Christen im Nahen OstenChrist sein in Betlehem

Christen spielen in der islamischen Welt eine immer geringere Rolle. Im Raum Betlehem leben sie immerhin in Koexistenz mit ihrer islamischen Umgebung, die allerdings brüchig und an viele Bedingungen geknüpft ist.

Um 1900 waren noch etwa dreißig Prozent der Palästinenser Christen. Auch wenn die absolute Zahl kaum gesunken ist, stellen sie heute in den palästinensischen Gebieten nur noch 1,37 Prozent der Bevölkerung. Damit verbunden ist ein massiver Einflussverlust. In dem einstmals christlich geprägten Betlehem ist der Anteil der Christen von bis zu 80 auf 28,2 Prozent zurückgegangen. Im gesamten Betlehem-Distrikt, der die Flüchtlingslager mit einbezieht, sind nur noch 12,7 Prozent der Bevölkerung Christen. Diese Zahlen erklären sich nicht einfach aus der „israelischen Besatzung“. Sie sind vielmehr im Rahmen des Auszugs der Christenheit aus dem Nahen Osten zu sehen. Im einstmals christlichen Libanon sind die 84 Prozent Christen von 1926 auf heute nur noch 30,3 Prozent geschrumpft. Christen leben heute schon wieder in einem inneren Kulturkampf.

In Betlehem spiegelt sich noch die Vielfalt des Christentums: orientalisch orthodoxe Kirchen wie Armenier, Syrier, Kopten und Äthiopier, katholische Kirchen des Ostens wie Maroniten, Melikiten, Chaldäer sowie Lateiner und verschiedene evangelische Kirchen und freikirchliche Vereinigungen. Trotz der Zersplitterung und einer oft mangelnden Solidarität untereinander, leben die christlichen Kirchen nebeneinander. Auch in der Geburtskirche in Betlehem und in der Grabeskirche in Jerusalem haben sie gelernt, sich gegenseitig zu ertragen.

Brüchiges Nebeneinander

Solange in der islamischen Welt nicht einmal die beiden großen Glaubensrichtungen der Schiiten und Sunniten einander integrieren, sollte man nicht allzu sehr auf ein Einbeziehen von Judentum oder Christentum hoffen. Juden und Christen sind nach dem Koran Empfänger der biblischen Offenbarung, die sich nicht entschließen konnten, die endgültige Offenbarung anzunehmen. Im Koran wird ihnen keine Hoffnung auf Integration gemacht. Sie sind den Muslimen nicht ganz fremd, haben aber keine volle Gemeinschaft mit ihnen. „O ihr, die ihr glaubt, nehmt euch nicht die Juden und die Christen zu Freunden. Sie sind untereinander Freunde. Wer von euch sie zu Freunden nimmt, gehört zu ihnen …“, heißt es in der Sure 5,51.

Diese halbe Anerkennung durchzieht das Verhältnis des Islam zu den „Schriftgläubigen“ und ermöglicht eine Doppelstrategie von Distanz und Ausnutzung. Als „Schutzbefohlene“ wurden ihnen Sondersteuern auferlegt, und heute gelten christliche Länder als attraktive Einwanderungsziele. Muslime dürfen christliche Frauen heiraten, die Kinder sind Muslime. Umgekehrt ist muslimischen Frauen das Heiraten über Religionsgrenzen hinweg untersagt. Das heutige Verhältnis zwischen christlichen und muslimischen Palästinensern spiegelt die koranischen Vorgaben wider. Dies ist für uns erstaunlich, weil wir nicht mehr gewohnt sind, dass religiöse Texte tatsächlich gelten. In Palästina gilt in den Personenstandsfragen unterschiedliches Recht für die Religionsgemeinschaften. Im Konfliktfall bei Scheidungen und dem Sorgerecht für die Kinder erhält das islamische Recht immer Vorrang. Erst ein Übertritt zum Islam verschafft Christen die Vorteile des islamischen Rechts.

Das Nebeneinander von Christentum und Islam in Betlehem kennt seine eigenen Spielregeln. Die in Europa beliebten interreligiösen Dialoge spielen nur eine Rolle, wenn sie von außen bezahlt und angeregt werden. Der in Europa allgegenwärtige Integrationsbegriff wird nirgends gebraucht. Immerhin leben Christen und Muslime seit Jahrhunderten nach eingespielten Regeln schiedlich nebeneinander. Über die Bedingungen lässt sich verhandeln, wenn die Christen etwas in die Waagschale zu werfen haben. Die Christen von Betlehem haben dies, die Christen im Gaza-Streifen nicht. Dort leben weniger als 3000 Christen unter 1,5 Millionen Mus­limen. Die Regierung der ­Hamas verfügte umfangreiche Islamisierungsmaßnahmen. Schon die Schulkinder werden auf ihren Kurs eingeschworen. Auch christliche Mädchen müssen an öffentlichen Schulen islamische Kleidung tragen.

Den Christen im Westjordanland und besonders in Betlehem geht es da besser. Pilger aus aller Welt, zahlreiche Hotels und christliche Organisationen bieten auch den Muslimen Einkommen. Christen machen sich in Betlehem nützlich und werden mit Toleranz und Respekt belohnt. Sie prägen das Sozial- und Bildungswesen. Im Westjordanland sind 41 Prozent der sozialen Einrichtungen und 38 Prozent der Schulen in christlicher Trägerschaft.

Dass Christen dennoch abwandern, hat wirtschaftliche, gesellschaftliche und persönliche Ursachen, die ineinander übergehen. Christliche Frauen fühlen sich schon aufgrund des schwindenden Heiratsmarktes und der Re-Islamisierung der Kleiderordnung in einer zunehmend islamischen Ordnung fremd. Die bessere Ausbildung der Christen, die eigentlich ihrer Stellung in Palästina dienen sollte, erleichtert auch ihre Auswanderung. Schließlich schwebt die Drohung gewaltsamer Übergriffe wie ein Damoklesschwert über ihnen.

Nur wer sich anpasst…

Viele Zuwanderer aus dem streng islamischen Hebron verhalten sich gegenüber den Christen in Betlehem abwertend und aggressiv. Sie wollen Eroberern gleich Betlehem kontrollieren. Eine wichtige Ursache für diese Herrschaftsansprüche ist die religiös motivierte Missachtung.

Nur wer sich anpasst, kann auf Duldung hoffen. Die zahlreicher werdenden evangelikalen Christen im Heiligen Land gelten dagegen als Eindringlinge. Nicht nur Konvertiten, die zum Christentum übertreten, sondern auch ihre Missionare werden mit dem Tod bedroht. Während die traditionellen Kirchen eine Art Bestandsschutz genießen, können die Evangelikalen darauf nicht vertrauen. Einer ihrer Pastoren im Raum Betlehem erhält ständig Morddrohungen.

Generell erfolgt die zunehmende Christenverfolgung weniger durch die Staaten als durch islamistische Bewegungen, vor denen die Regierungen aber keinen Schutz gewähren. Die Christen im Irak und in Syrien sind zwischen die schiitischen und sunnitischen Fronten geraten. Im wieder säkular regierten Ägypten ist selbst die Militärregierung nicht in der Lage, sie vor Extremisten zu schützen. Auf westliche Hilfe durften sie bisher nicht hoffen, weil der Westen sich ideologisch auf die Förderung „der Demokratie“ verlegt hat. Diese geht im Nahen Osten aber keineswegs mit Minderheitenschutz einher.

Während sich Russland um die orthodoxen Christen Syriens sorgt und ihnen die russische Staatsbürgerschaft anbietet, unterstützt der Westen dort eher die islamistischen Rebellen, in der naiven Annahme, Kämpfer gegen einen Diktator seien automatisch schon Demokraten. Die Demokratie ist jedoch ein Dach. Deshalb sollte zuvor das Gebäude errichtet werden. Bevor nicht die Stockwerke Bildung und Ausbildung, Zivilgesellschaft, gute Verwaltung und Wirtschaft errichtet sind, gefährden demokratisch motivierte Interventionen sogar die Christen.

Beschwichtigungsrituale

In Betlehem ist es in Alltagskonflikten zwischen einem Muslim und einem Christen für Muslime selbstverständlich, den Muslim zu unterstützen, unbeschadet des Sachverhalts. Unter den Christen gibt es jedoch keinen vergleichbaren Zusammenhalt. Sie sind in der Defensive und vermeiden öffentliche Kritik sowie wehrhaftes Auftreten. An der Entchristianisierung Betlehems ändert auch die Proporzregelung nichts, wonach der Bürgermeister immer ein Christ zu sein hat - seit 2012 eine Bürgermeisterin. Ohne eigene Mehrheit ist sie aber ganz von der Autonomiebehörde in Ramallah abhängig.

Umso erstaunlicher ist es, wie oft einem in Betlehem versichert wird, dass es keine nennenswerten Probleme im Verhältnis von Christen und Muslimen gibt. Säkular und national gesonnene Palästinenser sehen die Feindschaft zu Israel als vorrangig an und wollen von religiösen Konflikten nichts wissen. Im akademischen Bereich begegnen einem oft säkulare Muslime, die sich demonstrativ nicht für religiöse Unterschiede interessieren. Für sie gilt die mangelnde palästinensische Staatlichkeit als Grund für die anhaltende Auswanderung.

Die christlichen Kirchenfunktionäre neigen zur Verharmlosung in der berechtigten Angst, dass durch eine Dramatisierung ihre Mitglieder noch schneller davonlaufen. Sie fühlen sich oft interreligiösen Hoffnungen verpflichtet. Auf Tagungen versichern sie sich mit muslimischen Kollegen ihrer gegenseitigen Toleranz.

Lediglich in persönlichen Gesprächen unter vier Augen erfährt man etwas von der wirklichen Stimmung. Auf der Straße und im Berufsalltag herrschen zwischen den Religionen Abgrenzung und Misstrauen vor. Das Kopftuch, welches heute fast jede Muslimin trägt, scheidet die Religionen weithin sichtbar. Die Stadtviertel lassen sich schnell nach muslimisch oder christlich unterscheiden. Seit einigen Jahren kaufen Muslime mit beträchtlichen Geldsummen christliche Souvenirshops auf. Über die Herkunft des Geldes lässt sich spekulieren.

Der von den Palästinensern vehement geforderte eigene Nationalstaat wäre für die Christen unter ihnen katastrophal. Die Machtkonflikte zwischen Säkularisten und Islamisten, die bislang durch die Teilung von Westjordanland und Gaza sowie mit Hilfe Israels auseinandergezwungen werden, würden dann ungebremst ausgetragen. Die massiven internationalen Hilfen würden zurückgehen, und der Staat wäre mangels jeder Kontrolle noch korrupter als die Autonomiebehörden. Je mehr die Nationalstaaten im Nahen Osten in inneren Bürgerkriegen zerfallen, desto vorsichtiger sollten die Palästinenser bezüglich ihres eigenen Staates sein.

Nicht Nation und Religion, sondern Ausbildung und Bildung, Arbeitsplätze und wirtschaftliches Wachstum wären die Wege, um den Kampf der Kulturen in einen Kampf für die Zivilisation zu verwandeln. Die Konflikte zwischen den kollektiven politischen oder religiösen Identitäten sind schlichtweg unlösbar. Helfen kann nur noch ein genereller Paradigmenwandel: weg von kollektiven und religiösen Identitäten hin zu individuellen Selbstverständnissen und entsprechenden materiellen Interessen. Sollten sich die neuen Paradigmen durchsetzen, wäre die Frage, wem das Westjordanland gehört, in etwa so wichtig, wie es heute in Europa die Frage ist, wem das Elsass oder Schlesien gehören.

Christen als Brücke?

Die zahlreichen Sozialwerke und Bildungsstätten sollten nicht länger aus falsch verstandener Solidarität die einzelnen Identitäten und Opferhaltungen bestärken. Indem etwa die vom Westen finanzierten christlichen Schulen und die Katholische Universität Betlehem zum Boykott jedweder Zusammenarbeit mit Israel aufrufen, unterstützen sie alte Paradigmen. Westliche Bildungshilfe dient dann der Identität auf Kosten der Rationalität. Die mir bekannten christlichen Schulen in der Stadt Beit Jala und in Ostjerusalem sowie die Universität Betlehem geben dem Nationalismus ihrer palästinensischen Lehrer und Dozenten zu viel Raum. Dies widerspricht dem universalistischen Geist von Christentum und Wissenschaft.

Eine neue Universität in Betlehem, getragen von sehr reichen palästinensischen Investoren und den Emiraten am Persischen Golf, konzentriert sich dagegen auf das individuelle Schicksal ihrer Studierenden und bildet ihre Absolventen für den Weltmarkt aus. Diese bewusst transnationale und transkulturelle Ausbildung entspricht dem Wesen der Globalisierung. Eine Bildung, die Menschen zu Selbstdenkern formt, beginnt mit der Dekonstruktion und Relativierung nationaler, kultureller und konfessioneller Prägungen.

Den Austausch zu verweigern, ist angesichts der Überlegenheit der Israelis nicht klug. Feindesliebe wäre nirgendwo angebrachter als hier, weil sie keinem Opfergang, sondern einer für beide Seiten nützlichen Anpassungsstrategie entspräche. Stattdessen verurteilen auch unsere Professoren-Kollegen den neuen Individualismus der Studierenden als „Egoismus“. Sie sind irritiert, dass diese nicht mehr pausenlos politisieren. Natürlich kann der Individualismus übertrieben werden, wie in Europa, wo er oft genug in Narzissmus und Bindungslosigkeit übergeht. Diese Gefahr ist im Nahen Osten aber ein Thema für übermorgen. Im Konflikt zwischen kollektivistischen und individualistischen Paradigmen wäre das personale Menschenbild des Christentums hervorzuheben, welches Selbst- und Sozialverantwortung, Rechte und Pflichten, Teilhabe und Teilnahme in ein Verhältnis der Gegenseitigkeit setzt. Um diese Gegenseitigkeit geht es auch in den Goldenen Regeln des „Weltethos“, ein Begriff, den ich aber dort, wo er am nötigsten wäre, nie gehört habe.

Die Don-Bosco-Salesianer sind die wichtigsten Träger der beruflichen Ausbildung im Nahen Osten. In Betlehem bieten sie jährlich bis zu zweihundert Ausbildungsplätze an - der beste Weg aus der Arbeitslosigkeit in den Mittelstand. Entsprechende Aktivitäten sollten mehr gefördert werden als die sozialen Hilfen etwa für „Flüchtlingslager“, bei denen es sich in Betlehem um ärmere Stadtteile handelt, die bewusst als Flüchtlingslager konserviert werden.

Eine aktivierende Hilfsstrategie im Sinne einer fordernden Bildungs- und Arbeitsbeschaffungsmaßnahme könnte dagegen zu einer tragfähigeren Entwicklung überleiten. Aus der demografischen Entwicklung von Orient und Okzident folgt die Aufgabe, das Fehlen der Jugend in Europa und den Jugendüberschuss im Nahen Osten und Nordafrika als sich ergänzende Herausforderungen zu betrachten. Für Christen, die sich als universales Gottesvolk verstehen, gibt es kein Heiliges Land, das man unbedingt besitzen muss. Ihr Gottesverständnis übersteigt weltliche Territorien. Aufgeklärte Christen sind säkular im Sinne einer Trennung von Religion und Politik. Sie predigen Versöhnung statt heiliger Kriege und vertreten einen Universalismus, der dem Ungeist der kulturalistischen Vereinzelung entgegensteht. Sie könnten eine Brücke zwischen dem Westen und dem Nahen Osten sein.

Anzeige: In der Tiefe der Wüste. Perspektiven für Gottes Volk heute. Von Michael Gerber

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