SchlüsseljahreszeitenLiturgisches Erzählen in Norbert Hummelts '1922'

Welche Werke der Kunst bleiben? Wie überstehen Bücher den Wechsel der Zeiten? Und was zählen die Stimmen der Dichter, die «Künstlerwerke», wie Thomas Mann sie nannte, was helfen uns die literarischen Lektionen aus der Geschichte?1 Nobert Hummelt hat darauf eine faszinierende Antwort gefunden: Es kommt nicht nur darauf an, die großen Kunstwerke zu lesen und fortzuschreiben. Viel spannender und auch lehrreicher kann es sein, von ihnen zu erzählen und ihre Geschichten in der Geschichte zu entdecken. Das gelingt Norbert Hummelt in seinem Buch 1922. Wunderjahr der Worte.

Das «Wunderjahr» hat eine mindestens doppelte Bedeutung. Zum einen gilt es als ein annus mirabilis der europäischen Literaturgeschichte. Es ist das Jahr 1922, in dem James Joyces Roman Ulysses und T.S. Eliots Langgedicht The Waste Land erschienen und in dem Rilke die Vollendung seiner Duineser Elegien und der Sonette an Orpheus an alle Briefwelt twitterte. Von diesen vier kanonischen Werken, von ihrer Entstehung und von den unmittelbaren Reaktionen der Zeitgenossen darauf erzählt Norbert Hummelts Buch.2 Aber das ist es nicht allein. Den Autor beschäftigt offenbar auch die Frage, warum diese Werke so etwas wie eine Bibel der modernen Literatur geworden sind, was also die Gründe für die wahrhaft wunderbare Wirkung dieser Klassiker der modernen Literatur sind. Eine Antwort darauf liegt vielleicht in Klopstocks Epigramm: «Im Zeitenstrome bleiben oben / Die Werke, die den Meister loben; / Wers umkehrt, ist Gesell, sein Werkchen trinkt / Des Stroms und sinkt.»3 Insofern unterstreicht der Titel «Wunderjahr der Worte» die religiöse Herkunftslinie der Literatur, gerade und besonders auch in Zeiten, deren metaphysische Antennen ins Leere zappeln.4 Natürlich ist die Literatur selbst kein Wunder, ebenso wie ein Wunder keine Kunst ist. Aber wie große Literatur als Wunder wirkt, davon erzählt Norbert Hummelt auf faszinierende, man ist versucht zu sagen: auf wunderbare Weise. Und wie das geht und worauf das zurückzuführen ist, versuche ich in dieser kleinen Einführung zu zeigen.

Wie erzählt man ein Jahr?

Norbert Hummelts Idee, ein Jahr zu erzählen, ist nicht vom Himmel gefallen. Sein Buch steht in der Erfolgsreihe eines Genres, das die Kulturgeschichtsschreibung vor 20 Jahren erfunden hat. Der klassischen Geschichtsschreibung war es darum zu tun, die kleinen Ereignisse in ein größeres Weltgeschehen einzubetten. Diachrone Darstellung und geschichtslogische Kausalität bestimmten ihre Perspektive. Mit dem reflective turn der Geschichtswissenschaften aber wurde diese Perspektive umgedreht. Fortan kommt es weniger auf das Ereignis, vielmehr auf die Erzählung an, weniger auf die historischen Zusammenhänge als auf das epische Band, das sie in erzählbarer Gleichzeitigkeit zusammenhält.

Die Epochenbücher von Hans-Ulrich Gumbrecht (1926. Ein Jahr am Rand der Zeit, 2001) und Karl Schlögel (Terror und Traum. Moskau 1937, 2008) haben auf diese Weise ein entlegenes Jahr in der Zeit entdeckt. Der Literaturkritiker Florian Illies hat mit 1913. Der Sommer des Jahrhunderts (2012) den Vorabend des Ersten Weltkriegs und den Burn-Out der Moderne erleuchtet, der Publizist Wolfram Eilenberger das Gründungsjahrzehnt der modernen Philosophie, übrigens auch mit einem magischen Begriff im Titel: Zeit der Zauberer. Das große Jahrzehnt der Philosophie 1929-1929 (2018). Zuletzt, 2021, Jahr haben Uwe Wittstock (Februar 33. Der Winter der Literatur) und abermals Illies (Liebe in Zeiten des Hasses. Chronik eines Gefühls 1929-1939) die kleinen Geschichten in der großen Historie synchronisiert.

Wie ein Jahr sich selbst erzählt

Offenbar liegt das Faszinierende an einem Jahr, wenn es zum Erzählen gebracht wird, in den Werken, die es hinterlassen hat: im Guten, aber auch im Schlechten. Besonders spannend wird es, wenn es um ein Schlüsseljahr geht. Solche Jahre häufen sich in der Literaturgeschichte, die um 1800 in Deutschland erfunden worden ist, aber nicht als deutsche, sondern als europäische Literaturgeschichte, vornehmlich von August Wilhelm und Friedrich Schlegel. Die Debütromane von Günter Grass und Uwe Johnson sowie der erste Lyrikband von Hilde Domin machten 1959 zu einem Wunderjahr für die deutsche Literatur, der Hans Magnus Enzensberger bescheinigte, damit das «Klassenziel der Weltkultur» erreicht zu haben.5 1995 wurde abermals ein Wunderjahr der Literatur gefeiert: Die Kritik ließ gleich fünf Romane (von Günter Grass, Thomas Hettche, Reinhard Jirgl, Erich Loest, Hans Pleschinski) um den Anspruch auf die Great German Novel rivalisieren.

In Norbert Hummelts Buch stehen nun der Ulysses, The Waste Land, die Duineser Elegien und die Sonette an Orpheus im Mittelpunkt. Tatsächlich entsprechen diese Werke der Vision einer großen Kunst, den Gang der Weltliteratur zu verändern. Sie lassen vertraute literarische Codes zusammenbrechen. Sie entwickeln neue narrative Formate: Bewusstseinsstrom und inneren Monolog, Zitatmontage und Fragment, mythisches Erzählen und Stilpluralismus. Sie erzählen von ihrer Zeit und über diese Zeit hinaus, und sie tun das oft rätselhaft, nicht immer leicht eingängig, auf jeden Fall aber stilbildend und epochemachend. Sie erinnern an die Macht der Imagination und die grenzüberschreitende Freiheit des dichterischen Wortes. Im europäischen Kulturkanon wirken sie so wie ein «Impfstoff» gegen kulturelles Vergessen.6

Aber wie erzählt man ein Jahr, das sich selbst noch nicht kennen konnte, aus der Distanz von nahezu 100 Jahren? Und was ist, wenn man das Jahr solcherart ermächtigt, szenisch von sich selbst zu erzählen, über diese episodische Evidenz hinaus gewonnen? Die poetische Einbildungskraft, mit der Illies im Jahr 1913 die drei Spaziergänger und späteren Diktatoren Stalin und Hitler im Schlosspark von Schönbrunn oder Georg Trakl und ein Alma Mahler-Porträt in Kokosckkas Atelier zusammenführt,7 kann es allein nicht sein.

Norbert Hummelt geht einen Schritt weiter. Er nimmt das Jahr persönlich – und sich selbst damit als Erzähler ernst. Das geschieht, indem er die Epochenbücher, die Schall- und Bildarchive verlässt, die er ausweislich eines über vierseitigen Literaturverzeichnisses im Anhang seines Buches konsultiert hat, und sich ins Wohnzimmer seiner Großmutter versetzt. Sie ist 1899 geboren, also noch ein Kind des 19. Jahrhunderts, und der 1962 geborene Norbert Hummelt, der sein Buch im 21. Jahrhundert geschrieben hat, hat sie noch gekannt. Die Großmutter ist eine klassische Erzählerfigur, nicht außerhalb des Märchens. Sie ist eine Figur aus der erzählbaren Zeit, Quelle und Alma mater des kommunikativen Gedächtnisses. Ihre Autorität festigt sie durch Familienrituale, die sich über die Generationen hinweg erhalten haben. Ein solches Ritual ist das Wegräumen von Weihnachtsbaum und Krippe auf Mariä Lichtmess. Norbert Hummelts Großmutter Franziska hat das so Jahr für Jahr praktiziert, auch am 2. Februar 1922 in ihrem Wohnzimmer. Dieses Zimmer in Neuss-Grevenbroich ist für Hummelt die «Wunderkammer [s]einer Phantasie» (1922, 13).

Liturgisches Erzählen

Und das ist nicht nur als Imagination eines poetischen Raums gedacht, dem die Episoden aus jenem fernen Kulturwunderjahr 1922 entspringen. Es ist auch ein Ort in der Zeit, ein Ort, der die Zeit in eine neue Ordnung setzt. Ruth Klüger nennt solche Orte «Zeitschaften».8 Diese Neuordnung der Zeit hat wiederum eine religiöse Dimension, die sich am Kirchenkalender orientiert. Drei Kapitel in Hummelts Buch nennen explizit Tage oder Zeiträume aus dem Kirchenjahr («Fastenzeit», «Ostersonntag in Rapallo», «Allerseelen»). Man könnte diese kirchenzeitliche Ordnung einer Zeit, die heiligt, einem liturgischen Erzählen zurechnen. Dieses Erzählen geht auf die Romantik zurück. E.T.A. Hoffmanns Erzählung Der goldne Topf (1814) ist in zwölf Vigilien gegliedert, also Nachtwachen, während deren der Erzähler die Geschichte aufzeichnet; Jean Paul taufte die Abschnitte in seinen Romanen «Jobelperioden». In der Moderne ist liturgisches Erzählen von Federico García Lorca praktiziert worden,9 in seinen New Yorker Gedichten aus dem Jahr 1929, die stark von T.S. Eliot beeinflusst sind. Liturgisch erzählende Dichtung betet nicht, sie bekennt nicht, und sie segnet nicht. Aber sie denkt über die Grundlagen des eigenen Sprechens, die religiösen Ordnungen von Zeichen und Zeit nach. Nur würde Norbert Hummelt natürlich nicht von einem Schlüsseljahr der Moderne erzählen, wenn er nicht die Umordnung der religiösen Ordnungen in der Moderne mitreflektierte. Schon im Prolog zieht Hummelt die Erzähl-Uhr deshalb anders auf. Mit Blick in das Wohn-, Bücher- und Bilderzimmer der Großmutter schreibt er dort: «Die Uhr mit dem Westminsterschlag ging immer deutlich nach, Kalenderblätter wurden nicht beizeiten abgerissen» (1922, S. 14). Die Zeit vergeht anders in der poetischen Wunderkammer.

Und sie beginnt anders. Im Zentrum des 2. Februars beschenkt sich Joyce an seinem 40. Geburtstag mit der limitierten Erstausgabe seines Ulysses, feiernd in einem italienischen Restaurant in Paris; fast zeitgleich erscheint Virginia Woolfs ähnlich modern erzählter Roman Jacob’s Room. Bei Rilke, der sich in einem Wohnturm im Schweizer Kanton Wallis aufhält, zündet es zu den Orpheus-Sonetten, allein am Stehpult, bei Kerzenlicht; in vier Tagen entstehen 26 Gedichte, daneben schreibt er sechs weitere Elegien. Der im Brotberuf bei einer Londoner Bank arbeitende Eliot, der in jenen Tagen seinen Burnout in Paris auskuriert, feilt mit seinem Freund und Förderer Ezra Pound an einem größeren Gedicht; wenig später trifft er sich zum Dinner mit Joyce. Ebenfalls in Paris ist Marcel Proust dabei, den siebten Band seines monumentalen Epos À la recherche du temps perdu zu vollenden, er ist bettlägerig und bis auf eine Hausangestellte komplett isoliert; der Tod reißt ihn am 18. November 1922 aus der Arbeit. Und während Katherine Mansfield, schwer erkrankt, im Pariser Tagebuch ihre Träume festhält, erschreibt sich Woolf, genervt von dem unentwegten Schreibmaschinengehämmer ihres Mannes Leonard, der Verleger der Hogarth Press ist, in Rodmell und London ein «Zimmer für sich allein» (1922, 15).

Weniger die poetische Revolution im Werk, vielmehr die Berührung ihrer Schöpfer in Raum und Zeit ist das, was Nobert Hummelt aus dem Epochenjahr herausholt. Bei den europäischen Korrespondenzen der Dichter geht es nicht ohne literarische Reibereien zu. Rilke, Joyce und Eliot waren zeitlebens unterwegs, in Italien, Frankreich, Deutschland. Ihre Werke entstanden in der Fremde, abseits ihrer Herkunftsorte Prag, Dublin, St. Louis; in Paris laufen viele Fäden zusammen. Eliot wurde, begünstigt durch Zeitschriften-Vorabdrucke des Ulysses, ersichtlich von Joyce beeinflusst und erkannte in ihm einen «Einstein» der Literatur. Das Fundament der Odyssee, auf dem der Ulysses ruhe, habe die «Bedeutung einer wissenschaftlichen Entdeckung», schrieb er 1923 in seinem Essay Ulysses, Order and Myth. Mit dieser ‹mythischen Methode› habe Joyce die Geschichte seiner Zeit – «jenes ungeheure Panorama der Nichtigkeit und Anarchie – bewältigt, geordnet, gestaltet und mit Sinn erfüllt».10

Nicht alle aber ließen sich vom Ulysses anstecken. Gertrude Stein, die wohl größte kulturelle Netzwerkerin ihrer Zeit, war nicht nur davon überzeugt, dass sie selbst Joyce mit ihren «kubistischen Sprachmeditationen» (1922, 97) zuvorgekommen sei, sondern meinte auch, dass Joyce sie überhaupt nicht konsultiert habe, spreche schon gegen ihn. Auch der 1925 mit dem Nobelpreis ausgezeichnete George Bernard Shaw mochte den Roman nicht. Woolf, die nach dem dritten Ulysses-Kapitel erst einmal ein Lesezeichen ins Buch steckt, weil sie das Buch «brackig, diffus, prätentiös, unfein» findet (1922, 279), und sich stattdessen zur Proust-Lektüre entschließt, räumt am Ende immerhin ein, ihr sei gewiss einiges entgangen. Und Joyce selbst war nicht darüber amüsiert, dass seine Tante Josephine den Roman im Wäscheschrank verschwinden ließ.

Missgunst wirkte auch in umgekehrter Richtung. Joyce parodierte während des verregneten Sommers in Rouen «Rouen ist the rainiest place» (1922, 398), in Anspielung auf den Eingang von Eliots Gedicht «April is the cruellest month», und mokierte sich über Proust, der Leser beende die Sätze früher als ihr Verfasser. Dafür hatte Proust gar nicht erst angefangen, den Ulysses zu lesen; er kreiste lieber im eigenen Erinnerungskosmos. Wunderbar erzählt Hummelt von einem missglückten Gipfeltreffen beider Autoren in Paris. Nach der Premiere einer Strawinsky-Oper am 18. Mai kamen Proust und Joyce zu spät zu dem Festdinner, Joyce nickte über dem Champagner zeitweilig ein. Während Proust von ihm wissen wollte, ob er die ein oder andere Herzogin kenne, war Joyce mehr an den Zimmermädchen interessiert. Jeder kultivierte seine Krankheiten, Joyce sein Augenleiden und Proust sein Asthma. Im Taxi soll Joyce das Fenster aufgerissen haben, um zu rauchen, wogegen Proust aus Angst vor Erkältung protestierte.

Arbeit am europäischen Mythos

London und Paris sind die Kraftzentren des Jahres, hier formiert sich der neueuropäische Patriotismus der Nachkriegszeit. In Paris wurde 1922/23 die Literaturzeitschrift Europe gegründet, in der Heinrich Mann für «Europa, Reich über den Reichen» warb und der deutsch-französische Kulturdialog vorangetrieben wurde, der durch die Reparationsforderungen an Deutschland belastet war.11 Aber auch die Orte am Rande und außerhalb Europas haben ihre Geschichten. Im Tal der Könige entdeckte der britische Archäologe Howard Carter die Grabstätte von Tutanchamun, die Vorkammer war bereits geplündert. Doch er war der medialen Aufmerksamkeit, die der Jahrhundertfund auf sich zog, kaum gewachsen. Immer wieder waren es Zeitungen und Zeitschriften, die in ganz Europa zum Vorschein brachten, was an den Entdeckungen und Innovationen im kulturellen Leben so schonungslos modern ist. Und jeder und jede konnte, wie Hummelts Großmutter am Niederrhein, von diesen Ereignissen in der Tagespresse lesen.

Europäisch an den Werken von Joyce und Woolf, von Proust und Eliot ist, wie dynamisch sie Raum und Zeit durchkreuzen, nationale Grenzen überschreiten, Brücken in die Antike schlagen und auf den Schultern von klassischen Riesen stehen. Joyce hält sich an den Aufbau von Homers Ilias und wollte den Umschlag des Ulysses ursprünglich mit den griechischen Nationalfarben schmücken. Eliot weist in den Anmerkungen zu The Waste Land akribisch Bezüge zur Bibel und zum Buddhismus, zu Shakespeare und Dante nach, Rilke orientiert seine Sonette an Orpheus an Ovids Metamorphosen. Mit dramaturgischen Feinsinn führt Hummelts Buch Regie über die Winke, die Zeit und Mythos geben.

Norbert Hummelts Buch widmet sich den Begegnungen und Biographien der Künstler, ihren Leiden und ihren Leidenschaften. Es ist ein Kabinett an Kuriositäten, ein Schallraum unterschiedlicher, manchmal dissonanter Resonanzen. Das römische Glockenläuten, als nach dem Tod des Friedenspapstes Benedikt XIV. am 6. Februar 1922 Pius XI. zum Nachfolger gewählt wurde, erreichte das literarische Trio nicht: Joyce hatte eine rituelle Überdosis an Religion bei den Jesuiten, Rilke von seiner bigotten Mutter bekommen, und Eliot war in der nüchternen unitarischen Verantwortungsethik aufgewachsen; Joyce parodierte die Liturgie, Rilke übenahm ihre Emphase, Eliot suchte seine persönliche Heilslehre und sollte 1947 eine Privataudienz bei Pius XII. erhalten. – Hemingway überlebte die Malaria und war überhaupt in der Regel da, wo es in Europa am brenzligsten war. Thomas Mann bekannte sich zur «deutschen Republik», was ihm nach den konservativ-demokratieskeptischen Betrachtungen eines Unpolitischen nicht alle Zeitgenossen abkaufen wollten. In Wien traf Arthur Schnitzler am 16. Juni, dem Bloomsday, an dem in Dublin der Held von Joyces Roman gefeiert wird, Sigmund Freud, der ihn für seinen literarischen Doppelgänger hielt. Franz Kafka begann seinen dritten Roman Das Schloss, aber auch er sollte Fragment bleiben. Das Vorbild des Schlosses steht im tschechischen Riesengebirge, wo Kafka Ende Januar 1922 zur Kur war und seine Phantasie womöglich von dem Vampirmythos antreiben ließ; im Vorjahr hatte Murnau dort Szenen zu seinem genrebegründenden Film Nosferatu – Symphonie des Grauens gedreht, der 1922 in die Kinos kam.12 Mussolinis Schwarzhemden marschierten in Rom ein, Stalin triumphierte in Moskau, dass es mit Lenin zu Ende ging, König George V. proklamierte den irischen Freistaat, der den Dichter William Butler Yeats in den Senat berief, im Jahr darauf erhielt er den Literaturnobelpreis. Und immer noch wütete in Europa die Grippe, vor der Virginia Woolf genau so viel Angst hatte wie vor der Proust-Lektüre.

Es sind die literarischen Werke und ihre Dichter, die Europa im Schlüsseljahr 1922 zusammenhalten. Sie vereinen, was disparat ist, sie sprechen mehr als nur eine nationale Sprache, und sie sind, je nachdem, Falltür oder Portal in die neue moderne Welt. Mit Norbert Hummelt die Figuren in und aus dieser Welt zu lesen, öffnet eine ‹postdidaktische Einstellung› zur Geschichte. Indem ganz unterschiedliche europäische Kulturereignisse gleichzeitig, das heißt in Parallelaktionen oder Simultanszenen, erzählt werden, bildet sich ein synchrones Feld heraus, in dem es mit dem Anordnen von historischen Sequenzen und «mit dem Lernen aus der Geschichte vorbei» ist,13 nicht aber mit dem Lesen ihrer Geschichten und der «Handschrift aller Dinge», wie es am Beginn des dritten Ulysses-Kapitel heißt.14 Norbert Hummelts Buch lässt die Werke ihren Meister loben. Und erwirbt so die Lizenz, gleichfalls auf dem Zeitenstrome oben zu bleiben, um nochmals das Klopstock-Epigramm zu zitieren.

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