebenen Fällen – von ihr sogar geboten sei.

Für unseren Psalm ist klar: Das Volk erhofft Hilfe vom HERRN für den Gesalbten "am Tag der Bedrängnis", das heißt: an dem Tag, da er angegriffen wird. Weder kann unser Psalm für eine gewaltbasierte imperiale Politik noch für eine gewaltsame Durchsetzung religiöser Geltungsansprüche in Anspruch genommen werden. Mit einer Unterwerfung anderer Völker oder gar einer Zwangsmissionierung hat Psalm 20 nichts zu tun. Klar ist aber auch: Die unrechtmäßige Gewalt wird nicht den Sieg davontragen (Ps 21,11). So verstanden ist der von Psalm 20,10 inspirierte Wunsch: "God save the King / Queen" biblisch legitim.

David, Salomo und Christus

Mit der Anspielung auf die Darbringung von Opfern und die Äußerung eines Wunsches zu Beginn der Herrschaft Salomos (V. 4–5; 1 Kön 3,2–15) wird eine Spur gelegt, die im Rahmen einer davidischen Lesung die Rollen noch einmal anders verteilt: In Psalm 18 hatte David auf sein von Kämpfen durchzogenes Leben zurückgeschaut und dem HERRN gedankt, der "ihn aus der Hand all seiner Feinde und aus der Hand Sauls entrissen hatte" (Ps 18,1). Am Ende richtet sich der Dank voller Hoffnung auf die Zukunft: "Seinem König verleiht er große Hilfe, Huld erweist er seinem Gesalbten, David und seinem Nachkommen auf ewig" (Ps 18,51). In Psalm 19 meditiert David, wie es sich für den idealen König nach Dtn 17 gehört, die Tora. In Psalm 20 schließlich äußert er Wünsche für Salomo, seinen Thronnachfolger. In der ersten Person Plural spräche dann David stellvertretend für das Volk und Salomo wäre der Gesalbte, der in Vers 7 das Wort ergreift. Dieser hatte einst, als ihm Gott in einer nächtlichen Traumvision die Erfüllung eines Wunsches in Aussicht gestellt hatte, gebetet: "Verleih deinem Knecht ein hörendes Herz, damit er dein Volk zu regieren und das Gute vom Bösen zu unterscheiden versteht" (1 Kön 3,9).

Die Septuaginta (LXX) übersetzt das hebräische Wort Maschiach ("Gesalbter") regelmäßig mit Christos. "Der griechische Psalter gibt damit dem NT den wichtigsten 'christologischen' Titel vor. Damit verbunden vermittelt die LXX das Davidbild des (hebräischen) Psalters, eine 'Christologie' des leidenden und verfolgten David, der 'Gottes Königtum und Königreich' […] predigt, den er als sein Gesalbter vergegenwärtigt" (Dieter Böhler, Psalmen 1–50 [HThK AT], Freiburg i. Br. 2021, 367). Für die Kirchenväter war David ein Prophet, der die Auferstehung Christi angekündigt hat (vgl. Lk 24,44): "Jetzt habe ich erkannt, dass JHWH seinen Gesalbten (Maschiach / Christos) rettet (hoschija)."

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