Erich PrzywaraDie Theologie kann sich von ihm «zu ihrem Segen erschrecken lassen»

Offenbar ist längst nicht alles gesagt über Przywara, auch wenn die Erinnerung an ihn verblasst, liegt doch sein Tod bereits fast in halbes Jahrhundert zurück: Von 1922 bis 1941 Mitarbeiter der Kulturzeitschrift «Stimmen der Zeit», dort zeitweise mit Peter Lippert SJ, Hans Urs von Balthasar SJ und (kurz) mit Alfred Delp SJ in einer Redaktion wirkend und unter einem Dach lebend, Schriftsteller und Akademikerseelsorger, mag Przywara heute nicht mehr als «modern» gelten. Aber was heißt das schon? Er hatte seinerzeit ein waches, ja geradezu ein seismographisches Gespür für den «Geist» seiner Zeit, besonders in den 1920er- und 1930er- Jahren, ohne deswegen dem zu verfallen, was man heute «Zeitgeist» nennt. Seine Analyse war gefragt, sein Einfluss stark. Und der hallt nach, bis heute. Nicht zuletzt zählt Przywara, neben Romano Guardini, zu den heimlichen Ahnen der Theologie des gegenwärtigen Bischofs von Rom, wie Massimo Borghesi in seiner intellektuellen Biographie über Papst Franziskus, die in mehreren Sprachen erschienen ist, herausarbeitete. Martha Zechmeister würdigte Przywara im LThK sogar als «theologischen Wegbereiter» des Zeiten Vatikanums.

Finden, um zu suchen. Der philosophisch-theologische Weg von Erich Przywara – so heißt die jüngst erschienene monumentale Studie von Eva-Maria Faber. Manchmal muss man es einfach zugeben: Durch diese Lektüre habe ich viel erfahren, was ich vorher nicht wusste, so nicht kannte, so nicht einschätzen konnte. Der Autorin – seit 2000 Professorin für Dogmatik und Fundamentaltheologie an der Theologischen Hochschule Chur – gebührt Respekt allein schon wegen der Tatsache, dass sie sich über zwanzig Jahre, nachdem sie sich als Doktorandin erstmals eingehend mit Erich Przywara (1889–1972) auseinandergesetzt hat, noch einmal diesem Jesuiten zuwendet.

Eva-Maria Faber bekennt eingangs, dass ihre Faszination für Przywara nie verlorengegangen ist, so sehr «diese Art von Religionsphilosophie und Theologie gewiss nicht direkt in heutiges theologisches Denken eingespeist werden kann und obwohl sein Werk auch befremdliche Züge aufweist» (7). Gleichwohl machte sie sich daran, «nun stärker auf seinen Denkweg zu achten und werkgenetisch zu arbeiten» (7), anstatt auf bestimmte Motive zu achten, um so «insbesondere die theologischen Schriften Przywaras besser erschließen» (8) zu helfen. «Risikoreich» nennt Faber die Absicht, «eine werkgenetische Sicht für das Gesamtwerk Przywaras anzustreben» (9). Deswegen gibt sie den methodischen Hinweis, dass diese Vorgangweise «im Einzelnen mit Präzisionsverlust, Unschärfen und auch Fehldiagnosen behaftet sein wird» (9). Aber schon allein, dass sie Przywaras Rolle in den kirchlichen Auseinandersetzungen der 1920er- und 1930er-Jahre «zwiespältig» (23) nennt, seinen «Hang zu Typisierungen» (24) hinterfragt, dass sie bereits in den 1920er-Jahren «erste Zäsuren» (25) ausmacht, dass sie konstatiert, dass Przywaras «Interesse am ‹Reich› und sein ausgeprägtes Verständnis von Autorität und Gehorsam» eine «problematische Nähe zu faschistischem Gedankengut» (31) offenbare, seine Stellung zum nationalsozialistischen Ideologie «umstritten» (28) sei und dass es [g]eradezu unerträgliche Aussagen über Israel» gebe, die zusammenhanglos «neben der Anerkennung einer heilsgeschichtlichen Rolle im Sinne von Röm 9–11» stünden, «womit Przywara das Geschick Israels in das Geheimnis Gottes hineinlegt» (33), belegt Fabers wissenschaftliche Akribie, die es ihr nicht erlaubt, ihren Protagonisten blauäugig oder kritiklos unter die Lupe zu nehmen.

Przywara war ein scharfsinniger Beobachter und Interpret der religiösen, spirituellen, theologischen und philosophischen Bewegungen der Zeit, vor allem zwischen den beiden Weltkriegen. Die großen Themen des deutschen Katholizismus nach dem Ersten Weltkrieg hatte er im Blick. Von der Jugendbewegung «Quickborn» geprägt, interessierten ihn die verschiedenen Aufbruchsbewegungen. Das machte ihn nach Faber auch zu einem «theologischen Seelsorger» (8). Durch seine «Stimmen»-Tätigkeit geriet er allerdings auch «früh in die Rolle eines Beobachters seiner Zeit, eine Aufgabe, die er mit Bravour erfüllt, die ihn aber auch in die Versuchung bringt, das Geistesleben seiner Zeit von seinem Rezensentenposten aus […] einseitig und gelegentlich beckmesserisch zu beurteilen und zu kritisieren» (16). Sein «Beoachterposten» ließ ihn «zuweilen in die Rolle eines Zensors geraten» (56). Er war bei den Davoser Hochschulwochen anwesend, beim Kulturbund Wien, bei der Semaine catholique des Genfer Völkerbundes, bei den Ostdeutschen Hochschulwochen, beim Katholischen Akademikerverband, in der Görresgesellschaft und in der Eichendorffgilde, er führte kontroverstheologische Gespräche mit führenden Vertretern des Protestantismus (Karl Barth, Paul Tillich) und des Judentums (Leo Baeck), hielt Gastvorlesungen an in- und ausländischen Universitäten, gab Exerzitienkurse und war ein gefragter Predigter. Mit Nicolai Hartmann, Edmund Husserl, Martin Heidegger, Max Scheler oder Edith Stein sprach er «auf Augenhöhe» – zweifellos «Schlüsselgestalten» seiner Zeit. So unterschiedliche Persönlichkeiten wie Lucien Lévy-Bruhl, Dietrich von Hildebrand, Albert Einstein oder Konrad Adenauer, um nur einige zu nennen, zählten zu denen, die seine Vorträge besuchten. Gleichwohl blieb Przywara im akademischen Bereich (trotz verschiedener wirkmächtigen Schriften) zeitlebens ein Außenseiter, auch als Jesuit übrigens. Dass er ab 1951 krankheitsbedingt auf dem Land in Oberbayern außerhalb einer Jesuitenkommunität lebte, dass ihn Ängste und Depressionen plagten, teilweise Verfolgswahn (vgl. 42), verschweigt Faber nicht, obwohl die biographischen Angaben von der gewählten Methode her naturgemäß spärlich ausfallen. In Kattowitz, auf halber Strecke zwischen Gleiwitz und Auschwitz geboren, starb er am 28. September 1972 in Hagen bei Murnau. Begraben ist er auf dem Ordensfriedhof in Pullach.

Fabers Studie gliedert sich in vier Teile. In der Einleitung (7–12) geht sie zunächst auf das Augustinus-Wort «Quaeritur inveniendus eet ievnitur quaerendus» (7, vgl. 294 f.) ein, das den Buchtitel inspirierte: Finden, um erneut auf die Suche zu gehen. Mit diesem nur auf den ersten Blick befremdlichen, aber hintersinnigen Titel deutet sich bereits an, dass Przywara immer noch eine attraktive und darüber hinaus eine (erkenntnis-)gewinnbringende Lektüre sein kann, und Faber zeigt damit, dass Przywara in ihr über die Dissertationsschrift hinaus weiterwirkte und eine erneute, vertiefte Auseinandersetzung gleichsam erzwang. Bemerkungen zum Fokus der Studie und methodische Hinweise zu Datierungsfragen folgen. Teil I bietet einen Schnelldurchlauf durch das Gesamtwerk (13–69), Teil II widmet sich ausführlich dem religionsphilosphischen (71–213), Teil III dem theologischen Werk Przywaras (215–570). Es folgen ein Epilog (571–572) und das Abkürzungsverzeichnis, ein kommentiertes Literaturverzeichnis zu Büchern, Zeitschriftenartikel und Beiträgen Przywaras in Sammelwerken sowie sein Rezensionsverzeichnis, auerßdem sonstige Literatur (575–590). Den Abschluss macht ein ausführliches Inhaltsverzeichnis (591–599), das gezielt nachschlagen lässt, aber leider wurde auf ein Personenregister verzichtet.

Obwohl nie zum Professorenkollegium an der ordenseigenen Hochschule in Pullach gehörend, kannte sich Przywara («kein Philosoph im Elfenbeinturm»: 29) in der Neuscholastik aus, blieb ihr aber nicht verhaftet und hat im Übrigen sehr früh auf den belgischen Jesuiten Joseph Maréchal (1878–1944) und seine bahnbrechende Kant-Interpretation aufmerksam gemacht in dem «Stimmen»-Beitrag «Kantischer und katholischer Geistestypus» (StZ 107, 1924, 161–174). Maréchals Einfluss sollte sich nachhaltig auf die beiden Jesuiten Karl Rahner (1904–1984) und Bernard Lonergan (1904–1984) auswirken. Rahner hielt Przywara, anders als Balthasar, der Przywara später verlegerisch betreute, lebenlang die Treue, besuchte ihn wiederholt in Murnau, vertrat ihn im September 1967 bei der Verleihung des Oberschlesischen Kulturpreises in Düsseldorf und verfasste auch einen engagierten Nachruf.

Die Studie verlangt eine konzentrierte Lektüre. Ich behalf mir wiederholt damit, mich im ersten Teil zu vergewissern, welchen Werkphasen Faber chronologisch manche Werke zuordnet und in welchem Kontext diese zu lesen sind, wobei die kontextuelle Verortung, bedingt durch die gewählte Methode, karg ausgefallen ist. Man muss auch immer Fabers methodischen Hinweis im Hinterkopf behalten, dass eine präzise Unterscheidung zwischen dem religionsphilosophischen und dem theologischen Werk nicht möglich oder sogar unpraktikabel ist, weil sie neue Fragen aufwirft. Frühe religiöse Schriften, Werkstudien (z. B. Augustinus, Thomas von Aquin, mittelalterliche Mystiker, Romantiker, Kant, Hölderlin, Kierkegaard), religionsphilosophische oder kirchliche Stellungnahmen (etwa zu den verschiedenen Aufbruchsbewegungen der 1920er-Jahre) sind deutlicher abgrenzbar und zuzuordnen, auch das Schrifttum der 1930er-Jahre, zu dem das in der Folgezeit wirkmächtige Hauptwerk «Analogia entis» (1932) oder der auf in den Jahren zuvor gehaltenen Exerzitienkursen zurückgehende dreibändige Exerzitienkommentar «Deus semper maior» (1938–1940) gehören. Der Analogiebegriff, den das vierte Laterankonzil (1215) stark gemacht hatte, blieb für Przywara gerade nicht abstrakte Theorie, sondern wurde durch ihn in der Theologie (und für die Theologie) zum Mittel, die je größere Unähnlichkeit zwischen Schöpfer und Geschöpf deutlich werden zu lassen. Das protestantische Missverständnisses des Begriffs konnte erst Eberhard Jüngel als «Griff nach Gott» ausräumen. Für Hugo Rahner SJ (1900–1968) war Przywaras Exerzitienkommentar nichts anderes als die folgerichtige «Transposition der ‹Analogia entis›».

Das Spektrum der Themen und Autoren, die Przywara studiert und analysiert hat, ist beeindruckend. Am Anfang standen die Beschäftigung mit Max Schelers Phänomenologie, die Religionsphilosophie und eine acht Bände umfassende Newman-Ausgabe. Przywara ließ sich ein auf aktuelle Diskurse und löste solche aus. Beeindruckend ist deswegen auch, dass sich Faber durch mehr als fünfzig Monographien und Hunderte von Artikeln gekämpft hat, neben denen Przywara auch Meditationen, Gebete und Gedichte verfasste. Seine Sprache galt als «schwierig». Das hatte Auswirkungen auf seine Rezeption, auch wenn er mit seiner «Analogia entis» immer stark präsent war und nach wie vor ist (vgl. 89–131). Das Spätwerk wirkt disparat (vgl. 43, 200), Przywaras synthetische Kraft hatte spürbar nachgelassen. Interessant ist freilich, dass der späte Przywara, unter Rückgriff auf frühe Begegnungen etwa mit Barth oder Paul Tillich, ökumenische Fragestellungen wieder aufgriff (vgl. 56–69: «Ein langer Weg zum ökumenischen Pionier»), allerdings alters- und krankheitsbedingt nicht frei von «Einseitigkeiten und auch Inkohärenzen» (66). Przywara übernahm immer wieder auch Stereotypen, etwa bei den Themen Sünde, Israel/Kirche und bei der Kreuzestheologie. Faber verschweigt problematische Seiten nicht, urteilt diskret, verurteilt aber nicht. Sie benennt «eine faschistische Neigung Przywaras» (30), widersteht aber dem im angelsächischen Raum gepflegten Image Przywaras als faschistischer Ideologe. Das und vieles mehr schätzt man an ihrem Umgang mit dem erratischen Werk Przywaras. Leicht hatte es Przywara mit sich selbst nicht, leicht hat man es mit seinem nahezu unüberschaubaren Werk nicht – sein philosophisch-theologischer Weg ist mit dieser fundamentalen Studie auf neue Weise bestens erschlossen.

Karl Rahner rühmte Erich Przywara in seiner Laudatio nach, er sei vielleicht erst im Kommen. Die Theologie könne sich – damit endet Eva-Maria Faber ihren Epilog – «heute und morgen zu ihrem Segen erschrecken lassen von dem dunklen Feuer der Theologie Przywaras» (572).

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Eva-Maria Faber

Finden, um zu suchenDer philosophisch-theologische Weg von Erich Przywara

Münster: Aschendorff 2020, 599 S, € 74,-.