Arnold Stadlers Reise zum KilimandscharoIm «Gedankenunkrautfeld» eines großen Grantlers und Humoristen

Es ist ein paar Jahre her, dass Arnold Stadler, von seiten eines Tourismusverbands und einer großen Wochenzeitung gebeten wurde, eine Reise zu einem Ziel seines Beliebens zu unternehmen und darüber zu berichten. Stadler wählte den Kilimandscharo, der für ihn seit Kindheitstagen ein Traumziel war, weil im Esszimmer seines Elternhauses ein Bild dieses afrikanischen Riesen hing (und noch hängt), 1929 oder 1931 gemalt von dem wenig bekannten Stuttgarter Maler Fritz Lang. Auf dem Umschlag von Stadlers neuem Buch1 ist es reproduziert: «Der Kibo mit Palme», wie der Umschlag sagt, oder «Der Kilimandscharo von Madschame aus», wie es im Text heißt (216). Im Vordergrund steht eine majestätische Palme; dahinter und zugleich darunter ist der «Kibo» zu sehen: der immerzu mit einer Eiskappe bedeckte Gipfel des Kilimandscharo. Das Bild ist kein großes Kunstwerk, war aber doch reizvoll genug, um den Kibo – oder vielleicht auch nur die Stelle, von der aus Lang ihn malte, also Madschame (Machame) – zu einem Sehnsuchtsort des jungen Stadler werden zu lassen. Und endlich, mit über sechzig Jahren, machte er sich auf den Weg, geführt von dem Kindheitswunsch und dem unausgesprochenen Ansinnen der Auftraggeber, er werde darüber «etwas Schönes schreiben, so dass es sich ins Glücks- und Sehnsuchtsprogramm» der Leser einprägen und diese zum Kilimandscharo locken werde (76). Ja, er nahm sich – auftrags- und zeitgemäß – vor, so behauptet er wenigstens (aber ich glaub’ ihm das nicht), «etwas so Leichtes wie Cooles, etwas so Engagiertes wie unterhaltsam Positives, etwas so distanziert Objektives wie zeitvertreibend Aufbauendes zu schreiben», so als wäre er nicht Arnold Stadler, sondern ein Vertreter jener gegenwärtig florierenden Lifestyle-Literatur, die der Münsteraner Germanist Moritz Baßler unlängst mit einem Begriff von Umberto Eco als «Midcult» charakterisiert und angegriffen, ja verurteilt hat.

Eco meinte damit Literatur, die gedanklich zwar anspruchsvoll, aber leicht lesbar ist, weil sie auf ausdruckserweiternde Vorstöße der avantgardistischen Moderne verzichtet und einen oberflächen- oder populärrealistischen Stil pflegt: eine leicht verständliche Sprache und gut nachvollziehbare Handlungen, die prinzipiell unseren allgemeinen Lebenserfahrungen entsprechen, dazu Identifikationsfiguren, mit denen man sich leicht solidarisieren kann. Derzeit, so Baßler, ist zudem eine Tendenz zur moralisierenden Weltbetrachtung zu beobachten, die aber mit einer Darstellung einhergeht, die zu «Wohlfühltexten» führt, in denen auch noch das Schlimmste leicht konsumierbar wird. Ein anderes Wort für diese Art von Literatur sei «Kitsch».2

Stadler unternahm also eine siebentägige Flugreise zum Kilimandscharo und schrieb darüber zunächst einmal einen prägnanten Reisebericht, der unter der Überschrift «Eden Tansania / Gipfel des Lebens» in der ZEIT erschien.3 Der Bericht ist aber nicht so paradies- und gipfelselig, wie es die redaktionelle Überschrift suggeriert, sondern eher sachlich und eingeschränkt auf die Wiedergabe des Reiseverlaufs. Nur gelegentlich – beispielsweise im Verweis auf die Geschichte der Sklaverei – deutet sich an, was diese Reise im Kopf und im Herzen des Berichterstatters alles ausgelöst haben mag. Davon aber spricht nun umso ausführlicher und umso eindringlicher Stadlers neues Buch mit dem Titel Am siebten Tag flog ich zurück. Meine Reise zum Kilimandscharo. Die Gattungsbezeichnung heißt «Roman», aber das Buch ist in der Ich-Form geschrieben, und der da spricht, ist so unverkennbar Arnold Stadler, dass es schwerfällt, das Buch als Roman-Fiktion zu lesen. So sei – trotz der grundsätzlich gegebenen Differenz zwischen dem wirklichen Autor eines Romans und der literarischen Figur seines in der Ich-Form sprechenden Erzählers – im Folgenden also von Stadler geredet, auch wenn manches, was in diesem Buch von ihm oder über ihn gesagt wird, nur der literarischen Ich-Figur zugehörig sein mag.

Folgt man dem Buch, so wurde Stadlers Reise zum Kilimandscharo eine aufwühlende «Reise nach Innen» (188, 228 und 239), als solche aber auch eine Reise durch die Diskurse unserer Zeit, vom ökologischen bis zum postkolonialen, und das heißt insgesamt: in einen aufgekratzten und durch vielerlei Wahrnehmungen fortlaufend stimulierten Bewußtseinsraum, der manchmal auch einem «Gedankenunkrautfeld» gleicht (110). Statt des poetisch angehauchten Überfliegerbuchs im Stil des Neuen Midcult entsteht eine Grübelei aus «Vogelscheuchensätzen» (76), die den Verdacht aufkommen lassen, das Buch sei zu keinem anderen Zweck als dem geschrieben, uns Reiselust und Daseinsfreude madig zu machen. Das Zentralwort, das uns immer wieder unter die Nase gerieben wird, lautet «ökologischer Fußabdruck» und lässt uns so gut wie den Erzähler selbst als arme Sünder dastehen. Trotzdem ist Stadlers neues Buch ein wunderbares und hinreißendes Buch, das Werk nicht nur eines großen Grantlers von Thomas-Bernhardschem Format, sondern auch eines großen Humoristen. Es spricht nicht nur von dem, was wir nicht mehr haben oder nicht mehr lange haben werden, weil der zivilisatorische Fortschritt es ebenso verdampfen wird wie beispielsweise die Schneekappe des Kibo, die voraussichtlich in zehn Jahren verschwunden sein wird; es spricht auch von dem, was wir immer noch haben und haben könnten, wenn wir ein bißchen bescheidener und schonungsvoller leben würden. Und von all dem spricht das Buch so, dass man nicht immer sicher ist, wie ernst es dem Erzähler damit ist. Die «Flugscham», die er immer wieder anführt, ist ihm wohl nicht allein, aber doch auch eine hochwillkommene Möglichkeit, mit seiner «Flugangst» fertigzuwerden. Humor besteht bekanntlich in der Kunst, im Negativen das Positive zu entdecken und für sich zu nutzen. Hier darf der Feigling sich als Saubermann entdecken und aufspielen. Sogar die deprimierende Frage nach dem ökologischen Fußabdruck kann durch die Entwicklung von eitlem «Sündenstolz» (203) in eine Quelle von Selbstgefühl verwandelt werden. Wie sind wir nicht durch die Welt gebraust! «Nach uns die Sintflut» ist jetzt nicht mehr nur eine frivole Redensart!

Aber der Reihe nach, und von außen nach innen: Stadler macht sich also auf den Weg nach Afrika. Seine «Final Destination» ist aber nicht «Kilimandscharo International Airport», sondern «Bremen Airport», denn unmittelbar nach dem Afrikatrip soll er dort als Ehrengast an einem Herrenmahl namens «Eiswette» teilnehmen. Er reist deswegen mit zwei Rimowa-Koffern, einem mit Kleidern für Afrika und einem mit Smoking samt Lackschuhen für Bremen, was ihm aber nicht viel nützt, weil ihm Teile des Smokings, den er in einer Lodge zum Lüften aushängt, von einer Affenbande geraubt werden. Jeder praktische Mensch hätte diesen Smoking-Koffer nach Bremen ins Hotel geschickt und wäre mit dem Safari-Koffer allein gereist. Aber Stadler – wenigstens der Stadler dieses Buches – ist kein praktischer Mensch, sondern das Gegenteil davon, und zwar auf allen Ebenen: ungeschickt im Alltag, ungelenk im Umgang, unangepasst im ganzen Habitus, ein «umerzogener Linkshänder» (69), der aber seinen «linkshändigen», ja «linkshändig verdrehten Kopf» (41, 69, 76, 98) behalten hat und mit ihm zum Dissidenten der Mehrheit geworden ist (69). Das läßt ihn vor andern oft als lächerlich oder gar verächtlich erscheinen; aber in dieser Lächerlichkeit und Verächtlichkeit liegt auch ein gerüttelt Maß Würde gegenüber dem prätentiösen Comme-il-faut aufgeblasener Zeitgenossen wie jener «mondänen Schweizerkuh» (179), die ihn auf Englisch wissen läßt, dass man «abwechselnd in Namibia, Basel und im Engadin» lebe (180). Sein «Aggressionspotenzial» (193) ist beträchtlich.

Die Reise zum Kilimandscharo dauert sechs Tage. Viel ereignet sich nicht, Sensationelles schon gar nicht. Fünf Tage wird Stadler mit einem Jeep rund um den Kilimandscharo von Lodge zu Lodge gefahren, darf der hundert Kilometer südwestlich des Kilimandscharo gelegenen Provinzhauptstadt Arusha eine Visite abstatten und muß nolens volens eine kleine Safari sowie eine angstvolle Nacht in einem Dschungel-Camp hinter sich bringen. Er tut einem richtig leid, zumal ihm alle seine Versuche, mit einer adretten Kölnerin, zwei Lesben aus Seattle und zwei Südtirolerinnen anzubandeln mißlingen! Großartig aber war auf der Anreise der «Vollmondflug» über das Hochland von Abessinien, für den «kein anderer Satz möglich» wurde «als der von der Schönheit der Welt und meines Lebens» (61). Und am letzten, am sechsten Tag darf er – wie der Maler Fritz Lang – von Madschame aus den Kibo sehen: «Es war ein schöner Anblick. Und ich sah, dass es gut war. […] Am siebten Tag flog ich zurück.» (239)

Diese Reise wird, wie schon gesagt, zu einer «Reise nach innen» und, wie Stadler im Anblick des Kibo bemerkt, zugleich zu einer Reise «zurück in mein Leben» (216), zurück bis in die Kindheit, die von Fritz Langs Bild geradezu überstrahlt war. Mit einer anderen, nicht weniger prägenden Kindheitserinnerung, setzt das Buch ein:

All meine Wege verschwanden einst unter dem Makadam an den hellen heißen Tagen meiner Kindheit. Makadam war ein schönes Wort, das schwarz glänzte, welches Männer mit ihren Schaufeln auf dem Boden meines ersten Lebens verteilten. Es waren Männer mit freiem Oberkörper mitten in den Feldern meiner Erinnerung. Und damit verschwand auch der Staub von hundert Jahren oder mehr für immer unter dem Makadam. (9)

Dichterworte! Und Sätze, die Vergangenheit und Gegenwart übereinanderlegen, indem sie die Männer auf «Feldern der Erinnerung» arbeiten lassen, die zu solchen doch erst wurden, als die Männer längst verschwunden waren. Diese Überlagerung von Vergangenheit und Gegenwart ist charakteristisch für das ganze Buch. Aktualität und Erinnerung, Reisewahrnehmungen und Lebenserfahrungen greifen permanent ineinander, durchdringen und überlagern sich:

Da stand ich einst und sah den Arbeitern zu, wie sie zur Zeit der Hundstage unsere Wege, die meist Feldwege waren, verteerten und versiegelten.

Und nun, unterwegs zu diesem Berg, der nun schon eine Zeitlang Kilimandscharo hieß, da dachte ich, dass diesen Kindern in den Dörfern am Fuße des Kilimandscharo oder auch erst ihren Kindern der Makadam wohl noch bevorstand, und auch: dass ihre Welt verschwand. Wie ich verstand ... (11)

Immer wieder provoziert die aktuelle Wahrnehmung die Erinnerung an die Vergangenheit. In Arusha besucht der Reisende, «Mitglied der katholischen Kirche vom neunten Tag an» (46), am Sonntagvormittag den Gottesdienst in der Kathedrale, sieht Menschen, die in ausgesprochener «Sonntagskleidung» zusammenkommen und entgleitet in Erinnerungen an die Sonntage in der dörflichen Heimat, als beim Mittagessen darüber gesprochen wurde, dass es bei der oder jener Kirchenbesucherin «geblitzt» habe, weil der Unterrock einen oder zwei Millimeter unter dem Rock herausschaute: «erotisches Programm von 1960» (117).

Es bleibt freilich nicht bei solch ländlich-unschuldigen Reminiszenzen. Arusha wurde im Jahr 1900 als Stützpunkt der Schutztruppe für Deutsch-Ostafrika gegründet, woran im Museum, dem einstigen Sitz der deutschen Kolonialverwaltung, erinnert wird. Und dann ist Stadler für ein langes Kapitel in der deutschen Kolonialgeschichte mit ihren Kundschaftern, Residenten, Generälen, Händlern und – nicht zuletzt – mit ihrem aufgeblasenen Kaiser, dem zu Ehren der Kibo eine Weile «Kaiser-Wilhelm-Spitze» hieß. Rühmliches ist allerdings nicht zu vermelden; diese ganze Geschichte «endete in einem Holzhacker» (91). Sie ist eine peinliche Episode in einer viel größeren Geschichte und bis heute andauernden Geschichte, die durch Worte wie «Darwinismus», «Fortschritt», «Imperialismus» und «Globalisierung» geprägt ist (72 f.), zudem Teil der «Weltgeschichte der Sklaverei», die «offiziell» als beendet betrachtet wird, weil die «Sklaven und Sklavenhalter» heute «Leiharbeiter und Investoren» heißen (96). Dagegen rebelliert dieses Buch, nicht zuletzt auch im Namen des Christentums. So sehr Stadler, zu den «Kindsköpfen dieser Welt» sich zählend, mit Vorlieben und Bekenntnissen spielt, einmal, wenn wieder einmal vom «Struggle for Life» die Rede ist, heißt es doch sehr ernsthaft und ohne Ironie:

Und ich war doch gerade deswegen Christ und nicht sonst etwas oder gar nichts, weil ich nicht wollte, dass die Mächtigen über die Ohnmächtigen triumphieren, die Starken über die Schwachen, das heißt, die Stärkeren über die Schwächeren, denn am Ende waren sie alle nichts ... (169)

Stadlers Kritik an manchen Erscheinungen unserer Gegenwart ist ätzend. Seine Reise zum Kilimandscharo «fiel in eine Zeit der großen Flucht», in der viele Menschen dahin wollten, «von wo aus die Waffen geliefert worden waren, die sie in die Flucht getrieben hatten» (71). Deutschland schneidet da nicht gut ab. Stadler erinnert sich an die ‹Begrüßung› von Flüchtlingen im Erzgebirge, und schreibt: «Wenn das Wort ‹Heimat› mit dem Wort ‹deutsch› verbunden wurde, bekam ich [seitdem] eine Gänsehaut. […] Heimat war für mich das Gegenteil von Deutschland und allem Hochdeutschen.» (218) Mir, als jemandem, der in diesem Deutschland von Kindheit an Förderungen aller Art erfahren hat und über mehr als sieben Jahrzehnte hinweg ein sicheres und an Möglichkeiten reiches Leben hat führen können, ist das ein bißchen zu stark, aber kein Grund, den Respekt vor Stadler abzustreifen oder auch nur zu relativieren. In Urteile oder Bekenntnisse dieser Art fließen so viele unterschiedliche und schwer verrechenbare Beobachtungen und Erfahrungen ein. – Und ausgerechnet heute, einen Tag, nachdem ich diese letzten Sätze geschrieben habe, muß ich schon beim Frühstück in der Zeitung lesen:

Bei einem rassistischen Angriff in Aue-Bad Schlema (Erzgebirgskreis) ist ein junger Mann verletzt worden. Acht Männer hatten den 20 Jahre alten Somalier am Samstagabend in einem Linienbus zunächst rassistisch beleidigt, teilte die Polizeidirektion Chemnitz mit. Mindestens zwei der Männer hätten ihn dann zu Boden gestoßen und auf ihn eingetreten.4

Unter dem Eindruck der ökologischen Betrachtung von Welt und Leben wird Stadlers Existenzklage radikal: «Am umweltfreundlichsten wäre es, gar nicht erst in die Welt hinauszugehen, ja am allerumweltfreundlichsten wäre es, das Licht der Welt gar nicht erst zu erblicken» (48). Gar nicht erst geboren zu werden, ist ein Wunsch, der angesichts der hinlänglich bekannten Einrichtung von Welt und Leben schon lange vor aller ökologischen Debatte aufkam; «aber wem passiert das schon», sagte der gewitzte Alfred Polgar dazu. So ist das eben, und die von Stadler erwogene Idee, die Welt nur digital zu erkunden, ist, wie er selber feststellt, auch kein wirklicher Ausweg, weil kaum etwas anderes soviel Energie frisst wie die Rechner dieser Welt (49). Zum Leben als mehr oder minder großes darwinistisches «Ökoschwein» (224) gibt es wohl keine Alternative.

Stadlers Buch ist auf eine mäandernde oder, musikalisch ausgedrückt, fugenartige Weise geschrieben. Viele der Themen, die er anspricht, der Makadam wie die Heiligen Drei Könige, der Darwinismus wie der ökologische Fußabdruck, tauchen in neuen Zusammenhängen und Einfärbungen immer wieder auf, ebenso Namen aus unterschiedlichen Bereichen von Moses (19, 167 und 217 ff) bis Reinhold Messner (73, 167, 214 und 220), so dass ein manchmal frappierendes Spiel von Begriffen und Namen entsteht. Mit manchen Personen, die auf diese Weise aufgerufen werden, mit Alexander von Humboldt wie Niki Lauda (234), mit Peter Handke wie Hertha Müller (24 ff), setzt Stadler sich für einen Moment in Vergleich, um nach der Wertigkeit seiner Leistung und seines Lebens zu fragen. Meist will er dabei schlecht abschneiden. Mit Blick auf die mit dem Nobelpreis ausgezeichneten Schriftstellerkollegen bemerkt er einmal: «Und ich konnte nicht mehr bestreiten, dass ich Schriftsteller geworden war […] der von sich sagen musste, auch manch erfolgreichen Kollegen kennengelernt zu haben.» (24) Aber wer so etwas sagen kann, ist nicht weniger selbstbewußt als bescheiden, und zurecht: Wir möchten die Bücher von Stadler neben denen von Müller und Handke nicht missen, sein Kilimandscharo-Buch schon gar nicht.

Die beiden wichtigsten Bezugsfiguren sind Moses und Don Quichotte. Das klingt aberwitzig, hat aber einen tiefen existentiellen Sinn.

Beim Blick von Madschame auf den Kilimandscharo kommt sich Stadler wie Moses vor: «Und nun, als wäre ich Moses, der Blick in das Gelobte Land, das Paradies.» (217) Und: «Ich dachte noch einmal an Moses, dessen Berg, von dem aus er das Gelobte Land gesehen hatte, Nebo hieß, meiner hieß Kibo.» (220) Damit wird aber nicht nur eine Augenblickserfahrung beschrieben, sondern eine fundamentale Bedingung unseres Lebens: Mehr als ein hoffnungsvoll ahnender Moses-Blick aufs Gelobte Land oder den irdischen Vorschein davon ist uns nicht vergönnt.

Mit Don Quichotte verbindet den Stadler dieses Buches mancherlei: das «Kombinieren falscher Zusammenhänge» (182), die aber insgeheim richtig sein könnten; dass sie beide – «Don Quichotte und ich, wir zwei» – zu jenen zählen, «die nicht zählten», und die gleich im doppelten Sinne des Wortes: weder rechneten noch gesellschaftliches Gewicht besaßen (183); das «vergebliche Fahren» nach Don Quichottes Art (201), offensichtlich, weil er, Stadlers alter ego, wie der edel irrende Ritter von der traurigen Gestalt unbedingt das «Unsichtbare» oder nicht Gegebene sehen wollte: «all die Windmühlen» (239), die für ersehnte oder erträumte Riesenwundergebilde stehen; nicht zuletzt aber der Umstand, dass sich die Reise zum Kilimandscharo als «ein Nachstellen eines Kapitels des spanischen Weltraumfahrers nach innen» erweist (182). Es ist das «Don-Quichotte-Syndrom» (238), von dem Stadler befallen ist, und vielleicht nicht nur er; aber er scheint es stärker zu spüren als andere und hat es in diesem Buch, das trotz seiner laufenden Bezugnahmen auf das Gerede unserer Zeit, das Buch eines genuinen Dichters ist, in hinreißender Weise ausgebreitet. Es ist ein Lesevergnügen und ein Denkanreiz sondergleichen. Letzterer resultiert nicht zuletzt aus Sätzen, deren kunstvoll gedrechselte Ausdrucksweise an den großen Meister dieser Form, Martin Walser, erinnert. Bevor Stadler den Jeep besteigt, der ihn von Madschame nach «Kilimandscharo International Airport» bringen soll, denkt er noch einmal an den Maler Fritz Lang:

Er war sechs Monate dort; ich hingegen sechs Tage und wusste nun für immer, dass die Sehnsucht nach diesem Berg, die so lange meine Zukunft war, nun in der Erinnerung mein Heimweh wäre. (239)

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