Religionsfreiheit

Obwohl die Religionsfreiheit für die meisten Zeitgenossen in den liberalen Gesellschaften des Westens zu den kulturellen Selbstverständlichkeiten gehört, die kaum jemand ernsthaft in Frage stellt, zeigt ein Blick in die wechselvolle Geschichte dieses Begriffs, dass sein genauer Sinngehalt bis heute umstritten ist und immer wieder in den Fokus kontroverser Debatten gerät. Dabei sind es keineswegs nur grundlegende philosophische Weichenstellungen im Umkreis des Freiheitsverständnisses selbst – wie z.B. die von Isaiah Berlin inspirierte Behauptung eines Vorrangs der negativen vor der positiven Dimension der Freiheit –, die bestimmten Deutungen der Religionsfreiheit ein eigentümliches Kolorit verleihen. Vielmehr gibt es daneben auch verschiedene praktische Herausforderungen, die teils das traditionelle Selbstverständnis der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften, teils aber auch die politischen und rechtlichen Mechanismen zum Schutz der Religionsfreiheit betreffen. Welche Elemente sind zentral und daher unaufgebbar für ein menschenrechtlich robustes Verständnis der Religionsfreiheit? Wie lässt sich die Religionsfreiheit auf überzeugende Weise von der Meinungs- und Gedankenfreiheit einerseits und der Gewissensfreiheit andererseits abgrenzen? Und welche Rolle kommt der Religion beim Verhandeln öffentlicher Dinge in modernen pluralistischen Gesellschaften zu? Bei der Suche nach überzeugenden Antworten ist zu berücksichtigen, dass auf der zeitgenössischen Debatte um die Religionsfreiheit auch vielfältige historische Hypotheken lasten, die je nach dem Grad der faktischen (In-)Toleranz des jeweiligen Religionssystem in den verschiedenen Epochen und Kulturräumen differenziert zu beurteilen sind. Auch wenn es im Rahmen dieses Heftes unmöglich ist, einen vollständigen Überblick über die globale Diskussionslandschaft und den in vielen Weltregionen auch heute noch prekären Zustand der Religionsfreiheit zu vermitteln, sollen doch einige für den zentraleuropäischen Bereich besonders wichtige Schlaglichter auf das Thema geworfen werden.

In diesem Sinne rekonstruiert der frühere Münsteraner Sozialethiker Karl Gabriel den langen und schwierigen Weg der katholischen Kirche zur Anerkennung der Religionsfreiheit. Zwar lassen sich Überlegungen zur notwendigen Freiheit der Glaubensannahme bis in die Patristik und in die scholastische Theologie des Mittelalters zurückverfolgen, doch bedurfte es komplexer historischer Lernprozesse, bis die Kirche ihre vor allem im 19. Jahrhundert ausgeprägte Frontstellung gegenüber den teilweise religionsfeindlichen Freiheitsbewegungen der Neuzeit überwinden konnte und sich schließlich auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil in der Konstitution Dignitatis humanae uneingeschränkt zur Religionsfreiheit bekannte.

Der Frankfurter Religionsphilosoph Michael Kühnlein wirft einen Blick in die philosophische Ahnengallerie eines staatlich verbürgten Rechtes auf Religionsfreiheit. Während sich deren Idee genealogisch auf die Wahrung des äußeren und inneren Friedens, die Eindämmung von Gewalt und das Einüben staatspolitischer Toleranz zurückführen lasse, die sowohl den Einzelnen vor ungerechtfertigten staatlichen Zugriffsmöglichkeiten als auch den Rechtsstaat selbst vor der Versuchung schütze, eine säkularistische Gesellschaft nach seinem Ebenbild erschaffen zu wollen, seien im zeitgenössischen rechtsphilosophischen Diskurs verschiedene Verkürzungen der Religionsfreiheit festzustellen. Sowohl in Ronald Dworkins Versuch der Überwindung eines theistischen Gottesbegriffs zur Begründung eines weiter gefassten ‹Rechts auf ethische Unabhängigkeit› als auch in verschiedenen exklusivistischen Deutungen ‹öffentlicher Vernunft› (public reason) vom frühen John Rawls bis hin zum Übersetzungsvorbehalt bei Jürgen Habermas begegnen uns Theorieformationen, die letztlich auf die politische Marginalisierung religiöser Lebensformen ausgerichtet seien und daher kaum als neutrale Grundlage für eine überzeugende Interpretation der Religionsfreiheit geeignet erscheinen.

Der Freiburger Religionssoziologe Michael N. Ebertz rekonstruiert in seinem Beitrag nicht nur die sich in Ost- und Westdeutschland infolge der disparaten politischen Rahmenbedingungen unterschiedlich verlaufenden Prozesse der Entkonfessionalisierung, Entkirchlichung und Entchristianisierung, sondern analysiert auch die politischen Folgen des zunehmenden Zerfalls religiöser Institutionen innerhalb der deutschen Gesellschaft. Während bei der wachsenden Zahl der Konfessionslosen eine überdurchschnittliche Neigung zu den extremen Parteien des politischen Spektrums feststellbar seien, schwinde bei einem Großteil der etablierten Parteien zunehmend das Vertrauen in die soziale Integrationskraft der Kirchen, so dass die frühere Idee einer ‹staatstragenden Religion› zunehmend vom Konzept eines ‹religionspolitischen Multikulturalismus› abgelöst werde. Im Innern der katholischen Kirche sei zudem eine erheblich geschwundene Verpflichtungsfähigkeit im Verhältnis zu den Laien zu beobachten, die vor allem daran abzulesen ist, dass der Wert des Gehorsams gegenüber lehramtlichen Vorgaben verschiedener Art im Ranking der Akzeptanz mittlerweile am tiefsten gefallen sei.

Die Religionsphilosophin Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz unternimmt in ihren phänomenologischen Reflexionen im Gespräch mit Giorgio Agamben, Edith Stein und Emmanuel Levinas den anspruchsvollen Versuch, die Religionsfreiheit dadurch aus ihrer Randstellung innerhalb des zeitgenössischen Freiheitsdiskurses zu befreien, dass sie die anthropologische Offenheit für das ‹Heilige› nicht als Folge, sondern als Wurzelgrund menschlicher Freiheit offenlegt. Die im Phänomen des menschlichen Daseins selbst verankerte Freiheit für Transzendenz sei die radikalste und subversivste Form der Freiheit, die das Individuum vor allen Okkupationen durch vermeintlich Sachzwänge schütze.

Der Politiker und frühere Präsident des Deutschen Bundestages Wolfgang Thierse setzt sich in seinem Essay mit dem kulturkämpferischen Streit um das Kuppelkreuz auf dem wiedererrichteten Berliner Stadtschloss auseinander und beklagt die darin zu Tage tretenden Unfähigkeit bzw. den Unwillen, religiöse Symbole noch historisch angemessen zu verstehen. Da institutionelle Bilderstürmerei und die Säuberung öffentlicher Orte von den Spuren traditioneller Religiosität keine geeigneten Voraussetzungen für einen friedlichen interkulturellen Dialog seien, habe auch der moderne demokratische Staat weder das Recht noch die Pflicht zur Nivellierung vorhandener religiös-weltanschaulicher Pluralität.

Angesichts der vielfältigen gegenwärtigen Bedrohungen der menschlichen Freiheit im Allgemeinen und der Religionsfreiheit im Besonderen erscheint die Aussage des Johannes-Evangeliums, dass uns die Wahrheit frei machen wird (Joh 8,32), als Mahnung und Verheißung zugleich.

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