Literaturgesprächskreise zwischen Leselust und SelbstfindungWo das Leben auf dem Spiel steht

Seit den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts haben sich in vielen Gemeinden Menschen zusammengefunden, die das Gespräch über gemeinsam gelesene Literatur suchen. Die Zahlen sind beeindruckend, allein im Umfeld der Katholischen öffentlichen Büchereien werden bundesweit über 1100 solcher Kreise gezählt. Viele weitere existieren in der Nähe anderer katholischer Organisationen sowie der evangelischen Gemeindebüchereien und auf privater Ebene.

Fazit

In vielen Kirchengemeinden treffen sich Menschen zum Gespräch über gemeinsam gelesene Literatur. Inmitten einer Welt von fremdbestimmten Bildern suchen sie nach eigenen Erfahrungen mit Texten, die ihre Phantasie herausfordern. Leselust und die Bereitschaft, sich auf Lebens- und Sinnfragen einzulassen, prägen die Begegnungen.

Als Kirchenmensch ist man es gewöhnt, dass sich neue Ideen nur sehr zögernd verwirklichen lassen. Am Anfang steht ein Gremium, es fasst einen Plan. Danach sucht man Ressourcen, in der Regel Mitarbeiter und Geld, plant einen Event als Start der Aktion und hofft dann, dass der gute Gedanke auch von anderen übernommen und auch nachgedacht wird. Je nach Qualität der ursprünglichen Idee und der Vorbereitung braucht diese Ausbreitungsphase mehr oder weniger Energie und nicht selten ein gehöriges Maß an Frustrationsbereitschaft. 

Bei Literaturgesprächskreisen ist die Reihenfolge umgekehrt. Jenseits aller Planung und Struktur zeigt sich eine neue Form intensiver Begegnung auf dem Boden vieler Kirchengemeinden. Es ist eine Idee, die sich selbst eine Realisierung gesucht hat. 

Leser suchen Mitleser 

Dieser Trend ist überraschend, stellt man sich einen Leser doch gerne als jemand vor, der allein mit seinem Buch und vielleicht noch einer Flasche Wein in seinem Sessel versinkt. Es gibt Leser, und das sind nicht nur Kinder, die treten regelrecht aus der Welt heraus. Da mag der Sonntagsbraten anbrennen, die Katze vom Baum fallen oder der Partner in Rage geraten, der Leser will mit seinem Buch allein sein und ist es auch. 

Dieses intensive Leseerlebnis möchten nicht wenige Menschen mit den anderen teilen. Sie suchen Mitleser desselben Buches und wünschen sich Zeit für ein Gespräch. 

Der Schriftsteller Peter Bichsel schreibt dazu: „Also diese berühmte Insel, auf die man für den Rest des Lebens verbannt wird, dann kommt die Frage, was für Bücher nimmt man mit. Ich weiß, was für welche ich mitnehmen würde, keine. Denn nach 3 Tagen würde mir das Lesen vergehen. Ohne menschliche Gesellschaft vergeht einem das Lesen. Es ist ein ganz eigenartiges Geschäft, das Lesen, man kann es nur im Bewusstsein tun, dass man es mit vielen anderen zusammentut, aber man tut es allein in seinem Zimmer. Es ist eine eigenartige Mischung von Gesellschaftlichkeit und Einsamkeit. Wenn die Menschen weg sind, ist auch das Lesen weg. Davon bin ich überzeugt. Und wenn ich etwas gelesen habe, von dem ich begeistert bin, dann renne ich rum und will alle anderen auch zu Lesern machen." 

Leser sind gesellige Menschen. Vielleicht war das ja schon immer so, und es hat nur niemand beachtet, dass Büchereien nicht nur Ausleihorganisationen, sondern auch Begegnungsstätten sind, dass Bücher, über die in den Medien gestritten wird, auch in leseinteressierten Familien für bewegte Stunden sorgen und die Frankfurter Buchmesse keine stille Verkaufsausstellung, sondern ein Leserfest mit erheblicher Geräuschkulisse ist. In der kirchlichen Gegenwart, in der wir immer neu nach Möglichkeiten suchen, auf dem Boden der Kirchengemeinden Menschen zu Gesprächen und Begegnungen zusammenzuführen, muss deshalb eine solche ungeplante Massenbewegung zunächst wenigstens Staunen hervorrufen: Was geschieht in Gesprächskreisen, wie entstehen sie, gibt es ein fassbares gemeinsames Interesse der Teilnehmer? Zumindest sollte man aus den Antworten auf diese Fragen etwas über Lebensbedürfnisse in unserer Gesellschaft lernen können. 

Jeder ist wichtig 

Im Rahmen des Projekts Literarische Kompetenz, über das später zu berichten sein wird, haben die Verantwortlichen der kath. Büchereiarbeit viele Einblicke in die Arbeitsweise der Gesprächskreise gewonnen. Strukturen und Inhalte ähneln sich. Ein häufiger Initialzünder ist eine örtliche literarische Veranstaltung, eine Autorenlesung, eine literarische Fortbildung oder auch die persönliche Initiative eines lesebegeisterten Menschen. Die Gruppengröße pendelt sich schnell bei 8 bis 15 Personen ein, größere Kreise neigen zu einer Teilung in zwei Untergruppen. Die Auswahl der Bücher geschieht meistens durch einen demokratischen Prozess, bei dem literaturinteressierte Teilnehmer Vorschläge unterbreiten. Eine der Teilnehmerinnen, manchmal auch zwei, übernehmen die Leitung im Sinne einer Gesprächsführung. Der Gesprächsstil ist teilnehmerzentriert, d.h. jeder und jede trägt mit ihrem eigenen Leseerlebnis und den damit angesprochenen Lesererfahrungen zum gemeinsamen Gespräch bei. Entsprechend ist eine literaturwissenschaftliche Ausbildung keine notwendige Kompetenz des Leiters, wichtiger ist seine Fähigkeit für eine offene und persönliche Gesprächsatmosphäre zu sorgen. 

Geschichten vom Leben-Können 

Die ausgewählten Bücher sind so verschieden, wie es Gruppen und Menschen nun mal sind. Ein klassischer Bildungskanon spielt jedoch kaum eine Rolle. Auch leichte Unterhaltungsliteratur scheint nicht genügend zum Gespräch anzuregen und wird in der Regel vermieden. Aus Kostengründen warten die meisten Gruppen, bis die Texte als Taschenbuch vorliegen. Auch Kurzgeschichten werden vereinzelt gewählt. Gruppen, die positive Erfahrungen mit Lyrik gemacht haben, greifen immer wieder darauf zurück. 

Verblüffend sind die Gemeinsamkeiten in der Art und Weise wie Literaturgesprächskreise mit ihrer Lektüre umgehen. Um sie zu demonstrieren, seien hier aus den vielen Berichten einige mehr zufällig ausgewählte Beispiele genannt. Monika Marons „Endmoränen" ist 2002 erschienen und erzählt von den verbrauchten Lebensentwürfen einer ehemaligen DDR-Schriftstellerin nach der Wende. Ebenfalls im Jahr 2002 veröffentlichte Zsuzsa Bank, eine junge Frankfurter Autorin, ihr viel beachtetes Erstlingswerk „Der Schwimmer". Ein Ehepaar trennt sich nach dem Ungarnaufstand 1956. Der Vater zieht mit seinen beiden Kindern durch das verstörte Land. Unter dem Titel „Der Welt den Rücken" erschien 2001 eine Sammlung von Kurzgeschichten der Autorin Elke Heidenreich. Sie schreibt über Liebe und Verlust, die Midlifecrisis und das Altern. 

Drei Bücher in unterschiedlicher literarischer Qualität, die zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten spielen! Gemeinsam ist ihnen aber, dass sich Leser der Gegenwart darin wiederfinden können, weil die angesprochenen Lebenssituationen unabhängig vom historischen oder geografischen Umfeld in ihrer Grundstruktur auch ihre eigenen sind. Es sind Geschichten, die die Frage, wie Leben gelingen kann, in aller Deutlichkeit ins Wort fassen und nacherlebbar machen, ohne zugleich Rezepte und Antworten zu bieten. Sie sprechen von Umbruchsituationen, von Lebenswenden, in denen das Leben „auf dem Spiel steht". 

Lesen heißt Mitspielen 

Tatsächlich steht das Leben beim Lesen eines literarischen Textes im wörtlichen Sinne auf dem Spiel. Gemeint ist nicht die Belanglosigkeit eines Zeitvertreibs, nicht die Flucht aus der Realität. Die Literatur schafft im Gegenteil eine Spielsituation durch eine fiktionale Handlung, durch Personen, Abläufe und Gestalten, die zur Identifizierung einladen. Doch damit die Handlung miterlebt werden kann, werden beim Leser die eigenen inneren Bilder und Assoziationen mobilisiert. Damit ist die individuelle Lebenserfahrung und Werteordnung angesprochen. 

Der am literarischen Spiel beteiligte Mensch ist deshalb nicht nur verstehender Beobachter, sondern ein Mitspieler. Er engagiert sich als konkrete Person mit Kopf und Verstand, mit seinen bewussten und unbewussten Erinnerungen und mit seinen Zukunftserwartungen und Hoffnungen. Ein solches Spiel geschieht nicht um des Sieges willen, sondern aus der Lust heraus, Erfahrungen zu machen, konkreter gesagt, sich selbst im (Spiel-)Raum der Literatur zu erleben. Lesen bedeutet also zugleich Aufnahme der Gedanken des Autors und Beziehungsaufnahme des Lesers zu sich selbst. 

Je nach Qualität des literarischen Textes und der Bereitschaft, sich auf ihn einzulassen, kann das Leseerlebnis zu einer intensiven Erfahrung werden. Wer Intensives erlebt, sucht sich Gefährten, die die Erfahrung teilen. Vielleicht ist so die Lust zu verstehen das Gespräch mit anderen Lesern zu suchen. 

Die biografische Färbung des Lesens erklärt auch die Unterschiede im Verständnis und in der Bewertung ein und desselben Textes. Die Schulfrage „Was will uns der Autor damit sagen?", trifft deshalb nicht die Eigenart von Literatur. Der Autor Hans Magnus Enzensberger fasst das folgendermaßen zusammen: „Wenn zehn Leute einen literarischen Text lesen, kommt es zu zehn verschiedenen Lektüren. Das weiß doch jeder. In den Akt des Lesens gehen zahllos viele Faktoren ein, die vollkommen unkontrollierbar sind: die soziale und psychische Geschichte des Lesers, seine Erwartungen und Interessen, seine augenblickliche Verfassung, die Situation in der er liest - Faktoren, die nicht nur absolut legitim und daher ernst zu nehmen, sondern die überhaupt die Voraussetzung dafür sind, dass so etwas wie Lektüre zustande kommen kann. Das Resultat ist mithin durch den Text nicht determiniert und nicht determinierbar. Der Leser hat in diesem Sinn immer recht, und es kann ihm niemand die Freiheit nehmen, von einem Text den Gebrauch zu machen, der ihm passt." 

Auf der Suche nach Lebensentwürfen 

Die massive Verbreitung literarischer Gruppen inmitten einer Mediengesellschaft wirkt anachronistisch. Kommunikation geschieht heute durch immer größeren technischen Medienaufwand und vor allem durch professionelle Gestalter. Deren Erfolgskonzept ist es oft, die grundlegenden menschlichen Bedürfnisse nach Sinn, Bewältigung von Trauer, Mitmenschlichkeit und Gestaltung der Zukunft aufzugreifen und mit einem „gespielten Leben" (Paul M. Zulehner) zu beantworten. Ein anspruchsvoller literarischer Text führt dagegen in die eigene Mitte und schafft den imaginären Raum, Lebensentwürfe zu entwerfen und gefahrlos zu erproben. Im Gespräch der Lesenden trifft deshalb nicht nur literarisches Ver- 9 stehen aufeinander. Es sind Menschen, die sich auf den Weg machen, wobei die Gemeinsamkeit durch den jeweils gemeinsam gelesenen Text hergestellt wird. Im Gespräch schwingt deshalb die Frage mit „Wie kann ich leben?". 

Können und sollen die Verantwortlichen in den Gemeinden und den Ordinariaten/Generalvikariaten auf diesen Trend reagieren? Zumindest ist es wichtig zu wissen, dass Literaturgruppen eine Gegenreaktion zu einer Medienwelt darstellen, die den einzelnen mit fremd bestimmten Bildern überschwemmt. Man darf sie als Bedürfnis sehen, einer Selbstentfremdung entgegen zu wirken und Antworten auf Sinnfragen zu erhalten, die im menschlichen Leben unausweichlich sind und nur in der Mitte der Person und in der menschlichen Begegnung gefunden werden können. Die neutestamentliche Mahnung „Kehrt um" ist eben auch als eine Aufforderung zu verstehen, sich der eigenen Mitte und dem dort erfahrbaren Gottesgeist zuzuwenden. Damit ist nicht gesagt, dass sich Literaturgruppen zu Glaubensgruppen entwickeln. Es besteht aber zumindest die Chance, dass sich aus den unterschiedlichen Lebens- und Glaubenserfahrungen der Teilnehmer eine gemeinsame Suche nach einer tragfähigen religiösen Sprache entwickelt. 

Literaturgruppen fördern 

Der Borromäusverein hat 1996 das Projekt Literarische Kompetenz (proliko®) ins Leben gerufen. Mit seinen unterschiedlichen literaturpädagogischen Aus- und Fortbildungsmaßnahmen bietet es den Leiterinnen und Leitern von literarischen Gesprächskreisen und anderen Veranstaltungsformen, sowie literarisch interessierten Einzelpersonen praxisbezogene Unterstützung an. In proliko® enthalten ist auch ein Intensivkurskurs zur Leitung eines Gesprächskreises, der auf der Methode der Themenzentrierten Interaktion basiert. 

Die Förderung einer Katholischen öffentlichen Bücherei und eines aktiven Büchereiteams und seine Unterstützung bei offenen literarischen Veranstaltungen (Lesewochen, Autorenlesungen) schafft zudem ein Klima innerhalb einer Pfarrgemeinde, das Mut macht zu lesen und Kontakte zu suchen. Auch eine Predigt, die von einem literarischen Text ausgeht, wird die Gesprächsbereitschaft fördern. Der Schritt zu lesenden Gruppen ist dann nur noch klein. Doch bei allem Handeln sollte man die Freiheit der Lesenden achten, wie es die „Urleseszene" der Apostelgeschichte (Apg 8,26-40) nahe legt. Dort ist es der mit einem Amt versehene Philippus, der zuallererst zuhört und nach der Lektüre des anderen fragt. 

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