MissbrauchsskandalGeheimhaltung dient der Offenbarung

In der Debatte über die Aufklärung des Missbrauchsskandals tut es gut, einen Blick auf den neutestamentlichen Jesus zu werfen.

Von Anfang an hat Jesus hellsichtig die Versuchungen gesehen, in die seine Jünger geraten können. Die von ihm überlieferten Worte dazu sind von äußerster Drastik geprägt. Im Markusevangelium, dem ältesten Jesusbuch der Welt, heißt es: „Wer einem von diesen Kleinen, die an mich glauben, Ärgernis gibt, für den wäre es besser, dass ihm ein Mühlstein um den Hals gehängt und er ins Meer geworfen würde“ (9,42). In Kommentaren liest man oft, Jesus wolle mit diesem Wort die Jünger vor der bösen Welt schützen, der er zur Abschreckung die grausamsten Strafen androhe. Doch in Wahrheit ist es gerade umgekehrt. Die Jünger sind nicht als Opfer, sondern als mögliche Täter im Blick: Wenn es der Glaube eines kleinen Menschen ist, den einer von ihnen ausnutzt, um sich an seiner Erniedrigung zu befriedigen, ist das die schlimmste Sünde überhaupt.

Das Markusevangelium hat aber nicht nur die Warnung der Jünger vor Missbrauch aufbewahrt. Es überliefert auch ein Jesuswort, das den Weg weist, die nötige Aufklärung zu betreiben: „Nichts wird geheim gehalten, außer damit es an die Öffentlichkeit kommt“ (4,22). Dieser Satz ist von genau derselben religiösen Radikalität und Klarheit wie das schreckliche Wort vom Mühlstein, das doch nur den Schrecken des Missbrauchs im Gewande der Frömmigkeit bannt.

Jesus redet hier von der Geheimhaltung in einem Zusammenhang, der viele irritiert. Es geht um die Reich-Gottes-Gleichnisse und wie sie zu verstehen sind. Sollte man nicht meinen, dass sie ganz klar und einfach sind? Jesus selbst hat seine Gleichnisse komplexer, ja fast paradox gesehen: Sie offenbaren nicht nur, sie verbergen auch. Sie sollen die Augen für Gott und die Welt öffnen. Aber sie führen auch dazu, dass viele die Augen schließen, weil sie Gott und seine Welt nicht so sehen, wie Jesus sie sieht.

Diese Erfahrung bringt Jesus aber weder dazu, sich passiv-schweigend in sein Schicksal zu fügen, noch verletzend-spöttisch zu reagieren. Er sieht sich vielmehr an die Seite der Propheten Israels in ihren dunkelsten Stunden gestellt. Die mussten einsehen, dass Gott sie offenbar nicht gesandt hatte, Gehör zu finden, sondern Kritik zu ernten. Das hat Folgen. Was immer sie sagen, sie offenbaren nicht nur, sie verbergen auch. Mehr noch: Sie müssen verbergen, um offenbaren zu können. Sie müssen den Widerspruch provozieren, um Klartext reden zu können.

Die Weisheit Jesu

Diese Dynamik des Gegensätzlichen macht sich Jesus zu eigen. Die Gleichnisse sagen alles und zwingen zu nichts. Sie legen Gott und die Menschen nicht fest und führen beide aufeinander zu. Sie stellen niemanden an den Pranger und machen ganz klar, was gut und was böse, was richtig was und falsch ist. Die Gleichnisse öffnen die Augen, weil sie das Allerheiligste nicht zu Markte tragen, sondern es so geheim halten, wie es ist. Sie verschließen die Augen, damit ein neuer Blick riskiert werden kann.

Das bringt Jesus nachdenklich zum Ausdruck. Er nimmt sich die Freiheit, die Wahrheit zu sagen, von der er überzeugt ist. Aber er lässt Freiheit, dazu Ja oder Nein zu sagen. Jesus wahrt das Geheimnis Gottes, aber er ist kein Geheimniskrämer. Er ist taktvoll, aber er verschweigt nichts. Er achtet die Zweifel der Menschen, aber er macht den Mund auf, solange er die Möglichkeit dazu hat. Was er geheim hält, dient nur dem einem Zweck: dass es offenbar wird. Der Grund seiner Geheimhaltung ist Demut.

Bekannt ist das Sprichwort: „Nichts ist so fein gesponnen, es kommet doch ans Licht der Sonnen.“ Es warnt alle, die vertuschen wollen oder falsche Gerüchte streuen. Es ist in der aktuellen Debatte über sexuellen Kindesmissbrauch durch Geistliche von erschreckender Aktualität. Der Verdacht steht im Raum, die Kirche habe es zum Bruch mit dem von ihr beauftragten Forschungsinstitut kommen lassen, weil sie etwas zu verbergen habe (vgl. CIG Nr. 3, S. 31). Dieser Verdacht muss schnell ausgeräumt werden.

Das Jesuswort reicht in diesem Zusammenhang noch tiefer. Es gewinnt in der notwendigen Aufklärungsarbeit eine neue Bedeutung. Transparenz ist das eine - Datenschutz, Opferschutz das andere. Die katholische Kirche wollte vorbildlich in der Aufarbeitung der dunklen Vergangenheit sein. Aber sie darf nicht wieder den Eindruck erwecken, moralisch auf dem hohen Ross zu sitzen - und sei es bei der Aufarbeitung eigener Fehler. Wie geht es weiter? So schnell wie möglich nur eine Fortsetzung des bisherigen Projektes zu organisieren, könnte erneut im Unheil enden. Die Kirche muss auch erst neu wieder das Vertrauen der Wissenschaft gewinnen. Sie kann, wenn sie in einer demokratischen Gesellschaft gefragt wird, keine Sonderregeln für sich in Anspruch nehmen. Sie muss sich der Kritik stellen, darf sich zugleich nicht jeden Vorwurf gefallen lassen. Deshalb ist Kritik an der Kritik erlaubt, ja geboten. Aber der Ton macht die Musik. Und: „An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen“, heißt es in der Bergpredigt (Mt 7,16.20).

Die Kirche muss in der Öffentlichkeit mit einer Zunge sprechen. „Euer Ja sei ein Ja, und eurer Nein ein Nein; alles andere ist von Übel“, sagt Jesus auch in der Bergpredigt (Mt 5,37). Die Eigenrechte der Bistümer in allen Ehren: Jetzt ist eine Selbstverpflichtung gefragt, die alle Diözesen gemeinsam tragen. Zur öffentlichen Verantwortung gehört aber auch, von Anfang an die Grundsätze der Aufklärung und ihre Dialektik klar zu machen, und zwar viel deutlicher, als das bislang geschehen ist. Das Interesse der Öffentlichkeit ist der Kirche sicher. Zur Transparenz gehört, nicht nur zu sagen, was offengelegt werden kann, sondern auch, was geheim bleiben muss, warum und wozu.

Was unbedingt offengelegt werden muss, sind die Untaten der Täter, ihre Zahl und Schwere, ihre Ursachen, Erscheinungen und Folgen. Es gibt die These, wonach Zölibat, Seminarausbildung, katholische Sexualmoral und klerikaler Korpsgeist die Verfehlungen mitbedingen. Es gibt auch die Gegenthese, dass all dies keine Gründe, keine Motive, keine begünstigenden Umstände seien. Die Antwort kann nur durch unabhängige Forschung gegeben werden.

Was aber geschützt werden muss, sind in erster Linie die Opfer, also die „Kleinen“, die Jesus so am Herzen liegen. Niemand darf sie zwingen, zum Forschungsobjekt zu werden: die Wissenschaft nicht, die Öffentlichkeit nicht, die Kirche schon gar nicht. Wenn Bischöfe nun den Opferschutz stark machen, an dem es so offenkundig gefehlt hat und fehlt, werden sie im Verdacht der Vertuschung stehen. Diesen Verdacht müssen sie aushalten. Sie müssen sagen, weshalb sie bei ihrer Linie bleiben, und aus der Kritik, die sie ernten werden, nicht schon wieder ein Martyrium machen.

Erhellen und schützen

Was auch geschützt werden muss, sind die Unschuldigen, zumal wenn sie unter Generalverdacht stehen, schuldig zu sein. Das ist bei Priestern heute der Fall, so bizarr auch immer die antiklerikalen Vorurteile sein mögen. Datenschutz ist absolut notwendig. Anonymisierung ist der einzige Weg. Er gehört zu den Standards sozialwissenschaftlicher und kriminologischer Studien. Die Öffentlichkeit giert stattdessen nach Sensationen. Aber der wissenschaftliche Untersuchungsauftrag zielt auf Erhellung. Darauf hat die Öffentlichkeit, haben die Opfer Anspruch. Die notwendige Geheimhaltung hat keinen anderen Zweck als den der Offenbarung, weil nur so eine kritische Masse an Daten erschlossen werden kann, die überhaupt zu begründeten Aussagen führt.

Und was ist mit den Tätern? Jeder muss sich vor dem himmlischen Richter verantworten, wie jeder Ankläger allerdings auch. Der himmlischen Gerechtigkeit kann kein gesellschaftliches, kann auch kein kirchliches Urteil vorgreifen. Darauf zielt das Jesuswort aus der Bergpredigt: „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet“ (Mt 7,1). Was strafrechtlich verfolgt werden kann, gehört angezeigt: vor einem staatlichen und einem kirchlichen Gericht. Es muss einen fairen Prozess geben. Das ist ungeheuer schwierig. Aber die Urteile müssen ohne Ansehen der Person gesprochen werden. Es darf keine Vorrechte und keine Extra­strafen für Geistliche geben.

Wenn die Erforschung sexuellen Fehlverhaltens Geistlicher Verdachtspunkte liefert, bleibt die Wissenschaft am Ball - aber ein Forschungsinstitut ist kein Gericht. Das Verfahren muss geregelt sein, wie die Gerichte eingeschaltet werden. Die Regeln müssen transparent sein. Würde zwischen wissenschaftlicher Erforschung und juristischer Beurteilung nicht unterschieden, könnte keine Studie das Licht der Welt erblicken. Die Kirche braucht einen Partner, der das versteht und will. Sie muss auch diesen Punkt in aller Öffentlichkeit klarstellen, so viel Prügel auch immer sie dafür einstecken wird. Jede andere Dienstherrin wäre ebenso in der Pflicht.

Auch der Opferschutz hört nicht auf. Vor einem irdischen Richter muss Schuld nachgewiesen werden. Das erfordert einen Prozess der harten Prüfung von Zeugenaussagen. Für viele, die bleibende Schäden davongetragen haben, ist das unzumutbar. Die Kirche, unter deren Dach sie zu Opfern geworden sind, hat die Pflicht, sie auch öffentlich zu schützen - obwohl sie so den Verdacht nährt, es im eigenen Interesse zu tun.

Wahrheit, Licht, Versöhnung

Aber es geht noch weiter. Es muss aus kirchlicher Sicht für Täter auch einen Weg zurück geben, selbst wenn die Allgemeinheit das ablehnt. Nicht unbedingt zurück ins Priesteramt. Aber zurück in eine Kirche, die sich auf die Seite der Opfer stellt. Gibt es einen Weg der Versöhnung? Wo verläuft er? Wohin führt er? Warum gibt es ihn? Über diese Fragen wird öffentlich so gut wie gar nicht gesprochen. Glaubwürdigkeit erreicht man so nicht. Es kann kein Weg sein, der alles sofort in die Öffentlichkeit zerrt. Er muss diskret sein. Aber das Verfahren und das Ergebnis müssen öffentlich werden.

„Nichts wird geheim gehalten, außer damit es an die Öffentlichkeit kommt.“ Jesus hat dieses Wort geprägt, weil er wusste, wie heikel es ist, die Wahrheit zu sagen, und wie schwierig es ist, sie zu akzeptieren - und wie schwer sich seine Jünger tun, das zu verstehen. In der Aufarbeitung der sexuellen Übergriffe durch Geistliche geht es um nichts als die Wahrheit. Die wissenschaftliche Forschung ist nur ein kleiner Teil, aber ein wichtiger. So aufgeregt die Öffentlichkeit ist, so ungeduldig die Opfer sind: Wenn die Forschung nicht in aller Ruhe geschehen kann, in geschützten Räumen, unter Beachtung aller Regeln wissenschaftlicher Praxis und aller gesetzlichen Bestimmungen, kann sie nicht zu einem guten Ergebnis führen. Aber alles, was unter dem Schutz von Persönlichkeitsrechten und unter der Wahrung von Dienstgeheimnissen geschieht, hat nur ein Ziel: die Wahrheit ans Licht zu bringen.

Wenn sie ans Licht kommt, wird es Kritik geben und Beifall von der falschen Seite, Unverständnis und neue Ungerechtigkeiten, Halbwahrheiten und Verdunkelungen. Aber genau das ist die Weise, in der sich die Wahrheit durchsetzt. Es muss nur das Prinzip Jesu beachtet werden: „Nichts wird geheim gehalten, außer damit es an die Öffentlichkeit kommt“ (Mk 4,22).

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