Psalm 2 – "Mein Sohn bist du"Die Psalmen als Weg zur Kontemplation

Psalm 2 spielt zentrale theologische Themen der gesamten Heiligen Schrift ein: Es geht um die Königsherrschaft Gottes. Auch finden sich zentrale Motive der neutestamentlichen Sohneschristologie in ihm. Damit stellt er einen wichtigen Referenzpunkt des Neuen Testaments dar.

Bibel
© Pixabay

Anhand der Abfolge der ersten drei Psalmen lässt sich sehr schön erkennen, wie Psalmen miteinander verbunden sind und eine den einzelnen Text übergreifende Geschichte erzählen. Das Stichwort "murmeln, rezitieren" (im Hebräischen: hagah) aus Ps 1,2 taucht in Ps 2,1 wieder auf: In Ps 1 murmelt der glücklich zu preisende Mann Tag und Nacht im Gesetz des Herrn, in Ps 2 murmeln Nationen Sinnloses. Sie planen einen Aufstand gegen "den HERRN und seinen Gesalbten" (Ps 2,2).

Ein Drama in vier Akten

Die erste Strophe des Psalms (Ps 2,1–3) entwirft das Bild einer weltweiten Rebellion: Völker und Nationen, Könige und Mächtige der Erde haben sich verbündet "gegen JHWH und seinen Gesalbten". Darüber kann sich der Psalmist nur wundern, er fragt: "Warum"? und weiß keine Antwort.

Die zweite Strophe spielt im Himmel (Ps 2,4–6). Dort thront Gott. Angesichts des weltweiten Aufstandes gegen ihn und seinen Gesalbten kann er nur lachen: "Der im Himmel thront lacht, der HERR verspottet sie" (Vers 4). Der Parole der Aufständischen: "Lasst uns ihre Fesseln zerreißen und von uns werfen ihre Stricke" (Vers 3) stellt Gott sein Wort entgegen: "Ich selbst habe meinen König eingesetzt auf Zion, meinem heiligen Berg" (Vers 6). Mit dem Gesalbten (Hebräisch: Maschiach; davon abgeleitet: Messias) in Vers 2 ist der auf Zion eingesetzte König gemeint (Vers 6); in Israel ist die Salbung mit Öl Teil der Inthronisation eines Königs (vgl. 1 Sam 13,13; 2 Sam 2,4). Angesichts dieser Realität sind die Pläne der Völker zum Scheitern verurteilt.

In der dritten Strophe geht der Blick wieder zurück auf die Erde (Vers 7–9). Jetzt spricht der von Gott eingesetzte König. Er zitiert aus seiner Ernennungsurkunde: "Den Beschluss des HERRN will ich kundtun. Er sprach zu mir: Mein Sohn bist du. Ich selbst habe dich heute gezeugt. Fordere von mir und ich gebe dir die Völker zum Erbe und zum Eigentum die Enden der Erde. Du wirst sie zerschlagen mit eisernem Stab, wie Krüge aus Ton wirst du sie zerschmettern."

In der vierten Strophe spricht wieder der Psalmist (Vers 10–12). Er richtet seine Worte an die rebellierenden Könige und Richter der Erde. Eindringlich rät er ihnen, Vernunft anzunehmen und die Sinnlosigkeit ihres Tuns einzusehen. Er legt ihnen ein alternatives Verhalten ans Herz: Dem HERRN zu dienen und "den Sohn zu küssen". Andernfalls wird Gottes Zorn sie treffen und ihr Weg in den Abgrund führen.

Wem gehört die Weltherrschaft?

Der archaisch anmutende Psalm spielt zentrale theologische Themen des Psalters wie der gesamten Heiligen Schrift ein. Er gehört im Neuen Testament zu den am häufigsten zitierten Psalmen. Zentrales Thema ist die Königsherrschaft Gottes und die Frage, ob sie sich angesichts massiver Widerstände in der Welt durchsetzen wird. Im Psalm kristallisiert sich das Thema im Umkreis zweier Figuren. Ausdrücklich König genannt wird der von Gott auf dem heiligen Berg Zion eingesetzte Herrscher. Einmal wird er "Gesalbter" (Vers 2), einmal "König" (Vers 6) und zweimal "Sohn" (Vers 7; 12) genannt. Er steht in einer sehr engen, intimen Beziehung zu Gott, wie die Personalpronomen andeuten: "sein Gesalbter", "mein König", "mein Sohn". Doch es gibt noch einen zweiten König; dieser thront im Himmel. Zwar wird er in Ps 2 noch nicht ausdrücklich "König" genannt, doch es ist klar: Der im Himmel Thronende (Vers 4) ist ein König (Ps 99,1). Dieser König im Himmel hat die Herrschaft auf Erden seinem Sohn anvertraut und ihn auf Zion als seinen König eingesetzt.

Dagegen regt sich unter den Königen der Erde Widerstand. Damit wird auf eine im Alten Orient verbreitete Erfahrung zurückgegriffen: Beim Tod eines Großkönigs gerät die Herrschaft gewöhnlich in eine Phase der Instabilität, zumal wenn die Nachfolge nicht geklärt oder der designierte Thronerbe seine Herrschaft noch nicht gefestigt hat. Diese Unsicherheit wird von den unterworfenen Völkern und ihren Königen gerne genutzt, um ihre Unabhängigkeit zurückzugewinnen: "Lasst uns ihre Fesseln zerreißen und von uns werfen ihre Stricke" (Vers 3). Der Psalmist greift auf diese verbreitete Erfahrung zurück und unterzieht sie einer tiefgreifenden Transformation: Eine universale Weltherrschaft kommt keinem irdischen Herrscher zu, sondern nur Gott im Himmel. Ihm allein gehören die "Enden der Erde" (Vers 8). Allerdings kann er seine Herrschaft auf Erden delegieren, an seinen Sohn.

Der Psalm bezeugt, dass Gott, der im Himmel thront, dies getan hat. Er hat seinen König eingesetzt auf Zion, seinem heiligen Berg. Was in altorientalischen Texten im Rahmen eines Herrschaftswechsels in zeitlichen Kategorien ausgesagt wird – der Sohn bekommt die Herrschaft und das Erbe von seinem (verstorbenem) Vater übertragen –, kommt in Ps 2 in räumlichen Vorstellungen zur Sprache: Im Himmel droben thront Gott – das Partizip joscheb ("sitzen, thronen") drückt bleibende Dauer aus – und auf der Erde unten ist als König eingesetzt sein Sohn. Ihm gebührt das Erbe (Vers 8).

Wer ist der Sohn?

Wer ist dieser Sohn? Nimmt man für den Psalm in seinem Grundbestand eine vorexilische Entstehung (vor dem Jahre 586 Vers Chr.) an, dann ist mit dem König auf Zion David gemeint. Deutlich sind die Anspielungen an die berühmte Natanverheißung in 2 Sam 7. Der Prophet Natan bekommt in einer nächtlichen Vision den Auftrag, König David eine Botschaft Gottes zu überbringen. Darin wird dem Sohn Davids eine ewige Herrschaft verheißen: "Wenn deine Tage erfüllt sind und du dich zu deinen Vätern legst, werde ich deinen leiblichen Sohn als deinen Nachfolger einsetzen und seinem Königtum Bestand verleihen. […] Ich werde für ihn Vater sein und er wird für mich Sohn sein. […] Dein Haus und dein Königtum werden vor dir auf ewig bestehen bleiben; dein Thron wird auf ewig Bestand haben" (2 Sam 7,12–16). Der König als Sohn Gottes – damit wird in Israel eine im Alten Orient, in Ägypten wie in Mesopotamien, breit bezeugte Theologie des Königtums aufgegriffen.

Doch das groß angelegte Projekt ist gescheitert – zumindest in einem ersten Versuch. Das dritte Psalmenbuch (Ps 73–89), mit dem wir uns noch eingehend beschäftigen werden, beklagt das gewaltsame Ende des davidischen Königtums im Jahre 586 v. Chr. und richtet voller Unverständnis an Gott die Frage: "Wie lange noch, HERR? Verbirgst du dich ewig?" (Ps 89,47). Ist Gott seinen Verheißungen untreu geworden? "Du aber hast verstoßen, verworfen, mit Zorn überschüttet deinen Gesalbten. Du hast den Bund mit deinem Knecht zerbrochen, seine Krone entweiht, sie zu Boden geworfen" (Ps 89,39f).

Messianische Deutung des davidischen Königtums

Sehr wahrscheinlich ist Ps 2 – zumindest in seiner vorliegenden Endgestalt – ein sehr junger Psalm. Er könnte im 3. Jahrhundert v. Chr. entstanden sein. Nachdem sich die Einsicht durchgesetzt hatte, dass mit einer Wiederherstellung des davidischen Königtums (in absehbarer Zeit) nicht zu rechnen sei, wurde die Theologie des (davidischen) Königtums einer tiefgreifenden Transformation unterzogen: Sie wurde messianisch gedeutet. Der Psalm hält daran fest, dass Gott seine Herrschaft auf Erden durch einen zu erwartenden Gesalbten (Hebräisch: Maschiach) ausüben wird und dass dieses Junktim ("JHWH und sein Gesalbter") von den Mächtigen der Erde nicht bezwungen werden kann. Der Psalm "greift auf Elemente und Bilder der altorientalischen Königsideologie zurück, […] aber es geht nicht um Herrschaft eines Reiches über andere Völker, sondern um universale Gottesherrschaft vermittels eines idealen Königs ‚auf dem Zion‘" (Dieter Böhler, Psalmen 1–50, HThK AT, Freiburg 2021, 85).

Eine Warnung an die Völker und ihre Herrscher

Neben der messianisch interpretierten Theologie des Königtums kommen weitere zentrale biblische Themen zur Sprache. In Ps 2 wird mit der Möglichkeit gerechnet, dass die rebellierenden Völker zur Einsicht kommen und sich der Herrschaft Gottes und seines Königs auf Zion unterwerfen. Damit deutet sich das Thema der (endzeitlichen) Bekehrung der Heiden (gentes) und der Völkerwallfahrt zum Zion (vgl. Jes 2,1–5; Mi 4,1–3; Jes 60) an. In der vierten Strophe findet sich die eigenartige Aussage: "Küsst den Sohn, damit er nicht zürnt" (Ps 2,12). Für "Sohn" wird hier nicht die hebräische (ben), sondern die aramäische (bar) Bezeichnung gewählt. Der Dichter wechselt gezielt in die damalige Weltsprache Aramäisch, um "internationales Flair" zu erzeugen. "Der Imperativ in der Weltsprache Aramäisch – sie war die Reichssprache im neubabylonischen wie im persischen Reich! – spricht die internationalen Herrscher in dem ihnen geläufigen Idiom an" (Böhler, ebd. 88).

Der Psalm schließt mit einer universalen Seligpreisung: "Selig alle, die Zuflucht suchen bei ihm" (Vers 12). "Damit sind offensichtlich die nichtisraelitischen Völker und Könige eingeladen, sich zu JHWH als ihrem Schutzgott zu bekehren" (Böhler, ebd. 89).

Der Sohn des Höchsten

Die ersten Christen haben die Jesus-Geschichte im Lichte von Ps 2 gedeutet. Die Apostelgeschichte sieht im Aufstand der Völker "gegen den HERRN und seinen Gesalbten (Christos – so die griechische Übersetzung des hebräischen Maschiach) eine Prophezeiung auf Jesus Christus: "Du [Gott] hast durch den Mund unseres Vaters David, deines Knechtes, durch den Heiligen Geist gesagt: Warum tobten die Völker, warum machten die Nationen nichtige Pläne? Die Könige der Erde standen auf und die Herrscher haben sich verbündet gegen den Herrn und seinen Christus. Wahrhaftig, verbündet haben sich in dieser Stadt [Jerusalem] gegen deinen heiligen Knecht Jesus, den du gesalbt hast, Herodes und Pontius Pilatus mit den Heiden und den Stämmen Israels, um alles auszuführen, was deine Hand und dein Wille im Voraus bestimmt haben, dass es geschehe" (Apg 4,15–27).

Die Aussage: "Mein Sohn bist du. Heute habe ich dich gezeugt" (Ps 2,7) wurde in Verbindung mit Ps 110 zu einem tragenden Pfeiler der neutestamentlichen Sohneschristologie. Bei der Taufe Jesu ertönt eine Stimme aus dem Himmel: "Du bist mein geliebter Sohn, an Dir habe ich Wohlgefallen gefunden" (Lk 3,22; vgl. Mt 3,17; 17,5). In der Ankündigung der Geburt Jesu sagt der Engel Gabriel zu Maria über Jesus: "Er wird groß sein und Sohn des Höchsten genannt werden. Gott, der Herr, wird ihm den Thron seines Vaters David geben. Er wird über das Haus Jakob in Ewigkeit herrschen und seine Herrschaft wird kein Ende haben" (Lk 1,32f). Die in Ps 2 messianisch fortgeschriebene Theologie des davidischen Königtums wird im Neuen Testament auf Jesus übertragen und einer weiteren tiefgreifenden Neuinterpretation unterzogen, mit der wir uns noch eingehend beschäftigen werden.

COMMUNIO-Newsletter

Ja, ich möchte den kostenlosen COMMUNIO-Newsletter abonnieren und willige in die Verwendung meiner Kontaktdaten zum Zweck des E-Mail-Marketings durch den Verlag Herder ein. Den Newsletter oder die E-Mail-Werbung kann ich jederzeit abbestellen.
Ich bin einverstanden, dass mein personenbezogenes Nutzungsverhalten in Newsletter und E-Mail-Werbung erfasst und ausgewertet wird, um die Inhalte besser auf meine Interessen auszurichten. Über einen Link in Newsletter oder E-Mail kann ich diese Funktion jederzeit ausschalten.
Weiterführende Informationen finden Sie in unseren Datenschutzhinweisen.