Sind die derzeitigen Reformprozesse der Bistümer tragfähig?Gemeindeaufbrüche - aber wie?

Peter L. Berger hat vor einiger Zeit von Westeuropa als einem „kirchlichen Katastrophengebiet“ gesprochen. Und Benedikt XVI. hat vor Jahren, noch als Präfekt der römischen Glaubenskongregation, in einem Interview mit Peter Seewald die Vermutung geäußert, dass wir vielleicht „von den volkskirchlichen Ideen Abschied nehmen“ müssen. Was bedeutet es, vor diesem Szenario von Gemeindeaufbrüchen zu träumen? Gibt es für sie reelle Chancen? Viele Bistümer bemühen sich zur Zeit um Gemeindestrukturreformen, die viel Zeit und Energie in Anspruch nehmen. Sind das aussichtsreiche Wege zu Gemeindeaufbrüchen? Oder besteht nicht der aussichtsreichere Weg darin, die spirituellen und die Glaubensressourcen, die in den Gemeinden selbst liegen, zur Geltung kommen zu lassen?

Fazit

  • Herbert Haslinger, Lebensort für alle. Gemeinde neu verstehen. Düsseldorf 2005.
  • Stefan Knobloch, Praktische Theologie. Ein Lehrbuch für Studium und Pastoral. Teil 3. Die Gemeinde. Freiburg Basel Wien 1996, 263-363.
  • Stefan Knobloch, Mehr Religion als gedacht! Wie die Rede von Säkularisierung in die Irre führt. Freiburg Basel Wien 2006.

Aus den Jahren meiner Kindheit und Jugend sind mir die jährlichen Frostaufbrüche der Landstraßen in Erinnerung geblieben, wenn - nach meist strengen Wintern - das Tauwetter und das Frühjahr einsetzten und die Straßen sich in unwegsame schmierige Trassen verwandelten. Es waren Aufbrüche, die von unten und innen kamen. Straßenarbeiter versuchten damals, die Straßen befahrbar zu halten, so gut es ging. Straßenaufbrüche. 

Die Assoziation: Frostaufbrüche 

Es ist gewiss nur eine spontane Assoziation, die sich mir beim thematischen Stichwort der „Gemeindeaufbrüche", über das hier nachgedacht werden soll, aufdrängt. Eine Assoziation, die immerhin deutlich machen kann, dass Aufbrüche auch zerstörerisch und destruktiv sein können, dass sie nicht immer geordnet und gezielt erfolgen, so wie eine Truppe oder ein Heeresteil ins Feld aufbricht. 

Der Begriff der „Gemeindeaufbrüche" mäandert gewissermaßen zwischen einem Aufbruch aufgrund eigener, innerer Dynamik und einem von außen initiierten und sozusagen vorgeschriebenen Aufbruch. Bei den derzeitigen Strukturreformen, die landauf landab in allen Bistümern im Gange sind, handelt es sich um von außen bzw. von oben, von den Bistumsleitungen angestoßene Aufbrüche. Sie haben ihr Epizentrum in den diözesanen Planstellen und Planstäben, aber kaum in den Gemeinden selbst. Insofern haben wir es hier eher mit sekundären Aufbrüchen bzw. mit Planungsmaßnahmen zu tun, mit denen man die Hoffnung verbindet, dass sie zu so etwas wie einem Gemeindeaufbruch führen. 

Die Rede vom Gemeindeaufbruch ist mehrdeutig und ambivalent. Sie hat etwas von dem Flimmern an sich, das - um noch einmal das Straßenbild zu bemühen - bei flirrender Sommerhitze über dem Asphalt tanzt. Die Bemühungen der Bistumsleitungen um Gemeindeaufbrüche entbehren nicht dieser Erscheinung der flirrenden Sommerhitze. Ohne Frage, die Gründe der diözesanen Initiativen sind gut nachvollziehbar, ja, sie liegen auf der Hand. 

Die Komplexität der Gründe der Reformprozesse

Da ist zum einen die Tatsache der überall spürbaren Personal- und Finanznot. Es muß gespart werden bei der Besetzung von Hauptamtlichenstellen, und obendrein gehört die aus den Zeiten einer verwöhnten Volkskirche große Zahl von Priestern und zumal Pfarrern der Vergangenheit an. Infolge ihres Fehlens meint man eine Verarmung zu spüren, die nicht zuletzt daher rührt, dass sich Gemeinden vielfach zu priesterfixiert definierten und definieren. Hier überlagern sich dann die Motive. Was tun - auf Gemeindeebene -, so fragt man dann, wenn man in Zukunft und zum Teil schon heute weniger Personal, weniger Geld und weniger Immobilien hat? Wobei mit „Personal" der Bereich der Haupt- und Ehrenamtlichen gemeint ist, aber eben nicht an die eigentlichen Ressourcen einer Gemeinde gedacht wird, nämlich an die Gläubigen und Mitglieder einer Gemeinde selbst. In diesen Fragen wirkt die Fixierung auf Priester und Hauptamtliche, auf Geld und Besitzstände weiter. Das alles spielt eine Rolle, aber es sollte nur eine nachgeordnete Rolle spielen. 

Bistumsleitungen entdecken nun, um der offensichtlichen Gemeindemisere auf die Sprünge zu helfen, den größeren Lebensraum, in dem sich heute das Leben der Menschen abspielt. Das Leben sei nicht mehr wie früher auf den Nahraum der eigenen Gemeinde beschränkt. Eine Entwicklung, der sich, so sagt man dann, die Kirche strukturell anpassen müsse. Daran mag etwas sein, aber die größeren Lebensräume, die hier von den kirchlichen Raumplanern strukturell in Anspruch genommen werden, stellen sich in aller Regel als blasse Größe dar, zumal nicht als eine Größe, die bisher als solche als Operationsfeld kirchlicher Aktivitäten wahrgenommen wurde. Es ist ohne Zweifel nicht alles falsch an der Schaffung größerer Raumstrukturen und an der Hoffnung, so den heutigen Lebensorten der Menschen kirchenstrukturell näherzukommen und ihnen kongenialer zu werden. Nur kann auf der anderen Seite nicht unbemerkt bleiben, dass im Maße der Verlagerung der kirchlich-pastoralen Aktivitäten auf die größeren Lebensräume die kirchlich-pastorale Präsenz im überschaubaren Raum der bisherigen Gemeinde ausdünnt. 

Bieten Strukturreformen die Lösung? 

Man darf nicht alle sich auf die Zukunft der Gemeinden beziehenden Strukturreformen über einen Kamm scheren. Aber es drängt sich doch der Eindruck auf, dass man unverhältnismäßig viel Zeit, Kraft und Phantasie in die Organisation neuer Raumstrukturen investiert. Wenn man hier irgendwo ein Steinchen löst, rutschen viele andere nach, kommt vieles ins Rutschen, was dann wieder organisatorisch-strukturell bis hin zu rechtlichen Regelungen neu gefasst werden muss. 

Man stelle sich einen solchen Prozessverlauf einmal vor. So werden - wie immer man es im einzelnen nennt; hier gibt es eine große terminologische Variationsbreite - zum Beispiel „Pfarrgruppen"und „Pfarreienverbunde" angezielt. Pfarrgruppen sind Zusammenschlüsse mehrerer Pfarreien, die in Zukunft nur noch einen Pfarrer haben werden, dem ein pastorales Team zugeordnet ist. Unter Pfarreienverbunden versteht man enge rechtlich eingegangene Kooperationen zwischen Pfarreien, die jeweils ihren eigenen Pfarrer haben. 

Um hier bereits innezuhalten: Allein schon die Terminologie verrät, wo der Hase läuft. Hier ist nicht mehr von Gemeinden und Gemeindeaufbrüchen die Rede, sondern von Pfarrgruppen bzw. Pfarreienverbunden, woraus deutlich die Orientierung am Pfarrer spricht. Sie ist hier gewissermaßen terminologisch angesagt. Die Orientierung an den größeren Lebensorten wird jedenfalls terminologisch nicht deutlich. Die einzelne Gemeinde einer Pfarrgruppe behält ihren eigenen Pfarrgemeinderat, aber es bedarf daneben eines analogen Gebildes, des sogenannten Seelsorgerates, der für den Großraum der Pfarrgruppe verantwortlich werden soll. Das alles erfordert Regelungen, so wie bisher auch der Pfarrgemeinderat auf rechtliche Regelungen angewiesen war, einschließlich der Anerkennung durch die Bistumsleitung bzw. durch das Generalvikariat. 

Ein Ping-Pong-Spiel zwischen Bistumsleitung und Gemeinden? 

Was als Gemeindeaufbruch firmiert, gerät über eine längere Zeitspanne zu einer Befassung mit strukturellen und rechtlichen Fragen, die im Ping-Pong-Spiel Bistumsleitung und Gemeinden über Jahre beschäftigt. Was kommt dabei heraus? Ein Gemeindeaufbruch? Gar im Plural Gemeindeaufbrüche? Man kann es nur hoffen. Wir wollen hier nicht zu schwarz sehen, aber allzu große Hoffnungen darf man sich wohl aufgrund der strategisch-strukturellen Anlage der meisten diözesanen Reformprozesse nicht machen. Sie ergehen sich, so entsteht jedenfalls der Eindruck, zu sehr in Machbarkeits- und Lebensraumphantasien, die die wirklichen Lebensräume der Menschen eher zu umgehen scheinen. 

Wir wollen hier keine falschen Alternativen aufbauen, als hätten wir die einfache Antwort, was heute im Blick auf Gemeindeaufbrüche die bessere Lösung wäre. Aber es fällt bereits auf, dass ein gewisses Unbehagen am Verlauf der Reformprozesse laut wird. Man müsse sich wieder stärker den spirituellen Fragen des Glaubens, der Gottesfrage und der Frage nach der Weitergabe des Glaubens zuwenden. Gewiss sind beide Positionen keine Gegensätze. Denn mit den allermeisten der Reformprozesse verbindet man die Hoffnung, zum Beispiel, einer effektiveren Gemeindekatechese, einer effektiveren Firmpastoral, einer effektiveren Eheund Familienpastoral und vieles andere mehr. Nur muss man sich fragen, ob Reformprozesse, die sich so sehr auf Struktur- und rechtliche Fragen verlegen, wirklich den Hebel an der richtigen Stelle ansetzen. 

Der bessere Reformansatz beim „geistlichen Schatz" der Gemeinden 

Nicht dass die Bischöfe nicht die richtigen Fragen stellten, aber sie verfolgen sie nicht weit genug, sie gehen ihnen nicht entschieden genug nach. Sie erkennen nicht das Potential, das in ihren richtig gestellten Fragen liegt. So sprach der Essener Bischof Felix Genn in einem Hirtenbrief zu Anfang des Jahres 2006 von dem „geistlichen Schatz" einer Gemeinde, und er bezog das auf die Erfahrung, „wie unterschiedlich Christinnen und Christen ihr Leben aus dem Glauben gestalten und das Gemeindeleben prägen." Warum aber setzt man nicht bei diesem „geistlichen Schatz" unterschiedlicher Glaubens- und Lebenserfahrungen im Prozess der Gemeindeaufbrüche an? Warum plant man an den theoretisch behaupteten Ressourcen und Schätzen der Gemeinden vorbei, an die man, wenn es darauf ankommt, letztlich wohl eher nicht glaubt? 

Gewiss ist das nicht überall so. Wir wollen nicht ungerecht werden. Im Erzbistum Freiburg zum Beispiel setzt man bezüglich der Gemeindeaufbrüche große Hoffnungen in die sogenannten „Sozialformen gelebten Glaubens". Das heißt doch, in die Wahrnehmung und in den Austausch darüber, wie Menschen heute leben und glauben, einschließlich ihrer Einwände, Anfechtungen und Unglaubenserfahrungen. Ganz nach dem Motto des Mannes im Evangelium: „Herr, ich glaube, hilf meinem Unglauben" (Mk 9,23). 

Dieser Ansatz wird um so wichtiger, wenn wir die Anregungen hinzunehmen, die uns das sogenannte Milieuhandbuch „Religiöse und kirchliche Orientierungen in den Sinus-Milieus 2005" geliefert hat, herausgegeben im Auftrag der Medien- Dienstleistung GmbH. Man muss nicht alles nachbeten, was dort festgehalten ist. Zum Beispiel nicht den peinlichen faux pas, dass am Fronleichnamstag vom Pfarrer „der Tabernakel" durch den Ort und durch die Feldflur getragen werde. Aber im Ganzen gibt die Studie manche nachdenkenswerte Anregung. Allein schon aufgrund der Tatsache, dass sie die heutigen Lebensmilieus der Menschen aufgrund zweier Koordinaten, und nicht bloß einer, abgreift, aufgrund der Koordinate der „sozialen Lage" der Menschen und aufgrund der Koordinate ihrer „Grundorientierung". Die Studie beschränkt sich also nicht auf die herkömmliche Koordinate der Unterschicht- bzw. Mittelschicht- bzw. Oberschichtzugehörigkeit. 

Die Studie öffnet den Blick für verschiedene differente Lebensmilieus, die wir hier nicht alle skizzieren können. Jedenfalls macht sie deutlich, dass - um es einmal gleich von der Seite zu formulieren - nicht nur „Konservative" oder „Traditionsverwurzelte" oder die „Bürgerliche Mitte" der kirchlichen Gemeinde etwas zu sagen haben, wie umgekehrt selbstverständlich die kirchliche Gemeindepastoral ihnen etwas zu sagen hat. Sondern auch „Etablierte", „Postmaterielle", „Moderne Performer", sogar „Konsum-Materialisten", „Experimentalisten" und „Hedonisten" sollten nicht nur als Abnehmer der christlichen Botschaft erscheinen, sondern auch als Subjekte, die aus ihren Lebenserfahrungen und Lebensprioritäten Bedeutsames zum „geistlichen Schatz" einer Gemeinde beitragen. Um hier nur die „Experimentalisten" hervorzuheben. Mit ihr ist jene Gruppe von Menschen benannt, die die Vielfalt des Lebens und der Lebenserfahrungen in der Kirche, in den Aktivitäten der Kirche kommuniziert sehen möchten. Und selbst den „Hedonisten" bestätigt die Studie den Glauben an die Existenz und Wirkung transzendenter Kräfte, worin letztlich ein religiöses Potential liegt, wenn es sich auch nicht in der Sprache der Kirche ausdrückt. 

Die geheimnisvolle Anwesenheit Gottes 

Die Gemeindeaufbrüche müssten missionarischen Charakter haben, wird neuerdings von den Bischöfen wieder stärker gefordert. Nur, was heißt das? Wie erweist sich dieser missionarische Charakter? Wir wollen hier nur einen Aspekt als Antwort auf diese Frage benennen, der noch nicht alles sagt, aber ohne den heute der missionarische Aufbruch eine bloße Wortformel bliebe. Wir müssen uns daran gewöhnen, bis in die inneren Strukturen unserer Gemeinden hinein, dass die bisherigen Voraussetzungen des Glaubens und des Christentums, also die christentümlichen Voraussetzungen einer geschlossenen Gesellschaft, vorbei sind. Die Verhältnisse haben sich gewandelt. Und diesen Wandlungen gilt es theologisch-analytisch gerecht zu werden und nicht ihretwegen die Hände über dem Kopf zusammenzuschlagen. Es spricht manches dafür, dass unter den bisherigen Voraussetzungen des Glaubens, die wegbrechen bzw. bereits weggebrochen sind, die kirchliche Rede über Gott diesen Voraussetzungen zu angepasst und Gott eine verrechenbare und in die Erwartungen der Menschen eingepasste Größe war. Entsprechend war dieser Glaube inhaltlich geprägt. Mit dem Wegbrechen dieser Voraussetzungen aber bricht auch das eingepasste Gottesbild weg, ein Prozess, bei dem in fataler Weise die geheimnisvolle Anwesenheit Gottes im Leben der Menschen häufig als seine Abwesenheit missdeutet und fehlinterpretiert wird. 

Vor diesem Hintergrund darf sich ein Gemeindeaufbruch dann als missionarisch verstehen, wenn die kirchliche Pastoral nicht nur von den Haupt- und Ehrenamtlichen, sondern in einem gewissen Sinn von allen Menschen einer Gemeinde getragen wird und diese Pastoral in all ihren Handlungsfeldern den Menschen zutraut, dass sie nicht bar der Erfahrung Gottes in ihrem Leben sind. Dem eine Chance zu geben, beschreibt noch nicht das gesamte Feld missionarischen Gemeindeaufbruchs, aber es legt den entscheidenden Grundstein. Mit anderen Worten, es wäre beim „geistlichen Schatz" der Gemeinden, der Menschen anzusetzen, der im letzten Gott ist, um ihn zu heben und sich seiner zu vergewissern. Wenn die gegenwärtigen Strukturreformen, die sich so intensiv in Verfahrens- und rechtlichen Fragen verfangen, zu diesem Ergebnis führten - dann wären sie nicht vergeblich. Aber sieht es danach aus? 

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