InternetDigitale Welten

Hat Facebook die Arabellion überhaupt erst ermöglicht? Oder ist die weltweite Vernetzung der digitalen Kommunikation die größte Gefahr für die Freiheit des Individuums - durch Überwachung und Bevormundung? An den modernen IT-Welten scheiden sich die Geister.

Menschen eilen durch eine Einkaufshalle. Auch wenn sie nebeneinander laufen, ist ihr Blick starr auf das Smartphone oder den Tablet-Computer in ihrer Hand gerichtet. Über ihren Köpfen eingeblendet sieht der Kinozuschauer - ähnlich wie in einem Comic - die Mails, die sie checken, die Internetseiten, die sie ansurfen, oder die digitalen Pinnwände der sozialen Netzwerke, über die sie virtuell-real mit ihren körperlich gerade nicht anwesenden Freunden verbunden sind. „#Zeitgeist - von digitaler Nähe und sozialer Entfremdung“ lautet der deutsche Titel des Films von Jason Reitman, der Mitte Dezember in die Kinos kommt. Der Trailer gibt bereits jetzt einen Vorgeschmack darauf, für wie einschneidend der Regisseur die Folgen der sich ausbreitenden Internet-Kommunikation hält.

Galt das weltweite Netz nicht immer als Beziehungsstifter und -bewahrer über alle Grenzen hinweg? Mit Freunden Kontakt zu halten, die man im Urlaub, beim Schüleraustausch, auf Geschäftsreise oder während des Auslandsaufenthalts kennenlernt, ist heute dank der sozialen Netzwerke wie Facebook oder der kostenlosen Internet-Telefonie via Skype ein Kinderspiel. Faktenwissen lässt sich jederzeit und überall abrufen. Nachrichten können sich über die Grenzen von Ländern und Kontinenten hinweg sekundenschnell ausbreiten. Haben es die sozialen Netzwerke der arabischen Jugend nicht erst ermöglicht, gegen die vom Westen gestützten Diktatoren und für eine demokratische Gesellschaft auf die Straßen und Plätze zu gehen?

„Beim Arabischen Frühling wird bis heute die Rolle der sozialen Netzwerke überhöht.“ Davon ist die Hildesheimer Politikwissenschaftlerin Marianne Kneuer überzeugt. In der ersten Euphorie galt Facebook geradezu als Heils- und Demokratiebringer bei den Aufständen in Tunesien, Libyen, Ägypten oder Syrien. In ihrem Artikel in der „Süddeutschen Zeitung“ leugnet Marianne Kneuer keineswegs den Beitrag der Netzwerke zur Organisation der Protestwelle, überbewertet ihn aber auch nicht. Das Internet sei „eine zentrale Plattform für die Koordination der Proteste, die Mobilisierung der Demonstranten, für ihren Austausch untereinander“ gewesen. Doch die Hoffnung auf eine durch die sozialen Netzwerke ausgelöste Demokratisierung hätte sich nicht erfüllt. „Der Aufbau demokratischer Institutionen geschieht nun einmal nicht virtuell.“

Das „E-Tüpfelchen“

Auch der Eindruck, die Kommunikation im Internet habe das Übergreifen der Rebellionen beschleunigt, ist für Kneuer lediglich dem kurzen medialen Gedächtnis geschuldet. „Vom Fall der Mauer bis zum Ende des Jahres 1989 brachen fünf kommunistische Regime zusammen - kaum langsamer also als die Arabellion, wenngleich erfolgreicher und ohne Internet. Grenzüberschreitende Ansteckungsprozesse sind nichts Neues“, stellt die Politologin fest.

Recht kurzschlüssig würden auch die Proteste der sogenannten Occupy-Bewegung als erfolgreiche globale Reaktion im Internet auf die weltweite Banken- und Finanzkrise bewertet. Der Protest „Occupy Wall Street“, also der Aufruf, die New Yorker Börse zu besetzen, hatte sich 2011 auch nach Europa und in andere Länder ausgebreitet. Doch das Organisieren der Proteste über die elektronischen Medien bedeutete noch keinen vertieften politischen Dialog über die Probleme und Lösungsmöglichkeiten. Das Forschungsprojekt „Globale Krisen, nationale Proteste“ der Universität Hildesheim hat die Kommunikation über das soziale Netzwerk „Facebook“ und den Kurznachrichtendienst „Twitter“ bei insgesamt fünf Protestbewegungen genauer untersucht: die spanische „Democracia Real Ya“ (Echte Demokratie jetzt), die portugiesische „Geração à Rasca“ (Verlorene Generation) und drei „Occupy“-Bewegungen in New York, London und Frankfurt am Main. Das Ergebnis: Die erhoffte und teils behauptete transnationale Kommunikation blieb im weltweiten Netz weitgehend aus. „Zwar waren die einzelnen Bewegungen untereinander vernetzt, haben sich gegenseitig wahrgenommen und ausgetauscht - dennoch bezogen sich die Beiträge in Wort, Bild und Link meist auf nationale Kontexte. Globale Akteure oder Themen wurden dagegen kaum angesprochen“, so Marianne Kneuer. Eine weltweite Bürgerbewegung als Gegenüber einer globalisierten Wirtschaft haben also auch die sozialen Netzwerke bisher nicht erschaffen. „Die Adressaten und Gesprächspartner der Akteure in Politik und Wirtschaft bleiben die Bürger und Aktivisten im eigenen Land. Zumindest noch“, folgert die Politikwissenschaftlerin.

Doch nicht nur global, sondern auch lokal erhoffen sich manche mehr Demokratisierung und Bürgerbeteiligung mit Hilfe von Facebook & Co., etwa bei strittigen Bauvorhaben oder der Aufstellung des kommunalen Haushalts. Digitale Beteiligungsverfahren sind jedoch „nicht per se besser oder erfolgreicher als analoge“, stellt Lena-Sophie Müller fest, Geschäftsführerin der „Initiative D21“, eines politisch-wirtschaftlichen Netzwerks für die digitale Gesellschaft. Entscheidend sei, dass die Bürger von Beteiligungsverfahren überhaupt erfahren und dass sie das Thema für so brennend halten, dass sie sich auch einbringen. „Wer über E-Partizipation (elektronische Beteiligung; d. Red.) nachdenkt, muss die Partizipation im Allgemeinen betrachten - das ‚E‘ ist nur das ‚Tüpfelchen‘ obendrauf“, so Lena-Sophie Müller in der Zeitschrift „Die politische Meinung“.

„Isis“ mit Internet

Spielt das relativ „neue“ Medium Internet womöglich gar keine so weltverändernde Rolle, wie häufig angenommen wird? Alles nur Propaganda der IT-Konzerne, die vom digitalen Hype profitieren? Der neue Direktor des britischen Geheimdienstes GCHQ (Government Communications Headquarters - Kommunikationszentrale der Regierung) Robert Hannigan beklagt, dass die Terrormilizen des „Islamischen Staats im Irak und in Groß-Syrien“ das Internet längst als - weltweite - Kommando-, Propaganda- und Rekru­tierungszentrale nutzen. Die Macht des Internets schaffe „eine djihadistische Bedrohung mit nahezu globaler Reichweite“, so Hannigan in der „Financial Times“. Er beschreibt eine geradezu virtuos auf der Klaviatur sozialer Netzkommunikation spielende Terrororganisation. „Isis“ verbreite seine Botschaften in einer Sprache, welche die mit dem Internet aufgewachsenen jungen Leute verstehen - auf Facebook, Twitter und WhatsApp, womit kostenlos Text-, Bild- und Videonachrichten verbreitet werden. Bei einigen jungen Leuten werde so das Bedürfnis geweckt dazuzugehören, als Dschihadist mit dabei zu sein. Ist also das, was im Guten nicht so recht gelingen will, die globale Vernetzung und lokale Beteiligung einer aufgeklärten, sich für Freiheit und Demokratie einsetzenden Bürgergesellschaft, im Bösen - dank entsprechender Verführungskunst - längst Wirklichkeit?

Hannigan fordert die großen - amerikanischen - Internetfirmen auf, stärker mit den Geheimdiensten zusammenzuarbeiten. Dies werde bei den Nutzern auf Verständnis stoßen, wollten diese doch keineswegs, dass die Medienplattform, auf der sie sich mit ihren Freunden und Familienmitgliedern austauschen, Terror, Mord oder Kindesmissbrauch erleichtert. „Sie wissen, dass das Internet aus den Werten der westlichen Demokratie entstanden ist.“ Deshalb fordert Hannigan einen „New Deal“ zwischen demokratischen Regierungen und den Technologieunternehmen, um die Bürger zu schützen.

Wer ordnet und stiftet Sinn?

Doch viele beschleicht ein Unbehagen, wenn sie an die zahlreichen persönlichen, ja intimen Daten denken, die sie im weltweiten Netz hinterlassen. Hinzu kommen Berichte, die den Eindruck nähren, dass es für die Geheimdienste ein Leichtes ist, mit oder ohne Billigung der Internet-Giganten des Silicon Valley und der Telekommunika­tions­branche die Daten von Bürgern, Regierungen und Unternehmen anzuzapfen und jeden auszuspähen. Neulich haben Journalisten aufgedeckt, dass ein britisches Telekommunikationsunternehmen mit den Geheimdiensten zusammengearbeitet hat. Wird der Überwachungsstaat Wirklichkeit?

Der Literaturwissenschaftler und Bibliothekar Uwe Jochum befürchtet: „Am Ende aber, wenn der lebendige Mensch mit seinem Wissen digital aufgesaugt und nachgebaut sein wird, steht kein Reich der Freiheit, sondern der von Algorithmen gesteuerte insektenhafte Plan- und Überwachungsstaat.“ Die Ursache dafür sieht er nicht in einer terroristischen Bedrohung oder in der Datensammelwut von Regierungen und Geheimdiensten, sondern in der digitalen Kommunikation selbst. In seinem Buch „Medienkörper. Wandmedien - Handmedien - Digitalia“ (Göttingen 2014) beschreibt er das Internet als ein Medium, in dem alles höchst flüchtig ist. Alles steht zusammenhanglos, ungeordnet nebeneinander, ohne Gewichtung. Der Autor und sein geistiges Eigentum zählen nichts mehr. Für Jochum steht fest: „Was immer man damit erreichen wird, es wird nicht das sein, was wir als Kultur kennengelernt haben…“

Er holt weit aus, um zu veranschaulichen, was er unter dieser im Schwinden begriffenen Kultur versteht. Vor 40 000 bis 35 000 Jahren habe sich eine „kulturelle Explosion“ ereignet, als der moderne Mensch begann, Werkzeuge kunstvoll zu gestalten und vor allem Höhlen mit Bildern auszumalen. Dabei handle es sich nicht allein um Höhlen„malerei“, sondern um den Anfang der Mediengeschichte, weil „der Mensch durch den Zeichengebrauch sein Verhältnis zu sich selbst, zu anderen und zu seiner Welt ganz explizit zum Ausdruck bringt“. Die große Zahl und der Aufwand hätten nur Sinn, „wenn man damit das, was zu sehen war und ist, anderen mitteilen wollte“.

War die Kultur in den Zeiten dieser „Wandmedien“ an den konkreten Ort der Höhlenwand gebunden, überwand das Auftauchen der „Handmedien“ diese starre Bindung. Tontäfelchen, Schriftrollen und Bücher verfügen über eine beliebige Reichweite: „So weit man Handmedien tragen kann, so weit trägt die mit ihnen transportierte Kultur. Es ist mit Sicherheit kein Zufall, dass die ersten Hochkulturen imperiale Kulturen waren, denen es nicht zuletzt dank der Handmedien gelang, die unterworfenen Völker zu kontrollieren und kulturell zu durchdringen“, erläutert Jochum.

Bibliotheken begrenzen diese Universalität und bewahren die kulturelle Vielfalt. Zudem erlangt der Name des einzelnen Verfassers der Texte große Bedeutung, wie sich an der Bibliothek von Alexandria zur Zeit der griechischen Herrschaft unter den Ptolemäern (323-31 v.Chr.) zeigt. Dort „geht es wirklich darum, die textuellen Besitzansprüche von Autoren zu sichern (‚mein Werk‘), indem professionelle Philologen diese Besitzansprüche nachweisen und in Katalogen, aber auch in maßgeblichen Textausgaben dokumentieren (‚mein Katalog‘, ‚meine Edition‘), sodass zuletzt der jeweilige ptolemäische König für das Gesamt der auf diese Weise gesicherten Überlieferung die Verantwortung übernehmen kann (‚meine Bibliothek‘).“ Eine entscheidende Rolle spielt in der folgenden Entwicklung das Christentum, steht doch „im Zentrum der christlichen Texte der Name des Herrn, der Gottesname“, wobei sich das „Evangelium als eine Botschaft des einen Herrn nur in den individuellen Texten der vielen Verkünder entfalten kann“, schreibt Jochum. Bleibende Aufgabe: „hinter der Vielheit der Texte den einen Herrn zu finden“.

Bücher stehen in einer Bibliothek geordnet in einem bestimmten Zusammenhang. Um ihre Bedeutung zu behalten oder wiederzugewinnen, bedarf es der Einordnung in ihre ursprünglichen geschichtlichen Kontexte. Und ein Autor steht als Verantwortlicher für den Inhalt ein. An ihre Stelle tritt nun im Zeitalter der Digitalia das „Große Eine Netz…, das nur noch dem Modus von Bildschirmanzeigen gehorcht, die immer anders und immer neu sein mögen, sich aber niemals zu einer begreifbaren Welt stabilisieren werden“. Die Kultur des Studierens wird ersetzt durch eine Kultur des Kopierens und Neu-Zusammensetzens von Texten aus dem Ozean der Daten. Der Autor wird abgelöst vom Nutzer, der auf seine Klicks hin und vermittelt durch undurchschaubare Algorithmen sieht, was er vermeintlich sehen will beziehungsweise was die verantwortlichen Firmen und Programmierer mit ihren Rechenprogrammen ihn sehen lassen.

Steht am Ende der digitalen Revolution die Auflösung des einzelnen Individuums, seiner Unverwechselbarkeit, ja seiner Freiheit ins Beliebige? Jochum ist zuzustimmen, dass sich Medien nicht neutral zum transportierten Inhalt verhalten. Während er aber in der Entstehung von Wand- und Handmedien die Bedingung der Möglichkeit von Kultur sieht, bleibt den Digitalia seiner Meinung nach nur die Rolle eines Totengräbers. Dabei war schon das Ziel der Handmedien, wie er selbst schreibt, „so etwas wie eine planetare Einheitskultur, die alle vorhandenen lokalen Traditionen in sich aufgenommen hätte und medial an jedem Ort zu jeder Zeit verfügbar machte“. Dass die Vielfalt geistigen Schaffens und ihre Urheber dennoch bewahrt und eben nicht einem alles beherrschenden Mainstream geopfert wurden, ist Jochum zufolge das Verdienst der Bibliotheken und derer, die diese Archive wissenschaftlich aufarbeiten. Sie sichern die Werke und ihre Autoren, stellen sie in den größeren zeitgeschichtlichen Zusammenhang, erläutern den Kontext der Entstehung und gewichten, ohne alles einzuebnen.

Gesucht: Echte Freunde

Wieso soll aber eine vergleichbare Entwicklung in der Internet-Kommunikation nicht möglich sein? Wer verlässliche Informationen sucht, wählt die Seiten etablierter Tages- und Wochenzeitungen, die von der Seriosität ihrer gedruckten Ausgabe profitieren. Aber auch die Bedeutung des individuellen Autors und seiner Autorität wird im Internet stärker betont. Augenfällig etwa beim „Spiegel“. Waren bisher nur die Autoren der gedruckten Ausgabe und nicht die von Spiegel Online namentlich genannt, sind inzwischen auch dessen Korrespondenten und Kommentatoren mit Bild auf der Internetseite zu sehen. Doch nicht nur der Wunsch nach einem Autor, der Verantwortung übernimmt und für Verlässlichkeit steht, wächst, sondern auch der nach Einordnung. Die Internet-Enzyklopädie Wikipedia kennzeichnet längst Beiträge, deren Inhalt fragwürdig ist oder ominös zustande gekommen ist. Auch die Anonymität, in der sich der Einzelne aufzulösen schien, nimmt ab. Wurde früher in Chat­rooms (Internet-Gesprächsforen) unter Pseudonym über andere hergezogen, gibt man bei Facebook oder WhatsApp seinen „echten“ Namen an. Man will von seinen Freunden gefunden werden, denen man in den meisten Fällen bereits körperlich begegnet ist. So wie die Menschen sowohl in der real-realen wie in der virtuell-realen Welt handeln, so kann auch das Buch neben dem Internet weiter bestehen, weil eben jedes Medium seine Besonderheiten, seine Vorteile hat. Das gilt auch für die Wandmedien, die als Kunst an Kirchen- und Hauswänden nach wie vor existieren.

Fehlende rechtliche Regelungen, mangelnde Transparenz oder das Monopol einiger weniger IT-Giganten, die wie im Fall von „Google“ filtern, was wir sehen - diese Probleme werden durch die Schnelligkeit und Unübersichtlichkeit des Internets gewiss verstärkt. Doch wie bei jeder vorangegangenen medialen Revolution werden die neuen Möglichkeiten auch sinnvoll genutzt. Menschliches Leben war und ist stets ein Entwicklungsprozess - auch in der Kommunikation. Heute ist es nicht anders als in der vermeintlich „guten alten Zeit“. Der Mensch ist und war in der Mediengeschichte immer Treiber und Getriebener zugleich.

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