LeitkulturWas leitet Kultur?

Die neu entflammte Debatte über "Leitkultur" ist Ausdruck einer Unsicherheit, wohin die starke Zuwanderung vor allem aus islamisch-arabischen Gegenden unsere Zivilisation bewegt.

Wozu werden Kriminalitätsstatistiken erstellt? Gewiss nicht dazu festzustellen, dass der weitaus größte Teil der Bevölkerung gesetzestreu, rechtschaffen, friedlich lebt. Doch angesichts der jüngst für 2016 veröffentlichten Daten über den gravierenden Anstieg von Gewaltverbrechen - besonders auch von Personen mit ausländischem Pass - wird genau das wieder einmal betulich beteuert: Die überwiegende Mehrzahl der Nichtdeutschen sei nicht straffällig. Das Selbstverständliche hat aber keinerlei Erkenntniswert. Es dient allenfalls der Verschleierung ungemütlicher Tatsachen. Und zu denen gehört, dass bei Gewaltverbrechen, bei Mord und Totschlag sowie bei Vergewaltigung, inzwischen auch überfallartiger Gruppenvergewaltigung, der Anteil der Nichtdeutschen an den Tatverdächtigen deutlich über ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung liegt. Messbar erhärtet ist ebenfalls, dass an schweren Delikten inzwischen vermehrt Flüchtlinge und Asylbewerber der neueren Zeit beteiligt waren.

Zum Beispiel zeigt die Statistik aus dem südbadischen Freiburg, dass hier 43 Prozent der verdächtigten Gewaltverbrecher Nichtdeutsche sind. Flüchtlinge machten siebzehn Prozent der mutmaßlichen Straftäter auf diesem Feld aus. Bei Raubüberfällen waren sogar 52 Prozent Ausländer, wobei in jedem vierten Fall gegen Flüchtlinge ermittelt wurde beziehungsweise wird.

Natürlich ist es nie eindeutig, wie Daten gesammelt, zugeordnet und interpretiert werden. Verschiedene Lebensumstände wären zu berücksichtigen oder dass Ausländer eher angezeigt werden als Deutsche, was eine gewisse Unschärfe ergibt. Fakten jedoch zu alternativen Fakten zu erklären und klare Tendenzen schönzureden, ist unredlich. Derartige Vernebelung spielt nur denen in die Hände, die daraus rechtsex­trem Kapital schlagen wollen. Verbrechen etwa auf sexuellem Feld sind auch nicht damit zu entschuldigen, dass infolge der Flüchtlingskrise sehr viele alleinstehende junge Männer nach Deutschland kamen und dass diese pubertierende und nach-pubertäre Altersgruppe bis 30 unabhängig von der Nationalität ohnehin anfälliger für Straftaten sei als eine ältere Generation. Ebensowenig lässt sich das Problem entsorgen mit dem Hinweis darauf, dass die Aussichtslosigkeit, in der Fremde rasch ein besseres Leben zu finden, kriminelles Verhalten begünstigt. Die meisten ähnlich Frustrierten werden eben nicht kriminell. Auch das Milieu und die Enge in den Unterkünften können nicht davon ablenken, dass Verbrecher Verbrecher sind. Nicht zu übergehen ist ebenfalls, dass zu einem erheblichen Teil Flüchtlinge selbst zu Opfern krimineller Flüchtlinge werden. Von den sogenannten Rohheitsdelikten ereigneten sich in Freiburg zum Beispiel 43 Prozent innerhalb von Flüchtlingsunterkünften.

Fremdsein ist normal

Die Faktenlage samt Trends ist jedoch nicht zu beschönigen. Michael Hanfeld schreibt in der „Frankfurter Allgemeinen“: „Spätestens seit den massenhaften sexuellen Übergriffen auf Frauen in der Silvesternacht 2015 in Köln und in anderen deutschen Städten ist für jedermann erkennbar, dass sich die Sicherheitslage im öffentlichen Raum besonders für Frauen verändert hat. Und hierbei handelt es sich nicht um eine ‚gefühlte‘ Sicherheitslage“, sondern um eine „gemessene“. Das sei zur Kenntnis zu nehmen. „Tut es etwas zur Sache, wenn es darum geht, die Dinge zunächst einmal zu benennen - unter der Maßgabe, dass Straftaten unter allen Umständen verboten sind und es die vornehmste Aufgabe des Staates ist, seine Bürger vor Straftätern zu schützen, ganz gleich, wie alt sie sind, welches Geschlecht sie haben, aus welchen sozialen Verhältnissen sie stammen, welcher Religion sie angehören und wes ideologischen Geistes sie sind? Das Herumdrucksen erst macht es denjenigen leicht, die von einem oder von vielen Fällen auf alle … schließen und in rassistischen Kategorien denken. Deren Geschäft funktioniert nur, wenn ausgeblendet wird, was unter das Brennglas gehört.“

Unter das Brennglas gehört allerdings, zuvörderst dringlich, was Menschen aus verschiedenen Kulturen leitet, was ihre Kulturen leitet, wenn diese mit jeweiligen Eigenheiten, Gewohnheiten, Lebensweisen und keineswegs leicht synchronisierbaren geistigen Horizonten wie Seinsverständnissen und Plausibilitäten abrupt aufeinandertreffen, wie es seit einiger Zeit der Fall ist. Dass sich Menschen in fremden Kulturen und angesichts fremder Kultur behaupten möchten, ist die normalste Sache der Welt. Normal ist auch, dass daraus seit jeher in der Menschheitsgeschichte Konflikte entstanden. Die Frage ist stets nur, wie sie zu bewältigen sind. Der religiöse Faktor, wie gläubig oder nichtgläubig die Menschen oder Menschengruppen in einer Gesellschaft sind, spielt dabei eine maßgebliche Rolle. Und wie bei der Kernspaltung ab einer sogenannten „kritischen Masse“ die physikalischen Prozesse von sich aus in Gang kommen und automatisch ablaufen, gibt es Ähnliches in zivilisatorischen Prozessen. Wenn einzelne Bevölkerungsgruppen innerhalb eines Gemeinwesens, eines Staates eine bestimmte Größe erreichen, werden auch sie automatisch ihre Identitätsansprüche stellen und verwirklichen wollen, ob es den anderen - und sei es nach wie vor die Mehrheit - gefällt oder nicht. Die Ausbreitung des Islam Richtung Westen, mitten hinein in nichtislamische Kulturkreise, verläuft nach vergleichbaren Gesetzmäßigkeiten. Dass auch eine militante, extremistische Form des Islam global Terrain erobert, verschärft die Problemlage.

Kirchenkritik ja, Islamkritik nein

Eine brisante offene Frage ist daher, wie eine Gesellschaft, die Muslime inzwischen in großer Zahl aufgenommen und beherbergt hat, auf diese sich verstärkt religiös-selbstbewusst konstituierende Kultur reagieren kann und soll, zumal wenn die angestammte Religion, das Christentum, großflächig verdunstet ist. Jedenfalls wird es von der Mehrheit der eingeborenen Bevölkerung hierzulande nicht mehr als Heimat gepflegt, geschweige denn als geistige Identität persönlich wie öffentlich verteidigt und weiterentwickelt. Ganz im Gegenteil gehört Kirchenkritik bis hin zur Verächtlichmachung des Christlichen überhaupt inzwischen selber zu einer Art „Leitkultur“ religiöser Selbstdemontage in dieser Nation. Derart öffentliche schamlose geistige Entwertung und Herabsetzung von Religion und religiös Heiligem, einschließlich religiöser Führungspersönlichkeiten, in Gedanken, Worten und „satirischen“ Werken, ist Muslimen völlig fremd. Was an Schmähung des Christlichen möglich und üblich ist, getarnt als „Freiheit der Kunst“, würden die entsprechenden Protagonisten sich gegenüber dem Islam und dem Judentum niemals trauen.

„Kitt“ ist nicht Religion

Die Beleidigung des Islam wird inzwischen wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses beziehungsweise Volksverhetzung von Gerichten bestraft, bei der Beleidigung des Christentums finden die entsprechenden Rechtsparagraphen hingegen keinerlei Anwendung. Da gibt es nicht einmal eine presserechtliche Rüge, wie man einst an der Verunglimpfung der jüngsten Päpste sowie der christlichen Liturgie in der „taz“ durch den jetzt vielgerühmten Helden der Gedanken- und Pressefreiheit Deniz Yücel gesehen hat. Die Verächtlichmachung des Christlichen wurde damals unter „Meinungsfreiheit“ verbucht.

Die Asymmetrie zwischen dem, was von den einen als heilig und von großen Teilen einer Gesellschaft nicht mehr als heilig betrachtet wird, macht es schwer, eine „Leitkultur“ - bezogen etwa auf Deutschland - zu identifizieren, geschweige denn zu formulieren und diese als Maß zu behaupten, ja einzufordern. Das ist der Grund, warum die Thesen zu einer Leitkultur, die der Innenminister Thomas de Maizière soeben vorlegte, sofort auf heftigen Widerspruch stießen. Ihre Schwäche war offensichtlich, weil die Aussagen bloß an der Oberfläche geblieben sind, teilweise fast peinlich kindisch belehrend. Die eigentlichen existenziell-religiösen Tiefenschichten dessen, was jede Kultur - und im besonderen unsere europäische Kultur - leitet, blieben bis auf Andeutungen ausgeklammert. Vor allem fehlte eine kritisch-selbstkritische Bestandsaufnahme des Verlustes dessen, was einmal die eigene europäische, abendländische Kultur im Kontext des christlichen Paradigmas - und von diesem inspiriert - geleitet hat.

Wenn als „Leitkultur“ gilt, dass wir uns in Deutschland gegenseitig die Hand geben, und wenn deshalb indirekt Imame kritisiert werden, die sich aus Gründen etwa kultischer Reinheit weigern, fremden Frauen die Hand zu schütteln, wäre mitzubedenken, warum wir dasselbe Verhalten bei orthodoxen Rabbinern akzeptieren. Und wenn wir zur „Leitkultur“ rechnen, anderen Menschen frei ins Gesicht schauen zu können, um damit die Gesichtsverschleierung mancher Musliminnen zurückzuweisen, wäre auch einzuräumen, dass in unserer Mode- und Unterhaltungs-Mainstream-„Leitkultur“ noch ganz andere Körperpartien dem sehr freien Blick öffentlich wie medial freizügigst zur Schau gestellt werden, was nicht alle als moralisch verträglich empfinden. Wenn das Leistungsprinzip unserer Kultur als leitend gelobt wird, müsste im selben Atemzug bekannt werden, dass Leistung nicht alles ist und dass eine der bedeutendsten humanen Errungenschaften dieser Zivilisation die institutionalisierte Barmherzigkeit in Gestalt sozialer Gesetzgebung ist zum Schutz der Würde auch jener, die aus der Leistungsspirale herausfallen. Das wiederum ist wesentlich durch die lange Geschichte der Caritas mitbegründet, die dem Christentum seit Beginn innewohnt, als Kontrastprogramm und Bildungsprogramm bereits gegen die gesellschaftlichen Rohheiten der Antike. Wenn die Religion jedoch einzig zum „Kitt“ der Gesellschaft und damit zur moralischen Gebrauchsanleitung erklärt wird, bleibt das Wesentliche ausgeblendet, dass Glauben anderes ist als bloß Ethik: Gottes­erkenntnis, Gottesverehrung, ein existenziell erschüttertes offenes Fragen nach Sinn und Sinnlosigkeit, Sein und Nichts, Leben und Tod, Diesseits und Jenseits. Nicht das Gesellschaftliche, sondern das Transzendente, Metaphysische hatte einstmals die großen geistigen Dispute und künstlerisch bedeutsamsten Werke bestimmt: Leben! Aber selbst die Reformation von vor einem halben Jahrtausend mit ihrer existenziell unruhigen Suche nach Gott, Gottvertrauen und Gottesfurcht ist in der erinnernden Jubiläumsbetrachtung herabgesunken zu trivial moralisierender Sozialkosmetik.

Verschleiern und halal essen

Was ist Leitkultur? Die Frage müsste anders lauten: Was leitet Kultur, fremde Kultur und unsere Kultur? Und wo ist eine Horizonterweiterung, gar Horizontverschmelzung möglich, was immer auch die Läuterung von Kultur und die Kritik an Kultur einschließt? In den ministeriellen Thesen ist von diesem Eigentlichen nichts gegenwärtig. Vielleicht weil die kritische Frage, was in einer offenen, demokratischen, sozialstaatlich und rechtsstaatlich konstituierten Gesellschaft bleibt, wenn große Teile des Volkes vom Religiösen gar nichts mehr wissen wollen, gar nicht erst gestellt wird.

Das aber ist auch der Grund, warum die deutschen Ängste vor der inzwischen machtvollen muslimischen Präsenz in diesem Land einerseits ins Irrationale wachsen und warum andererseits die real massiven Probleme voller Naivität kleingeredet, ja ignoriert, in falscher Toleranz zugedeckt werden. Die aus Mazedonien stammende kritische Muslimin und Frauenrechtlerin Zana Ramadani beklagt in ihrem neuen Buch „Die verschleierte Gefahr“ den „Toleranzwahn der Deutschen“ und „die Macht der muslimischen Mütter“, die erziehend das religiös begründete islamisch-patriarchalische System der Unterdrückung der Frau und des Herrschaftsanspruchs des Mannes als islamische „Leitkultur“ von Generation zu Generation fortschreiben. Darin sieht die Autorin einen gefährlichen Feind der offenen Gesellschaft. Die zunehmende Verschleierung von Frauen und bereits kleinen Mädchen deutet sie als klare Weigerung, sich in die hiesige Kultur integrieren zu wollen. Derart islamisierender Druck von Schülern auf Schülerinnen breitet sich längst in den Klassenzimmern und auf den Pausenhöfen aus. Und während es vor wenigen Jahren noch in Ordnung und üblich war, im Kochunterricht statt Schweinefleisch Hühner- oder Rindfleisch zu verwenden, muss es jetzt bereits halal, also erlaubt, sein, das heißt von einem durch Schächten kultisch korrekt geschlachteten Tier stammen.

Zana Ramadani beschreibt anhand vieler Beispiele und Koransuren, wie sich eine bestimmte strenge Auslegung des Islam, religiös-archaisch und keineswegs nur politisch begründet, Schritt für Schritt in einer einstmals nichtislamischen Kultur durchsetzt. Die rein traditionsorientierte Sicht der Altvorderen gewinnt weltweit an Einfluss und bricht sich auch in Deutschland Bahn. Junge Leute, deren Familie bereits vor drei Generationen zugewandert war und die man längst integriert glaubte, werden in ihrer Identitätssuche von jener Traditionsorientierung eingeholt, beeinflusst und geprägt, bis hin zur Radikalisierung durch dschihadistische Ideen.

Der Söhnchen-Kult

Innerhalb der islamischen Community, insbesondere in Stadtvierteln mit entsprechend geschlossenen Parallelwelten, werden konfliktträchtige Angelegenheiten intern durch „Friedensrichter“ gemäß den Maßgaben des islamischen Rechts, der Scharia, geregelt, am staatlichen Rechtssystem vorbei. Bei Beziehungsvergehen - gegen die Frau - ergeht der „Rechtsspruch“ oftmals zulasten der Frau und zugunsten des Mannes.

Scharf kritisiert Zana Ramadani die islamischen Verbände, die das bereits bei Mohammed verankerte Gewaltpotenzial leugnen und heutige dschihadistische Anschläge sowie Ideologien stets mit der Floskel abwehren, das alles habe mit dem Islam nichts zu tun. Die Grenze zwischen Islam und Islamismus sei fließend, schreibt die Autorin. Eindrucksvoll belegt sie, wie wenig das Verschleierungsparadigma über Schamhaftigkeit und Keuschheit aussagt, wie sehr es vielmehr das Ergebnis einer hypersexualisierten Fixierung der islamischen Männer-Gesellschaften auf das eine große Ur-Thema aller Kulturen ist. Die Frau muss sich und ihre Reize verstecken, weil der Mann in jedem Nebenmann einen potenziellen Lustmolch wittert, dem man jederzeit zutrauen muss, dass er seine Triebe nicht im Zaum halten kann. Das verheerende Frauenbild, das die Frau zum Nichts erniedrigt, wurzelt demnach in einem verheerenden Bild des Mannes vom Mann als eines allzeit bereiten Eroberers und Unterjochers, ja Vergewaltigers. Im Grunde ist diese extreme Sexualisierung der islamischen Kultur, wie unter anderem der Kult um das Jungfrauenhäutchen zeigt, nichts anderes als ein Spiegelbild der sexualisierten westlichen Kultur.

Sich selbst sehen muslimische Männer als echte, harte Kerle. Zana Ramdani beschreibt als Muslimin, was die westliche Islamkritik kaum zu sagen wagt und was von westlichen Liberalen sowie gutmeinenden Feministinnen stets als rassistisch und islamophob abqualifiziert wird: „Vor allem junge Muslime in Deutschland nehmen Christen nicht ernst. Sie belächeln unsere Diskussionskultur. Die Männer gelten als verweichlicht; sie repräsentieren nicht das, was arabische Machos unter ‚Mann sein‘ verstehen. Das ist ein Ergebnis ihrer Erziehung, die ihnen vermittelt: Respekt vor der Mutter, Respekt vor der guten, ehrbaren Frau, Respekt vor Älteren und anderen Männern ihres Schlages. Ungläubigen schuldet kein Muslim Respekt. Nicht den deutschen Männern, die - so der hämische Hinweis nach den Übergriffen von Köln - nicht in der Lage seien, ihre Frauen zu beschützen. Schon gar nicht Polizei und Gerichten, die zum Unverständnis vieler Muslime generell bei Gewaltdelikten viel zu milde und nachsichtig agieren und urteilen, erst recht wenn nach dem Selbstverständnis der Beteiligten auch ehrverletzende Aspekte eine Rolle spielen. Deutsche Männer sind Weicheier, das ist das Urteil vieler Muslime. Sie befinden sich in einer Art Sinnkrise, wissen die muslimischen Jungs, sie haben sich von den Frauen domestizieren lassen. Die deutschen Männer sind weibisch.“

Und die deutschen Frauen, die sich sexuell oder bloß im Outfit freizügig verhalten, gelten als „Schlampen“, die man als „Freiwild“ benutzen kann. So jedenfalls die Beobachtung der Autorin. Seltsamerweise hätten diese selbstbewussten Muslime, die durch einen Söhnchenkult ihrer Mütter herangezogen wurden, Respekt einzig vor Neonazis. „Politisch werden die Rechtsaußen zwar verachtet, aber dass sie sich noch von männlichen Ur-Instinkten leiten lassen, gefällt. Und weil sie auch die Strafverfolger für Weicheier halten, legen Muslime sich schon mal mit Polizisten an, wenn sie meinen, die Ehre der Familie sei bedroht. Es ist schon bezeichnend, wenn schon Elfjährige Beamten ein ‚Hau ab!‘ zurufen, mit dem Verweis, hier gelten ‚unsere Regeln‘.“

Patchwork zum Nacheifern?

Das alles zu verharmlosen, ignoriert die Realitäten. Eine offene Frage allerdings ist, wie mit Augenmaß, aber auch mit aller Deutlichkeit Errungenschaften unserer einst wesentlich vom Christentum geleiteten Kultur mit ihren säkularen Derivaten durchzusetzen sind, wenn diese hiesige Kultur selber fließt, widersprüchlich ist, nicht mehr weiß, was sie selber leiten soll, wenn grundlegende moralische Gewissheiten infragegestellt, ja freigestellt werden. Gehört, zum Beispiel, die sexuelle Freizügigkeit, von den Medien zur Schau gestellt und bereits Kindern als normal verkündet, auch zur deutschen „Leitkultur“? Gehört dazu, was Zana Ramadani, gepaart mit dem Schlagwort der „sexuellen Selbstbestimmung“, ebenfalls als kulturelle Errungenschaft benennt: „dass Schwangerschaftsabbrüche möglich sind“, dazu „bezahlt von der Krankenkasse“? Ist es schützenswert und richtig, wenn jede dritte bis jede zweite Ehe geschieden wird? Ist die eheliche und damit elterliche Bindungslosigkeit à la Patchwork inzwischen deutsche „Leitkultur“, insgeheim anderen zum Nacheifern empfohlen? Und was ist mit der religiösen Bindungslosigkeit, dem gravierenden Desinteresse am Christentum? Sollen Muslime sich an solcher „Leitkultur“ ein Beispiel nehmen? Ist dann die Integration vollendet?

Die Autorin kritisiert gebildete Musliminnen, die den Schleier, das Kopftuch als Ausdruck ihres persönlichen - auch religiösen - Selbstbewusstseins tragen und verteidigen. Sie wittert darin eine Ablehnung westlicher Gepflogenheiten. Nicht zu Unrecht. Die offene Frage aber bleibt, ob alles, was als westlicher Wert verkündet wird, auch ein Wert ist? Denn neben der Gewinnrechnung unserer Freiheit gibt es auch eine Verlustrechnung. Mit mancher Freiheit kam neue Unfreiheit, Versklavung durch Moden, deren Nachahmung nicht dem Seelenheil des Menschen dient. Der Glaubensverlust gehört dazu.

Das ist der Grund, warum sich selbstbewusste Muslime betont religiös als Kontrastgesellschaft zur deutschen Gesellschaft, als öffentlich erkennbarer Widerspruch gegen das „Laissez faire“, das „Alles geht“, einer Kultur in ihrem liberalistisch-kapitalistischen Selbstbeglückungswahn inszenieren. Unter anderem werden deshalb Nichtmuslime schlichtweg als Ungläubige betrachtet: weil zu viele nichts glauben, jedenfalls den Glauben nicht sichtbar ihr Leben leitend praktizieren. Das ist auch der Grund, warum emanzipierte Musliminnen sich verschleiern, als Signal dafür, anders zu sein als die anderen Frauen, ihnen überlegen, ganz besonders den religionslosen Frauen, die sich emanzipiert dünken, dabei aber - in den Augen jedenfalls der gläubigen Musliminnen - das Wesentliche des Daseins ignorant preisgeben: Gott. Kultur ohne Religion, deutsche „Leitkultur“ ohne Christentum, ohne Gott, nur noch als rhetorischer Stummel in der Präambel der Verfassung? Wovor sollen Muslime, die ihre Identität wesentlich in der Religion suchen, da Respekt haben?

Daher laufen viele Integrationsappelle - ob mit oder ohne Bezug auf „Leitkultur“ - ins Leere. Ein religiös entleerter, rein positivistischer Verfassungspatriotismus, für den die Kirchen nur noch als institutionelles Überbleibsel des Christentums und reduzierte symbolmoralische Instanz herhalten müssen, überzeugt Gläubige nicht und bietet Muslimen, die Wert legen auf ihre reale Leitkultur, keine Plausibilität. Der Staatsrechtler und frühere Bundesverfassungsrichter Udo Di Fabio erklärte bei einer Münchener Tagung anlässlich des neunzigsten Geburtstags des ehemaligen Papstes Joseph Ratzinger, Europa suche derzeit seine „Idee“. Leider seien die historischen, philosophischen und religiösen Wurzeln aus dem Blick geraten. Das trifft entsprechend auch auf Deutschland zu. Der Streit darüber, ob es überhaupt eine leitende Kultur geben kann, ja darf, bestätigt exakt denselben Mangel einer tragenden „Idee“, einer übergreifend sinnstiftenden Haltung als leitend für die bundesrepublikanische Gesellschaft.

Zana Ramadani schreibt: „Wir sollten in Deutschland weniger über Islamkritik streiten, sondern mehr und entschiedener darüber debattieren, was wir von Muslimen erwarten, wenn sie Teil dieser Gesellschaft sein oder werden wollen.“ Das beantwortet jedoch nicht die Frage, wohin sich unsere Kultur entwickeln, was sie leiten soll. Dazu wäre die Herausforderung des Islam in religiöser Hinsicht anzunehmen und wieder über das nachzudenken, was geistig wichtig ist, was uns christlich trägt, leitet, leiten könnte und sollte. Laut Zana Ramadani muss der Islam „zeitgemäß“ sein und reformiert werden. „Nur dann kann diese Religion bei uns eine Zukunft haben.“ Im Wechselspiel der Herausforderungen verlangt das genauso, dem auf den Grund zu gehen, was am ureigenen Christsein zu reformieren wäre, damit dieser Glaube, der sich der Aufklärung, der Entmythologisierung und einer wissenschaftlichen Erkenntnis seit langem ausgesetzt sieht, Zukunft hat: als zeitgemäße Gotteserkenntnis, als gelebte Frömmigkeit. Dem gehen die Kulturdebatten leider aus dem Weg, sogar im kirchlichen Kontext. Ein schwerer Fehler. Denn hier stellt sich die entscheidende offene Frage in einer geistig keineswegs so offenen, vielmehr teilweise recht verschlossenen, je nach Moden stromlinienförmigen Gesellschaft.

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