«wie ein Himmel ohne Sonne oder ein Leib ohne Augen»Matteo Riccis Buch über Freundschaft

Die Frage nach angemessenen Formen der Inkulturation des Evangeliums hat die Kirche in ihrer Geschichte immer wieder beschäftigt. Der Polemik Tertullians, was denn Athen mit Jerusalem zu tun habe, hat die alexandrinische Theologie eine dialogoffenere Haltung gegenübergestellt. Nicht nur im Überlieferungsstrom Jerusalems, auch in der Kultur und Dichtung Athens gebe es semina verbi, die auf das menschgewordene Wort in Jesus Christus vorausverweisen. Die Ausbreitung des Evangeliums durch die Mission der Kirche in die unterschiedlichen Länder und Kulturen ist gleichwohl nicht immer adressatengerecht gewesen und nach dem Modell der Anknüpfung im Widerspruch verlaufen. Immer wieder haben sich christliche Mission und koloniale Eroberungsinteressen auf unselige Weise verquickt – eine historische Hypothek des Christentums.

Leuchtend hebt sich davon die Mission des gelehrten Jesuiten Matteo Ricci (1552–1610) ab, der ein Wanderer zwischen den Welten gewesen ist. Im Auftrag des Ordens ist er Ende des 16. Jahrhunderts in das Reich der Mitte aufgebrochen, um möglichst zum damaligen Manli-Kaiser aus der Win-Dynastie vorzudringen und bei ihm die Erlaubnis zu erwirken, in China das Christentum verbreiten zu dürfen. Das Unwahrscheinliche ist ihm am Ende geglückt, denn in emsigen Studien hat er sich nicht nur die chinesische Sprache, sondern auch die Geschichte und Kultur des Landes angeeignet – als habe er die hermeneutische Devise Gadamers bereits gekannt, man möge versuchen, den anderen besser zu verstehen als dieser sich selbst versteht, damit Verständigung auch über kulturelle Differenzen hinweg gelinge. Gerade die Aneignung der chinesischen Kultur – Ricci hat die vier klassischen Schriften des Konfuzianismus ins Lateinische übertragen – hat seine chinesischen Weggefährten und Freunde neugierig werden lassen auf diesen Fremden aus dem Westen, der überdies mit den Wissenschaften, insbesondere der Mathematik, Astrologie und Kartographie bestens vertraut war. Wissenschaftlich machte Ricci bei der chinesischen Elite zunächst Eindruck durch die Veröffentlichung einer Weltkarte, dann gelang es ihm, durch eine Sammlung von Sentenzen über Freundschaft auf erstaunliche Übereinstimmungen zwischen der europäischen und der chinesischen Kultur aufmerksam zu machen.

Matteo Riccis dichtes Büchlein Über Freundschaft ist von Michael Sievernich SJ soeben neu übersetzt und – mit einer instruktiven Einleitung versehen – im Limburger Glaukos-Verlag herausgebracht worden. Schon das Frontispiz der liebevoll gestalteten Ausgabe zeigt Matteo Ricci in der Robe eines konfuzianischen Gelehrten. Äußerlich passt er sich im Sinne der Akkomodation an die Gepflogenheiten der Fremde an, ohne deshalb das Eigene einzuklammern oder gar zu verleugnen. Sein Buch versammelt 100 Sprichwörter oder Aufzeichnungen über Freundschaft und ist 1601 erstmals in chinesischer Sprache gedruckt worden. Es fand großen Anklang und erlebte mehrere Auflagen. Die Sammlung hat dazu beigetragen, die xenophobe Grundhaltung der chinesischen Eliten gegenüber der europäischen Kultur zu überwinden. Die inhaltliche Nähe zu Sprichwörtern über die Freundschaft aus den konfuzianischen Klassikern wurde begeistert registriert. Zu Recht stellt Michael Sievernich, der auch ein lesenswertes Werk mit dem Titel Die christliche Mission. Geschichte und Gegenwart (2009) verfasst hat, heraus, dass Matteo Ricci so zu einem Brückenbauer zwischen China und Europa geworden ist. In einer historisch gut informierten Skizze führt Sievernich in Leben und Werk seines Protagonisten ein, bevor die Sammlung der Sentenzen aus antiker und spätantiker Philosophie und Theologie dokumentiert wird. Es handelt sich um eine polyphone Zusammenstellung aus griechischen und lateinischen Klassikern und Kirchenvätern, die auch heute – trotz des hermeneutischen Abstands von gut 400 Jahren – mit Gewinn gelesen werden kann, da die Kunst der Freundschaft zu einer Konstante menschlichen Lebens zählt.

Gelingende Freundschaft verbindet die Einigkeit, ohne die Andersheit des anderen zu überspielen. Um ein paar Beispiele zu geben: Die erste Sentenz führt gleich den Topos des Freundes als der «anderen Hälfte meiner selbst» an. Die zweite geht in eine ähnliche Richtung und bringt die amikale Zwei-Einheit ins Wort: «Obgleich der Freund und ich zwei Körper haben, schlägt doch in beiden Körpern nur ein Herz.» (Nr. 2) Auch wird die pragmatische Außenseite freundschaftlicher Beziehungen in Riccis Sammlung näher beleuchtet: Interessen, die in die Beziehung hineinspielen mögen, sollten den Primat der Wertschätzung des anderen nicht antasten, Schwierigkeiten aber werden als Bewährungsproben gedeutet: «Wer dem Freund nicht hilft, wenn er selbst in Not ist, wird keine Hilfe finden, wenn er selbst in Not gerät.» (Nr. 53) Prekäre Situationen, die, wenn sie gemeinsam gemeistert werden, der Freundschaft ein Echtheitssiegel geben, werden ebenfalls angesprochen wie die Entfernung von vorgeblichen Freunden in Zeiten der Krise: «Tatsächlich rücken in der Not die wahren Freunde immer näher, während die falschen Freunde sich immer mehr entfernen.» (Nr. 5) Im Zeitalter der sozialen Medien, wo sich manche mit der hohen Zahl ihrer Facebook-Freundschaften oder Follower brüsten, mag folgende Sentenz eine gewisse Desillusionierung bieten: «Wer viele vertraute Freunde hat, hat keinen einzigen.» (Nr. 40) Auch gibt es Aphorismen, die mit der Betonung der Treue einen Kontrapunkt zur Kultur des Flüchtig-Provisorischen setzen: «Einen guten alten Freund sollte man nicht verlassen. Einen alten Freund sollte man nicht grundlos durch einen neuen ersetzen; binnen kurzem wird man das bereuen.» (Nr. 48) Oder: «Wenn ihr neue Freunde gewinnen wollt, vergesst nicht die alten Freunde!» (Nr. 75) Und dass es leichter ist, Lob und Anerkennung anzunehmen als für Kritik und Einspruch zugänglich zu bleiben, zeigt folgendes Sprichwort, das in für moderne Ohren ungewohnter Drastik daherkommt: «Die Geschenke eines Feindes sind weniger wert als die Schläge des Freundes.» (Nr. 78) Auch die im Hintergrund der amicitia stehenden Netzwerkr werden angesprochen: «Tiefe Freundschaft zu haben, heißt Freund der Freunde des Freundes und Feind der Feinde des Feindes zu sein.» (Nr. 52) Schon Aristoteles hat in der Nikomachischen Ethik zwischen der edlen Freundschaft, die den anderen um seiner selbst willen wertschätzt, und instrumentellen Formen der Freundschaft unterschieden, die auf Steigerung der Lust oder nutzbringenden Gewinn erpicht sind. Interessant ist, dass Ricci das Thema der Gottesfreundschaft ausspart und die Linien der antiken Freundschaftsethik, die das Sterben für den anderen als Höchstform menschlicher Beziehung herausstellen, nicht auf das Evangelium hin auszieht. «Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt.» (vgl. Joh 15,13; Röm 5,8) Nicht ausgeschlossen, dass er sein Buch als praeparatio evangelica auf Christus, den wahren Freund (Joh 15,15), hin verstanden hat. Ähnlich wie das Handorakel des spanischen Jesuiten Baltasar Gracían (1601–1658), der über Weltklugheit räsoniert hat, kann man Matteo Riccis Sentenzensammlung über die Freundschaft als Vademecum gebrauchen und – ob nun in Wien, Rom, Frankfurt oder Peking – immer wieder mit großem Gewinn hineinblättern.

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Matteo Ricci

Über die Freundschaft

Erstdruck Peking 1601, übersetzt und mit einer Einführung herausgegeben von Michael Sievernich, Glaukos 2022, 164 Seiten, € 24,80