Die Substanz der MoralEine Antwort auf Stephan Goertz

Zu sagen, dass die Moral letztlich in Gott gründet, heißt nicht, dass sich alle Werte und Normen direkt dem göttlichen Gebieten verdanken und die Menschen sich einer religiösen Offenbarung unterwerfen müssten, um sie zu erkennen. Vielmehr geht es um eine tiefere Begründung der Realität der Moral. Wer an Gott glaubt, hat einen Grund, die moralische Ordnung als konsistent anzusehen und auch in Konfliktsituationen an den elementaren moralischen Gewissheiten festzuhalten.

Glaube und Vernunft
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Wir wissen in der Regel – sofern unser Verstand nicht ganz irregeführt und unser Charakter nicht ganz verdorben ist – sehr genau, was wir nicht dürfen: Lügen, Stehlen, Ehebrechen, Morden, Foltern, Meineide schwören. Dieses Wissen ist von hohem Gewissheitsgrad. Anders ließen sich unsere starken intuitiven Vorbehalte gegenüber einfachen utilitaristischen Antworten auf komplexe moralische Konflikte (z.B. ein menschliches Individuum zu entrechten, um Schaden von einem Kollektiv abzuwenden) nicht erklären. Dieses Wissen verdankt sich weder einer göttlichen Offenbarung noch setzt es theistische Überzeugungen über Gottes Existenz und Wesen voraus. Ganz im Gegenteil: Wir brauchen dieses Wissen, um mythologische Gotteserzählungen zu reinigen (vgl. schon die frühe Religionskritik des Xenophanes – dieser Hinweis auf einen Klassiker sei einmal erlaubt), um ein rechtes Verständnis von Gottes Gutsein und seiner Anbetungswürdigkeit zu gewinnen und die göttliche Offenbarung von anderen Einflüsterungen zu unterscheiden.

Bevor wir darüber diskutieren, welche Rolle Gott für unsere Moral spielt, müssen wir also festhalten: Ohne dieses moralische Grundwissen würde ein richtiges Nachdenken über Gott gar nicht in Gang kommen. Und noch etwas anderes zeigt sich schon hier: Die Vorstellung einer radikalen Theonomie muss falsch sein – die Vorstellung also, dass sich alle moralischen Werte und Normen (metaphysisch gesehen) dem gesetzgebenden Willen Gottes und seinem Gebieten verdanken würden und (epistemologisch gesehen) nur durch die Unterwerfung unseres Denkens und Willens unter eine Offenbarung erkennbar seien.

Gläubige teilen mit allen Menschen guten Willens einen moralischen Grundbestand (vgl. Röm 2,14-15). Theisten können mit Nicht-Theisten auf dieser Grundlage über die richtige Moral und das richtige Moralverständnis diskutieren. Und auch Gottes Handeln wäre reine Willkür, wenn sein Gebieten nicht im Gutsein fundiert wäre, sondern er in seinem Willen nur durch das Nichtwiderspruchsprinzip gebunden wäre.

Gott ist in seinen Willensentschlüssen an das Gute gebunden. Das heißt für Gott, dass er an sein eigenes Wesen gebunden ist. Oder schlicht: Er ist er selbst und kein anderer.

Es gibt ein Gutsein, das dem göttlichen Willensentschluss vorausliegt. Das muss aber nicht bedeuten, dass es sich hier um ein Reich von Werten handelt, das von Gott unabhängig existiert. Im Gegenteil: Mit dem klassischen Theismus kann es als das Wesen Gottes selbst verstanden werden. Gott hat nicht Anteil am Sein, am Gutsein, an der Weisheit, an der Allmacht und so weiter, sondern Gott ist sein Sein, sein Gutsein, seine Weisheit, seine Allmacht. Gott ist mit all diesen Eigenschaften identisch – so die klassische Lehre von der Einfachheit Gottes.

Gott ist in seinen Willensentschlüssen an das Gute gebunden. Das heißt für Gott, dass er an sein eigenes Wesen gebunden ist. Oder schlicht: Er ist er selbst und kein anderer. Auf diese Weise lässt sich das "Euthyphron-Dilemma" lösen (vgl. etwa Norman Kretzmann: Abraham, Isaac, and Euthyphro: God and the Basis of Morality, in: Donald V. Stump, James A. Arieti, Lloyd Gerson, Eleonore Stump [Hg.], Hamartia: The Concept of Error in the Western Tradition. Essays in Honor of John M. Crossett. New York 1983, 27-50).

Warum überhaupt moralisch sein?

Halten wir also fest: Es führt kein Weg daran vorbei, dass die Moral (auch für Theisten) epistemologisch gesehen "auf eigenen Füßen" steht – um des Menschen wie auch um Gottes willen. Das ist zu betonen und das kann, wie gerade geschehen, auch gut begründet werden. Aber es wäre aus theistischer Sicht zu wenig. Der Glaube an Gott macht einen Unterschied. Dies zeigt sich besonders dann, wenn man zwischen zwei Ebenen unterscheidet: der Ebene des Inhalts und der Begründung der Moral (Welche Handlungen sind richtig und warum? Welche Motive, Absichten oder Haltungen sind gut und warum?) und der Ebene des moralischen Standpunkts überhaupt (Warum überhaupt moralisch sein?).

In seiner Kritik an meinem Beitrag "Hinter den Kulissen der Moral" ignoriert Stephan Goertz leider diese grundlegende Unterscheidung. Es geht hierbei nicht um eine philosophische Kopfgeburt, sondern um etwas, womit wir endliche Vernunftwesen früher oder später alle Bekanntschaft machen: dass die Moral, mag sie in ihrem Inhalt und der Begründung ihrer Geltung noch so klar und deutlich sein, uns etwas kostet – sei es den Verzicht auf einen großen Vorteil oder die Inkaufnahme eines großen Nachteils. Deshalb versteht sie sich für uns oft nicht von selbst – und wir stellen die Frage nach ihrem Sinn: Warum sollte ich das Lügen unterlassen? Warum sollen wir überhaupt moralisch sein? (vgl. Dieter Schönecker, Warum moralisch sein, in: Heiner F. Klemme, Manfred Kühn, Dieter Schönecker [Hg.]: Moralische Motivation. Kant und die Alternativen, Hamburg 2006, 301)

Wenn man als Moralphilosophin oder Moralphilosoph nicht von vornherein auf einen starken motivationalen Internalismus festgelegt ist (etwas als gut zu erkennen heißt zugleich hinreichend motiviert zu sein es zu tun), sondern damit rechnet, dass eine moralische Überzeugung uns zwar immer ein Motiv gibt, ohne aber zu erwarten, dass sich dieses Motiv immer auch durchsetzt, dann ist die Frage "Warum moralisch sein?" eine sinnvolle Frage. Und nicht nur das: Sie ist die zentrale ethische Frage überhaupt (noch vor der Normenbegründung), da sich hier die Frage nach der Realität und dem Sinn der Moral im Ganzen des menschlichen Lebens und der Welt stellt.

Gibt es moralische Tatsachen?

Die Frage verlangt einen motivational hinreichenden Handlungsgrund, der sich gegenüber anderen durchsetzen kann. Stehen hinter einer mit solchen Begriffen wie Objektivität, Unbedingtheit, Universalität geschmückten Fassade nur die egoistischen Interessen einer bestimmten Gruppe, etwa das Ressentiment der Schwachen, wie Nietzsche meinte? Ist die Moral durch und durch Menschenwerk? Oder hat die Moral eine eigene Substanz? Gibt es moralische Werte oder Tatsachen, die unser moralisches Urteilen wahr oder falsch machen? Wie wäre die Realität der Moral zu denken, die in Lage ist, uns auch in Situationen der Anfechtung einen durchschlagenden Handlungsgrund zu geben?

Die Frage nach der Substanz der Moral ist gerade in einer Zeit wieder erstarkender Verschwörungstheorien und genealogisch-reduktiver Mythen von äußerster Relevanz. Hier – auf dieser grundlegenden Ebene, wo es um die Entkräftung und Widerlegung moralischer Nihilismen gleich welcher Couleur geht – werden die ethischen Fundamente unserer liberalen Demokratie verteidigt und hier sollten sich christlich nennende Moralgelehrte ex professo einbringen. Mit "Moralpolitik" ist es nicht getan, auch nicht mit der beschwörend-inflationären Verwendung mehrdeutiger Begriffe wie Freiheit und Selbstbestimmung, denen dazu noch eine unangemessen hohe Begründungslast aufgebürdet wird: Was versteht Goertz genauer unter "Selbstgesetzgebung"? Wie begründet er den Satz: „Sittlichkeit ist Selbstgesetzgebung – oder sie ist es nicht“? Was wäre seine Antwort auf den moralischen Nihilismus? 

Der christliche Theismus jedenfalls kann und sollte sich in die Debatte um die Realität der Moral, die alles andere als ein intellektuelles Glasperlenspiel ist, mit eigener Stimme einbringen.

Die philosophische Metaethik diskutiert schon seit Langem und in einer hochdifferenzierten Weise das richtige Verständnis der Realität der Moral. Nicht jeder, der moralische Urteile für wahrheitsfähig und begründbar hält, muss Realist sein: Man kann die Rede von moralischen Tatsachen aus unterschiedlichen Gründen ablehnen (vgl. die immer wieder vorgebrachten Argumente von John Leslie Mackie, Ethik. Die Erfindung des moralisch Richtigen und Falschen, Stuttgart 1981, 43-49). Man kann die Objektivität der Moral auch in bestimmten Diskursformen und Begründungsverfahren garantiert sehen. Aber man kann genauso die Einwände gegen den moralischen Realismus für entkräftbar und diesen als die mit unseren moralischen Intuitionen besser zu vereinbarende Position ansehen.

Der christliche Theismus jedenfalls kann und sollte sich in die Debatte um die Realität der Moral, die alles andere als ein intellektuelles Glasperlenspiel ist, mit eigener Stimme einbringen. Genau dies war und ist mein Anliegen: Es geht mir um die Denkmöglichkeit einer "tieferen Begründung" der Moral (vgl. auch Ludger Honnefelder, Ethik und Theologie, in: Matthias Lutz-Bachmann [Hg.], Metaphysikkritik, Ethik, Religion, Würzburg 1995, 141-152, 148).

Diese Tiefe beruht auf einer grundsätzlichen metaphysischen Abhängigkeit: Wenn Gott der Grund allen Seins ist, dann auch der Moral: Die moralischen Tatsachen schweben nicht irgendwo zwischen Gott und dem Geschaffenen. Vielmehr haben sie aus christlicher Sicht in der ewigen vorsehenden und ordnenden Vernunft, der lex aeterna, ihre erste beziehungsweise (je nach Blickpunkt) letzte metaphysische Heimat. Insofern sich die entsprechenden normativen Urteile der menschlichen Vernunft ausgehend von der natürlichen Substruktur des Willens als in sich einleuchtend aufdrängen, sind sie auch Gegenstand der lex naturalis. Innerhalb dieser lassen sich die einzelnen Urteile begründen durch Bezug auf bestimmte menschliche Grundgüter, in denen sich die unveräußerliche Personwürde des Menschen konkretisiert und durch die sich diese Würde überhaupt erst normativ operationalisieren lässt (vgl. etwa Stephan Herzberg, "Die menschliche Natur und das gute Leben", in: ET-Studies 10 (2019) 207-228, 218f.).

Der tiefste Grund für die Moral

Die Verwurzelung in der lex aeterna, zu der kein Mensch einen direkten kognitiven Zugang hat, desavouiert gerade nicht die geltungstheoretische Eigenständigkeit des Moralischen. Sie ist aber auch nicht nur ein nachträglicher interpretativer Rahmen, der irgendwie praktisch bedeutsam ist. Vielmehr liegt hier so etwas wie der tiefste Grund für die Moral vor. Es ist denkbar, diese letzte Fundierung auf die bindende Kraft der Moral selbst zu beziehen, nämlich als causa remota (entfernteste Ursache) im Unterschied zur causa proxima (nächste Ursache), der natürlichen praktischen Vernunft, oder als göttliche Erstursache im Unterschied zur geschöpflichen Zweitursache.

Und ja, es gibt eine katholische Tradition, für die der unbedingte Verpflichtungscharakter seinen Grund im gesetzgebenden Willen Gottes hat. Aber auch diese (oft mit Suárez verbundene) Tradition, die schon zu ihrer Zeit von einer alternativen Tradition begleitet war, lehnt einen theonomen Moralpositivismus ab (hierzu Bruno Schüller: Sittliche Forderung und Erkenntnis Gottes. Überlegungen zu einer alten Kontroverse, in: ders., Der menschliche Mensch, Düsseldorf 1982, 28-53; und die Arbeiten von Rainer Specht).

Denkbar ist es auch, die theistische letzte Fundierung auf die Motivation zu beziehen: Dieser letzte Motivationsgrund für den angefochtenen Gläubigen sind nun keine himmlischen Prämien, was der Reinheit der moralischen Gesinnung zuwiderlaufen würde, sondern die Einsicht, dass die Moral die Weise ist, wie Gott seine vernunftbegabten Geschöpfe zum vollkommenen Gut hin lenken will.

Theisten sind darin gerechtfertigt zu glauben, dass "hinter den Kulissen" die moralische Ordnung von Gott so vorgesehen ist, dass sie konsistent ist.

Wenn wir unser Gewissen bestmöglich geprüft haben – und dazu gehört es gerade als endliche Vernunftwesen, alle verfügbaren epistemischen Quellen heranzuziehen, das heißt nicht nur die Prinzipien der praktischen Vernunft, basale moralische Intuitionen, humanwissenschaftliche Studien, sondern auch die religiöse Überlieferung in ihrem normativen Anspruch, und dabei von epistemischen Tugenden wie intellektuelle Tapferkeit, Besonnenheit und Bescheidenheit Gebrauch zu machen –, dann dürfen wir die von uns gewählte Handlungsweise nicht nur als rational, sondern zugleich als die von Gott vorgesehene betrachten – von dem Theisten glauben, dass Er für seine Gläubigen, auch in tiefster Not und äußerster Bedrängnis, alles zum vollkommen Guten hin lenkt (vgl. zum Beispiel Dan 3,17f.).

Besteht diese Handlung im Unterlassen von etwas in sich Schlechtem, was aber in einer konkreten Situation mit einem voraussehbaren großen Schaden verbunden ist, dann gibt uns die Überzeugung von der Einbergung unserer natürlichen Moral in Gottes ewigem Gesetz einen Grund, an unseren elementaren moralischen Gewissheiten festzuhalten und uns nicht auf die Abwägung des Nicht-Abwägbaren einzulassen, wie es Kajaphas ins Spiel brachte (Joh 11,50).

Nicht etwas Böses tun dürfen, um etwas Gutes zu bewirken – das leuchtet dem Theisten rational ein und ist nicht bloß ein psychologisch antrainiertes Tabu (vgl. Peter Geach, The Moral Law and the Law of God, in: ders., God and the Soul, London 1969, 117-129). Theisten sind darin gerechtfertigt zu glauben, dass "hinter den Kulissen" die moralische Ordnung von Gott so vorgesehen ist, dass sie konsistent ist. 

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