Erfahrung der Gegenwart Jesu ChristiDie Emmaus-Perikope und ihre Theologie

Die sogenannte Emmaus-Perikope (Lk 24,13-35) hat Geschichte gemacht: Sie hat vielen Kirchen, Gemeinde- und Begegnungszentren ihren Namen gegeben. Geistliche Gemeinschaften und Glaubenskurse sind nach ihr benannt. In besonderer Weise bekannt geworden ist Emmaus International, jene Bewegung, die, von Abbé Pierre ins Leben gerufen, sich der Bekämpfung der Armut verschrieben hat. Die Emmaus-Tradition in der Kirche ist das eine, das dazugehörige Evangelium das andere. Wie ist dieser Text zu verstehen in seiner eigenartigen Verschlingung von Nichterkennen und Erkennen, Trauer und Freude?

Fazit

Die Emmaus-Perikope will nicht ein geschichtliches Ereignis wiedergeben, sondern Jesus Christus als den Auferstandenen verkündigen. Sie erzählt, wie die Christen nach seinem Tod die Erfahrung seiner Gegenwart machen konnten: in der Schrift, in der Eucharistie und in der Gemeinschaft. Dies sind genau die Weisen, wie Menschen ihm auch heute begegnen und den Auferstandenen als Lebendigen erfahren können.

Wie bei so vielen anderen neutestamentlichen Texten auch wird sein Sinn verfehlt, wenn wir ihn auf historische Faktizität reduzieren. Diese Versuchung besteht leicht angesichts der geographischen Angaben (Emmaus war ein Dorf, 60 Stadien und damit ungefähr 11,5 Kilometer von Jerusalem entfernt), der beiden so menschlich gezeichneten Jünger, der Nennung des Namens Kleopas, angesichts der Konkretheit der gesamten Darstellung. Das Interesse des Textes ist freilich nicht die Wiedergabe eines geschichtlichen Ereignisses, sondern Verkündigung: die Verkündigung des auferstandenen Christus. Und die Perspektive, aus der heraus der Text geschrieben ist, ist die nachösterliche Sicht, die das Wirken Jesu im Licht von Kreuz und Auferstehung deutet. Sowohl die mündlichen und schriftlichen Überlieferungen, die die Evangelisten - so auch Lukas - verarbeiten, als auch ihre eigene literarische Tätigkeit sind von der neuen Weltsicht des Auferstehungsglaubens so stark geprägt, dass sich mögliche zugrunde liegende historische Fakten nicht oder nur mühsam rekonstruieren lassen. Diese Deutung bestimmt die Darstellung und die Wahl der literarischen und stilistischen Mittel. 

So ist die Emmaus-Erzählung in ihrer vorliegenden Gestalt das Ergebnis der literarischen Tätigkeit des Lukas. Er hat dafür eine ältere Tradition übernommen, die vermutlich in Kreisen der palästinensischen Urkirche entstanden ist und wohl zu den ältesten Ostergeschichten überhaupt zählt, weil sie noch nicht, wie später Matthäus in seinem Kapitel 28 die Erscheinung des Auferstandenen mit der Sendung der Jünger verknüpft. Lukas hat sie bearbeitet und mit anderen Ostertraditionen verknüpft: mit der Erwartung der Jünger, dass Jesus derjenige sei, der Israel erlösen sollte (V. 21), mit der Ersterscheinung des Auferstandenen vor Petrus (V. 34; vgl. 1 Kor 15) und mit der Erzählung vom gemeinsamen Mahl (V. 35). 

Stellung und Motive im Lukasevangelium 

Die Emmaus-Erzählung ist nicht nur die längste Ostergeschichte, sondern die längste Perikope im Lukasevangelium überhaupt. Diese Ausführlichkeit weist zusammen mit der exponierten Stellung am Schluss des Evangeliums darauf hin, dass Lukas diesem Text offenbar großes Gewicht verleihen wollte: In ihr fasst er die großen Linien seines Evangeliums zusammen. Dies erklärt die Vielfalt theologischer Aspekte und Motive, die hier anklingen und den Text mit anderen zentralen Texten im Lukasevangelium verflechten. An ihnen wird deutlich, wie bewusst und kunstvoll Lukas diese Erzählung gestaltet hat. 

eEin solches Motiv ist Jerusalem: Hier beginnt die Wanderung der beiden Jünger, dorthin zieht es sie wieder zurück. In der heiligen Stadt, nämlich im Tempel, nimmt das Lukas- Evangelium seinen Anfang; hier findet mit Kreuz und Auferstehung die Geschichte Jesu ihren Höhepunkt (V. 18); ausschließlich hier - anders als in den anderen Evangelien - ereignen sich die Erscheinungen des Auferweckten; in Jerusalem empfangen die Jünger den heiligen Geist (24, 47); in der Apostelgeschichte schließlich wird die Stadt zum Ausgangspunkt der weltweiten Mission (Apg 1,8). Ein anderes Motiv ist die Hoffnung der Jünger, „dass Jesus Israel künftig erlösen würde" (V. 20). Diese Hoffnung verbindet sie mit den Gestalten der lukanischen Vorgeschichte: mit dem Priester Zacharias (1, 68) und der Prophetin Hanna (2, 38), die beide auf die Erlösung des Gottesvolkes Israel warten. Ein drittes Motiv ist der Zwölferkreis: Die beiden Jünger gehören ihm zwar nicht an, stehen aber mit ihm in enger Verbindung (24,9.12f). Ihre Begegnung mit dem Auferstandenen wird noch am selben Tag mit der Erscheinung vor Simon Petrus und den Elf (24,33f) zusammengeführt. Ein weiteres Motiv ist der „dritte Tag": Am dritten Tag entdecken die Frauen das leere Grab, breitet sich die Kunde aus, dass Jesus lebt - und am „dritten Tag, seitdem das alles geschehen ist", begegnet den Jüngern der Auferstandene. Der Tag der Auferstehung Jesu wird so auch für sie zur Auferstehung aus Trauer und Zweifel hin zum Glauben und einem neuen Leben. 

Eine klassische Erscheinungserzählung 

Gattungsgeschichtlich gehört die Emmaus-Perikope zu den Erscheinungserzählungen. Diese setzen den Auferstehungsglauben voraus und suchen ihn zugleich im Nachhinein zu begründen und zu verkünden. Auf diesem Hintergrund wird speziell diese Erzählung auch als apologetische Legende verstanden. 

Erscheinungen des Auferstandenen werden in der Regel nur jenen Menschen zuteil, die schon zu Lebzeiten eine besondere Beziehung mit Jesus Christus verbindet: den Zwölfen, Maria von Magdala, den Jüngern - nicht aber Pontius Pilatus oder den Angehörigen des Hohen Rates. Denn das „Sehen", von dem hier die Rede ist, ist nicht ein übermächtiges Wunder, das den Glauben an Jesus als den Christus geradezu erzwingen würde, sondern ein Sehen im Glauben. Die neutestamentlichen Texte umschreiben es mit den gleichen Worten wie eine Gottesoffenbarung - „er zeigte sich" - und machen damit deutlich, dass die Initiative ganz auf Seiten Gottes beziehungsweise Jesu Christi liegt. Sie schildern es als totales Angegangen-Sein und Sich-in-Beschlag-genommen-Wissen der Betreffenden, das alles verändert. Gemeinsam ist allen Erscheinungserzählungen die Schwebe zwischen anfänglichem Nicht-Erkennen und späterem Erkennen, zwischen der spürbaren Gegenwart des Auferstandenen und seinem Sich-Entziehen, zwischen der konkreten Erfahrung seiner Leiblichkeit - bis dahin, dass die Jünger mit ihm essen oder der ungläubige Thomas seinen Finger in seine Wunde legt (Lk 24,35-48; vgl. auch Joh 21,1-14) - und der Schilderung, dass der Auferstandene durch verschlossene Türen eintreten kann (Joh 20,19-31). 

Die große Wende 

Die Emmaus-Erzählung ist, noch deutlicher akzentuiert als in den anderen Erscheinungserzählungen, bestimmt von der Erfahrung einer fundamentalen Wende: So wird aus dem beiläufig fragenden Wanderer der Deuter der Ereignisse, aus dem Gast der Gastgeber, der die anderen einlädt. Vor allem aber wird die Wende im Verhalten der Jünger manifest: Aus Unverständnis wird Erkenntnis, aus Blindheit und „Augen, die gehalten sind", ein neues Sehen, aus Ungewissheit Gewissheit, aus Trauer Freude, aus Verzweiflung Hoffnung, aus Ausgebranntsein brennende Herzen - aus verängstigten Jüngern werden mutige Verkünder der Botschaft. Ihrer inneren Umkehr ent spricht die äußere. Auf den Hinweg nach Emmaus, fort von Jerusalem, folgt spiegelbildlich der Rückweg in die Hauptstadt: Aus der Vereinzelung entsteht eine neue Gemeinschaft mit den anderen Jüngern, die in Jerusalem versammelt sind. Jetzt kann Neues beginnen - die Kirche. Begründet ist diese Wende in der Erfahrung des Auferstandenen: Jesus Christus ist nicht im Tod geblieben, sondern lebt! 

Die Jünger erfahren die Gegenwart des Auferstandenen in dreierlei Hinsicht: in der Gemeinschaft, in der Lesung und Auslegung der Schrift und im gemeinsamen Mahl. 

Die Erfahrung des Auferstandenen in der Schrift, im Mahl und in der Gemeinschaft 

Eigentümlich erscheint der Bezug auf die „Schrift", auf das Alte Testament. Die Emmaus-Erzählung deutet die Auferstehung Jesu auf dem Hintergrund der Schrift „von Mose und allen Propheten" her. Von daher ist es nur konsequent zu fragen: „Musste nicht der Christus solches leiden?" Nun wird im Alten Testament keineswegs die Auferstehung vorhergesagt. Die Erzählung nennt bezeichnenderweise auch keine Belegstellen. Wohl aber finden sich im Alten Testament Hinweise auf unschuldiges Leiden und die Erhöhung bei Gott: der leidende Gottesknecht bei Deuterojesaja (vgl. Jes 52,13ff; 53,11f), das Schicksal des Gerechten, der ungerecht verurteilt wird, das Schicksal der Propheten, die vielfach kein Gehör finden, verfolgt oder mit Schimpf und Schande aus dem Land gejagt werden - Andeutungen, die aus nachösterlicher Sicht im Schicksal Jesu ihre Erfüllung finden. Für Lukas wird das Geschehen von Kreuz und Auferstehung so zum Schlüssel für das Verständnis des Alten Testaments. Es ist ein heilsgeschichtliches „Muss", das hier zum Ausdruck kommt, der Heilsplan Gottes selbst. Das unterstreicht auch die Rede vom „dritten Tag", die mehr ist als eine Zeitangabe: Dahinter steht die alte jüdische Glaubenshoffnung, dass Gott den Gerechten nicht länger als drei Tage in Not lässt. Wenn sich alles am dritten Tag ereignet, so ist dies gleichermaßen ein Hinweis darauf, dass Gott selbst am Werk ist und handelt. Und die Leserinnen und Leser, die ersten Christen ebenso wie wir heute, lernen, dass das scheinbar widersinnige Kreuz Gottes Handeln entspringt, dass im Scheitern ein neuer Anfang enthalten ist, dass aus dem Tod Leben erwächst. 

Was sich in der Auslegung der Schrift andeutet, wird im Erleben des Mahles endgültig offenbar: Jesus lebt und ist mitten unter den Jüngern gegenwärtig. Die letzte Aufklärung wird gerade nicht erreicht durch Erklärungen, sondern durch ein Erlebnis: Sie erkennen ihn am Brechen des Brotes. Deutlich steht im Hintergrund die eucharistische Praxis der ersten Gemeinden. Hinzu tritt die Erfahrung der Gemeinschaft - „wenn zwei oder drei beisammen sind" -, die durch das Dazukommen des Fremden erst wirklich komplett wird: Mit gutem Grund bitten die Jünger ausdrücklich, dass er bei ihnen bleibe. Es ist zugleich die gute Erfahrung, Wegbegleiter zu haben. 

Die Emmaus-Perikope hat vermutlich deswegen so große Popularität erlangt, weil sich in den Emmaus-Jüngern Menschen heute in verschiedensten Situationen wiederfinden können. 

Emmaus heute 

Menschen, die Vertrauen und Zuversicht verloren haben, die hoffnungslos sind, denen der Boden unter den Füßen weggezogen wurde - und die wieder neuen Halt bekommen; Menschen, die „burnt out" sind - und die neu entflammt werden; Menschen, die in und von dieser Kirche enttäuscht worden sind - und die wieder zu ihr zurück finden; Menschen in der Depression - die wieder Lebensmut schöpfen; Menschen, die erfüllt sind von Zweifeln, ob denn das auch alles wahr ist, was der Auferstehungsglaube bekennt - und die dann doch einen Zugang zu dieser Wahrheit finden. 

In der Beschäftigung mit dem Wort der Schrift, im eucharistischen Mahl und in verschiedensten Wegbegleitern begegnen nicht nur die beiden Jünger dem Auferstandenen - es sind genau die Weisen, wie wir ihm heute begegnen können. So weist Lukas mit dieser Erzählung einen Zugang zum Auferstehungsglauben. Die Ostererscheinungen waren den Jüngern damals vorbehalten. Menschen von heute aber bleiben nicht einfach mit leeren Händen zurück: Wir begegnen dem Auferstandenen in den Menschen, die uns - als Kirche - auf unserem Weg begleiten, in der Schrift und in der Eucharistie. 

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