Christliche FlüchtlingeVertrieben aus dem Orient

Im säkularen Leipzig helfen Christen ihren Glaubensgeschwistern aus Syrien und dem Irak bei der Integration. Erfahrungen und Anregungen.

Ich wäre am liebsten im Erdboden versunken. Es war unerträglich, was die neun­jährige Rafka mir übersetzen muss­te. Ihr Vater Aram, ein christlicher Syrer aus Hassaka, wollte mir unbedingt erzählen, was in einem christlichen Dorf seiner Heimat passiert war. Rafka übersetzte: „Und dann haben die Leute des ‚Islamischen Staats‘ dem Kind den Kopf abgeschnitten.“ Einen solchen Satz aus dem Mund eines neunjährigen Mädchens hören zu müssen, war für mich kaum auszuhalten.

Seit einigen Monaten habe ich Kontakt zu christlichen Flüchtlingen aus dem Irak und aus Syrien. Ich möchte zum Engagement für diese Christen ermutigen.

Seit den Anfängen unserer Religion sind Christen im Orient beheimatet und werden seit Jahrhunderten diskriminiert und bisweilen brutal verfolgt. Charles de Foucauld, Gründer der Gemeinschaft der „Kleinen Brüder vom Evangelium“, berichtet 1896 von einem Massaker, bei dem auf Befehl des Sultans von Istanbul etwa 140000 Christen in Syrien umgebracht wurden. 1915 wurden neben den Armeniern auch viele syrische Christen aus der Türkei vertrieben und ermordet. Unter den „säkularen“ Diktatoren Saddam Hussein oder Hafiz al-Assad, die in vielem eine menschenverachtende Politik betrieben, konnte die christliche Minderheit in relativer Freiheit leben. Durch den radikalisierten Islam, der eine Vielzahl internationaler Dschihadisten rekrutieren konnte, sind die Christen des Irak und Syriens jedoch einer neuen Verfolgungswelle ausgesetzt. Sie werden vor allem seit dem amerikanischen Einmarsch in den Irak 2003 auch als Verbündete des?- angeblich christlichen?- Westens betrachtet und von der Terrormiliz „Islamischer Staat“ systematisch vertrieben, versklavt oder getötet.

Fatwa, Flucht, Beschuss

Hinzu kommt, dass 2012 der sunnitische Großmufti von Saudi-Arabien, Scheich Abdul Asis bin Abdullah, ein Rechtsgutachten, eine Fatwa, erlassen hat, in der er dazu aufforderte, sämtliche Kirchen auf der Arabischen Halbinsel (also auch in Syrien und im Irak!) zu zerstören. Im selben Jahr erließ der schiitische Großayatollah des Irak, Ali al-Sistani, eine Fatwa, in der er die Christen des Landes aufforderte, zum Islam überzutreten, und sie andernfalls für todeswürdig erklärte. Durch solche Lehräußerungen werden der Terror gegen die Christen und ihre endgültige Vertreibung von höchsten muslimischen Autoritäten gerechtfertigt.

Aufmerksam wurde ich auf die aus Syrien geflüchteten Familien durch einen Mann, den ich vorher noch nie im Gottesdienst unserer Pfarrgemeinde gesehen hatte. Ich sprach ihn an und erfuhr von seiner Herkunft und seinem Schicksal. Über ihn lernte ich auch andere christliche Flüchtlinge kennen. Inzwischen stehe ich mit sechs Familien in Verbindung, die in unserem Stadtviertel Leipzig-Grünau untergekommen sind.

Es hat mich sehr bewegt, Flüchtlingen zu begegnen, die aufgrund ihres christlichen Glaubens schon seit Generationen verfolgt werden. Sie erzählten von ihren Urgroßeltern, die von den Türken vertrieben oder umgebracht worden waren. Und jetzt, im 21. Jahrhundert, werden die Christen in den orientalischen Ursprungsländern vielleicht endgültig ausgerottet.

Manche der Familien aus dem Irak und aus Syrien sind auf abenteuerliche Weise über Afrika geflüchtet. Bei uns findet sich eine Frau mit drei Kindern, deren Mann durch Granatenbeschuss des Christenviertels in Aleppo umgekommen ist. Die Trinitatis-Schwestern, eine evangelische Ordensgemeinschaft, hatten sie und ihre Angehörigen aufgenommen. In ihrer Wohnung stehen zwei schwarz umrandete Fotos. Sie zeigen Abdalmassih, was übersetzt „Diener Christi“ bedeutet, und dessen Cousin, der ebenfalls der Gewalt der Terrormiliz zum Opfer gefallen ist. Eine Trinitatis-Schwester erzählte mir, dass die Kinder anfänglich immer ängstlich zusammenzuckten, wenn ein Flugzeug oder ein Hubschrauber am Himmel zu hören war. Viele Monate lang war das Herannahen eines Flugzeugs für die Kinder das Signal gewesen, dass Fassbomben abgeworfen werden, die ganze Häuserblocks wegreißen. Jetzt können sich die Seelen dieser Kinder langsam beruhigen. Zugleich ist bei diesen Familien auch der Schmerz zu spüren, dass immer noch nahe Angehörige in Syrien oder in Flüchtlingslagern im Libanon leben. Leider ist noch kein neues Aufnahmeprogramm der Bundesregierung in Aussicht, das die brutal verfolgten christlichen und jesidischen Minderheiten besonders berücksichtigt.

Ökumenisch helfen und feiern

Was in Leipzig ohnehin wichtig ist, also dass Christen als kleine Minderheit ökumenisch eng zusammenarbeiten, wird in dieser Notsituation zur Chance: Katholische, evangelische und syrisch-orthodoxe Christen entdecken und leben das Verbindende ihres Glaubens. Beim Friedensgebet in der Nicolai-Kirche wurde auf die Not der syrisch-orthodoxen Christen aufmerksam gemacht - und in der Kollekte für sie gesammelt. Die christliche Ökumene müsste insgesamt viel mehr zusammenrücken, um ihren durch den radikalen Islam bedrohten Geschwistern solidarisch beizustehen. Angesichts einer immer brutaleren Gewalt, die angeblich im Namen Gottes ausgeübt wird, wäre es wichtig, das Evangelium und seine friedensstiftende Kraft mit einer Stimme zu verkünden.

Ob die orientalischen Christen bei uns strukturell als Kirche (über)leben können, steht infrage. Aber es ist wohl das Gebot der Stunde, diesen Christen in unseren Pfarrgemeinden Heimat zu schenken. Das beginnt bei der konkreten Hilfe für Wohnungssuche oder Behördengänge. Beim Ausfüllen eines Formulars, das Aram vom Job-Center zugeschickt worden war, stieß ich allerdings an meine sprachlichen Grenzen. Glücklicherweise konnte uns ein befreundeter Steuerberater, der den Fachjargon der Bürokratie besser beherrschte, weiterhelfen. In diesem Zusammenhang möchte ich betonen, dass ich etwa bei der Ausländerbehörde eine große Hilfsbereitschaft und Kompetenz erfahren durfte.

Allerdings ist auch Gleichgültigkeit zu erleben. Ich lernte zwei Mädchen aus dem Irak kennen, deren Spracherwerb in der Schule anscheinend überhaupt nicht gefördert wurde. Über lange Zeit hat sich niemand um diese Familie gekümmert. Als ich im Freundeskreis davon erzählte, hat sich eine Frau, die eine Tochter etwa im Alter der beiden irakischen Mädchen hat, spontan dazu bereit erklärt, diese Kinder zu sich nach Hause einzuladen. So können jetzt Kontakte und vielleicht sogar Freundschaften entstehen.

Was das Erlernen der deutschen Sprache anbelangt, so staune ich, mit welchem Eifer sich viele der christlichen Flüchtlinge darum bemühen. Ein 75-jähriger Architekt, der im Irak unter anderem zehn Kirchen gebaut hat (sie sind inzwischen alle zerstört!), trifft sich regelmäßig mit einem Arzt der Gemeinde, um seine Deutschkenntnisse weiter zu verbessern.

Wichtig ist weiterhin, die Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak auch zu den Gottesdiensten und Festen der Pfarrei einzuladen und sie je nach Alter in die verschiedenen Gruppen?- etwa bei den Ministranten?- zu integrieren. Besonders die Kinder brauchen eine gute Aufnahme, damit sie in unserer säkularen Gesellschaft das Erbe ihres Glaubens nicht verlieren. Daher habe ich Kontakt mit dem katholischen Maria-Montessori-Schulzentrum von Leipzig aufgenommen. Die Schulleitung zeigt sich hilfsbereit. Und so können dort derzeit ein gutes Dutzend christliche Flüchtlingskinder integriert werden. Sie erhalten die Möglichkeit, auch kirchlich eine Heimat zu finden - und untereinander in Kontakt zu bleiben. Wäre es nicht eine Chance für viele kirchliche Schulen, ganz bewusst christliche Kinder aus Syrien und dem Irak aufzunehmen?

Tröster Aram

Derzeit bemühen sich einige syrische Christen in Leipzig darum, eine eigene Gemeinde zu gründen. Dazu braucht es die Unterstützung der örtlichen Pfarrgemeinden, die ihnen Räume für Gottesdienst und Treffen zur Verfügung stellen. Auch diese Bereitschaft einiger Pfarreien in Leipzig ist ein wichtiger Beitrag, um den vertriebenen Christen aus dem Orient eine Möglichkeit zu bieten, den Glauben, aufgrund dessen sie ja vertrieben wurden, hier zu leben und ihre Traditionen zu bewahren. Umgekehrt können wir von ihnen wohl lernen, wie christliche Gemeinschaft in einer Minderheitensituation über Jahrhunderte bestehen und lebendig bleiben kann. Jedenfalls ist es ein österliches Zeichen, dass sich die vertriebenen Christen trotz einer extremen Dia­spora-Situation wieder neu zu sammeln versuchen. Vor kurzem wurde in Thüringen, wo evangelische und katholische Christen auch nur eine kleine Minderheit in der Bevölkerung stellen, sogar ein syrisch-orthodoxes Kloster gegründet.

Ich bin durch die zahlreichen Kontakte mit den sechs Familien, die ich in der Zwischenzeit kennenlernen durfte, bereichert: vor allem durch die Gastfreundschaft und Fröhlichkeit, die sie sich - nach all den schweren Erfahrungen von Krieg und Verfolgung - dennoch bewahrt und die sie mitgebracht haben. Berührt bin ich auch von ihrer tiefen Gläubigkeit. Aus Treue zu ihrem Glauben haben sie vielerlei Schikanen erleiden und schließlich sogar ihre Heimat aufgeben müssen. Freunde und Verwandte haben ihr Bekenntnis zum Christentum mit dem Leben bezahlt. Ich frage mich manchmal, was ich selbst für meinen Glauben zu riskieren bereit wäre. Könnte ich - ähnlich wie sie - nach all dem Erlittenen bei einem Treffen sagen: Meine wichtigste Bibelstelle ist die Einladung, das Böse nicht nachzutragen? Oder: Wenn ein Glied am Leib Christi leidet, dann leiden alle mit?

Vor einigen Wochen nahm ich Aram zur Begegnung mit einer Gruppe in Leipzig mit. Er verstand zwar noch kaum die deutsche Sprache, aber ich wollte ihm die Gelegenheit zum Kennenlernen anderer Leute geben. Bei der Verabschiedung begann eine Frau, aufgrund einer persönlichen Geschichte heftig zu weinen. Wir standen alle hilflos da. Aber Aram, der nicht verstanden hatte, worum es geht, ging spontan auf diese Frau zu und wischte ihr die Tränen aus dem Gesicht. Diese menschliche Geste, zu der ich selbst nicht fähig war, hat mich berührt. Mein Engagement für die Flüchtlinge hat mich manches gekostet. Aber noch viel mehr bin ich beschenkt worden.

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