Alltag … drei Wochen vor Weihnachten„Du, lass dich nicht verhärten“

Der Gemeindebrief muss noch fertig gemacht werden … Sind die Gewänder für die Sternsinger schon in der Reinigung? Der Pfarrer muss die Weihnachtskarten noch unterschreiben! Vergiss nicht die Adventsfeier im Altenheim! Muss jetzt wirklich noch die dritte Beerdigung in dieser Woche kommen? Singt der Kirchenchor eigentlich in der Weihnachtsvesper? Übermorgen wird der Tannenbaum für die Kirche geliefert - wo soll der abgeladen werden? Ich muss noch in die Stadt, da finde ich garantiert wieder keinen Parkplatz! Bereitschaftsdienst Notfallseelsorge - hoffentlich bleibt es ruhig!

Weihnachten - eines der Hochfeste in der Kirche - und jedes Fest will vorbereitet sein, auch in der Kirche. Und entsprechend umtriebig geht es oft in den Gemeinden kurz vor Weihnachten zu. Aber war da nicht noch was? 

Donnerstagmorgen, 6.15 Uhr. Durch die schneidend-kalte Luft tönt Glockengeläut. Am Kircheneingang brennt eine Lampe, einzelne Autos fahren heran, Menschen in dicken Wintermänteln, mit Mützen und Handschuhen, begrüßen sich leise, die Kirchentür fällt leicht quietschend ins Schloss. In der Kirche ist es still, da sucht jemand was in seiner Manteltasche, dort knarrt eine Bank. Es ist dunkel, nur einzelne Kerzen flackern im Zugwind. 

Und dann plötzlich die Orgel mit den alten Weisen, „O Heiland, reiß die Himmel auf!" und „tauet, Himmel den Gerechten", die verheißungsvollen Worte, „ein Kind wird uns geboren, ein Sohn wird uns geschenkt", die vertrauten Gebete … Rorate … 

Und ich spüre, wie mich diese Stimmung plötzlich berührt und einfängt. Da ist soviel Dunkel im Leben von uns Menschen - und auch manchmal in meinem Leben. Da sind die einsamen Stunden, in denen man nicht mehr weiter weiß, die Last auf den Schultern zu groß wird und niemand da ist, der tragen hilft. Da ist die alte Mutter, an Alzheimer erkrankt, die nicht mehr weiß, dass ihr Sohn sie vor einer Stunde besucht hat. Da ist der greise Mann, der sterben will und nicht sterben kann. Ich sehe vor mir die weinenden Eltern, als ich mit der Polizei die Todesnachricht überbringe. Ich denke an das Trauergespräch, in dem ich, zusammen mit den Angehörigen, nur fragen kann „warum?". Barbara fällt mir ein, die mit ihren drei kleinen Kindern von ihrem Mann sitzen gelassen wurde, und der das Geld hinten und vorne nicht mehr reicht. Bernd hat die Kündigung bekommen, und er weiß ziemlich genau: Über 50? - Keine Chance! Simones Freund hat grad Schluss gemacht - und Peter, der kleine Ministrant da vorne am Altar, weiß noch nicht, ob er das mit dem Gymnasium wirklich packen wird. 

O komm, o komm Immanuel, befrei dein armes Israel! Möge Gott doch in all diese Dunkelheiten von uns Menschen hineinkommen, sich verströmen, sich vergießen, möge er all das Dürre in mir benetzen, mich neu beleben, die Wasser des Lebens in mir sprudeln lassen! 

Die alten Worte werden plötzlich zu meinen Worten, zu meinen Bitten, zu meinem Gebet … 

An diesem Morgen kann ich sie mir eingestehen, die Dunkelheiten meines Lebens, kann mich berühren lassen vom Dunkel der anderen, fühle mich im Schmerz verbunden, in der Angst, der Traurigkeit. 

Das ist nicht immer so. Und auch das hat seine Richtigkeit: ich kann nicht jeden Tod mitsterben, ich kann nicht jedes Problem lösen, nicht jede Einsamkeit nehmen. Ich komme in meiner Arbeit auch immer wieder an Grenzen - und diese Grenzen anzunehmen, das hat auch etwas mit Professionalität zu tun. Und Seelsorgerin zu sein, das braucht zwar die Nähe zu den Menschen, aber das braucht auch die Distanz. 

Die trauernden Angehörigen können sich dann im wahrsten Sinne des Wortes „getrost" in ihre Trauer hinein geben,wenn sie sich darauf verlassen können, dass ich mir meiner Rolle bei der Beerdigung sicher bin und aus dieser Sicherheit heraus den Ritus leite. Wenn ich diese Distanz nicht habe, weil mir ein Mensch einfach zu nahe war, ich zu sehr um seinen Tod trauere, dann kann ich auch diese Rolle als Leiter der Beerdigung nicht wahrnehmen. Wenn Monika weinend in meinem Büro steht, weil ihr grad alles zuviel wird, ihre pflegebedürftige Mutter, die behinderte Tochter, dann nehme ich sie natürlich erstmal in den Arm - aber um wirklich helfen zu können, darf ich nicht einfach nur mitweinen, sondern muss auch in der Lage sein, den Punkt zu erkennen, an dem ich sagen kann: „Und, was machen wir jetzt?".Und meine beraterischen Fähigkeiten mögen noch so gut sein - aber in meiner eigenen Familie kann ich nicht beraten, da bin ich Tochter und Schwester und damit Teil des Systems. Seelsorger sein ist auch eine Rolle - und braucht die Distanz. 

Und die Fülle an Leiden und Schmerzen, mit der wir gelegentlich konfrontiert sind, lässt uns manchmal auch gar keine andere Wahl. Beim fünften Trauergespräch in einer Woche werde ich zwar noch Anteil nehmend sein, aber werde insgeheim doch auf den Satz warten, der vielleicht ein Aufhänger für die Ansprache sein kann. Ein besonders heftiger Einsatz in der Notfallseelsorge will zuerst „verarbeitet" sein, bevor ich mir den nächsten Einsatz zumuten kann und will. Und wenn ich in meiner eigenen Familie mit Krankenhaus und Tod konfrontiert bin, dann muss es beruflich in solchen Tagen und Wochen nicht unbedingt auch noch sein. 

Dann ist bei aller Nähe gefragt, dass ich so distanziert sein und bleiben kann, dass ich handlungsfähig bleibe - im Interesse derer, mit denen und für die ich arbeite. 

Aber gerade diese notwendige Distanz kann es manchmal mit sich bringen, dass man auch abstumpft, das Leiden und die Schmerzen gar nicht mehr an sich heran lässt. Man vermeidet die Berührbarkeit, weil es weh tut, weil man keine Perspektiven mehr sieht, weil die Kraft nicht mehr reicht. Dann wird es hart in mir, unbarmherzig, dann wächst mir eine Hornhaut auf der Seele. Dann sehe ich den anderen nicht mehr als Mensch, sondern nur noch als „Fall", als zu lösendes Problem, als Punkt auf meiner „to-do-Liste". Und das ist nicht nur in den seelsorglichen Berufen eine Gefahr, sondern in allen helfenden Berufen, auch bei Pflegenden und bei Medizinern … 

Es gibt aber eine noch größere Gefahr: Es kann geschehen, dass ich auch die Berührung mit mir selbst vermeide, dass ich mir selbst und meinen Dunkelheiten gegenüber abstumpfe, mir selbst gegenüber hart werde, nur noch funktioniere, aber nicht mehr lebendig bin. 

Wie aber will ich auch nur ansatzweise die Schmerzen anderer verstehen, wenn ich selbst nicht mehr weiß, was Schmerzen sind? Wie will ich mich in das Dunkel der anderen hineinbegeben, wirklich hineinbegeben, wenn ich Angst vor meinem Dunkel habe? Wie will ich anderen vom Wasser des Lebens geben, wenn in mir alle Brunnen und Quellen versiegt sind? Wie kann ich Weinende trösten, wenn ich vergessen habe, wie man weint? 

Donnerstagmorgen, 6.15 Uhr: „Tauet, Himmel, den Gerechten, Wolken, regnet ihn herab!" Es ist meine bange Nacht, es ist meine Dunkelheit, es ist meine Angst, aus der heraus ich rufe. Es ist die Angst, dass es der Dunkelheiten zuviel sind, dass ich sie nicht mehr mittragen kann. Es ist die Angst davor, dass es in mir kalt und hart wird, die Lebendigkeit in mir verdorrt aus Angst vor den Schmerzen, dass ich austrockne, weil vor lauter Terminen und Aktivitäten die Quelle meines Lebens verloren gegangen ist. 

Gott, tau dich in die Dürre meines Lebens hinein! Mache lebendig, was in mir gestorben ist! Verströme dich in mir, in mich hinein! Lass nicht zu, dass ich hart werde und unbarmherzig! Nicht mir selbst - und nicht den anderen gegenüber! 

Und die Zeile eines Gedichtes fällt mir ein, die mein Bitten, mein lautloses Schreien auf den Punkt bringt: „Gib mir die gabe der tränen gott"! Lass mich weinen können,um mich, um die anderen. Regne dich auf mich herab, damit ich berührbar bleibe! Lass nicht zu, dass ich mich verstecke, vor mir selbst und den anderen! 

Und mit diesem Schrei öffne ich mich. Ich öffne mich für dich, Gott - tauet,Himmel, den Gerechten! Wolken, regnet ihn herab! Tau dich auf mich herab, tau dich in mich hinein! Regne dich in meine Trockenheit hinein! Tränke, was verdorrt ist! Schenk mir Hoffnung, lehre mich, mit meiner Einsamkeit umzugehen! Gib mir Mut gegen meine Angst, gib mir Hoffnung wider alle Hoffnungslosigkeit! 

Das ist Donnerstag, 6.15 Uhr, drei Wochen vor Weihnachten. Das ist Rorate. „Gib mir die gaben der tränen gott"!. Das ist nicht irgendein Gottesdienst, sondern das ist der Gottesdienst, in dem ich darum beten kann, dass ich die „gabe der tränen" nicht verliere, dass ich in all meiner notwendigen Distanz, die die Rolle mit sich bringt, doch Mensch bleibe, mich die Nähe zu mir und den Menschen lebendig sein lässt - auch wenn es manchmal weh tut. Dass mich die Angst vor den Schmerzen nicht die Berührung vermeiden lässt, dass ich „weich" bleibe und nicht hart werde. 

Gib mir die gabe der tränen gott 

gib mir die gabe der tränen gott 
gib mir die gabe der sprache 

Führ mich aus dem lügenhaus 
wasch meine erziehung ab 
befreie mich von meiner mutter tochter 
nimm meinen schutzwall ein 
schleif meine intelligente burg 

Gib mir die gabe der tränen gott 
gib mir die gabe der sprache 

Reinige mich vom verschweigen 
gib mir die wörter 
den neben mir zu erreichen 
erinnere mich an die tränen der kleinen studentin in göttingen 
wie kann ich reden 
wenn ich vergessen habe 
wie man weint 
mach mich nass 
versteck mich nicht mehr 

Gib mir die gabe der tränen 
gott gib mir die gabe der sprache 

Zerschlage den hochmut mach mich einfach 
lass mich wasser sein das man trinken kann 
wie kann ich reden wenn meine tränen nur für mich sind 
nimm mir das private eigentum 
und den wunsch danach gib und ich lerne geben 

Gib mir die gabe der tränen gott
gib mir die gabe der sprache 
gib mir das wasser des lebens

Dorothee Sölle 

„Ein Volk, das im Dunkel lebt, sieht ein helles Licht; über denen, die im Land der Finsternis sitzen, strahlt ein Licht auf." (Jes 9,1) 

Im Dunkel der Kirche strahlt noch kein helles Licht auf - und auch nicht in meinem Leben. Aber mein Blick fällt auf die Kerze vor mir, die notdürftig den Text des Liedes im Gesangbuch erhellt. Ich schlage das Buch zu - und sehe der kleinen Flamme zu. Ich will sie jetzt keiner Funktion unterordnen, sie ist nicht dazu da, um … zu …. 

Sie ist einfach da. Sie hat keinen Ehrgeiz, sie maßt sich gar nicht an, die ganze Kirche erhellen zu wollen. Sie brennt einfach vor sich, gibt sich und verschenkt sich. Und sie fragt nicht, was es bringt. 

Und doch - diese kleine Kerzenflamme wird zu einem Lichtpunkt im Dunkel. Meine Augen suchen sie, sie wärmt ein klein bisschen an diesem kalten Morgen, sie kann das Dunkel nicht vertreiben - und doch erzählt sie von der Hoffnung gegen alle Hoffnungslosigkeit, sie erzählt davon, dass es ein Licht gibt, das in unsere, in meine Dunkelheiten hinein kommt. 

Glaube ich noch an dieses Licht? Kann ich Gott voll Vertrauen noch all diese Dunkelheiten in mir und um mich herum hinhalten, damit er sie erhellen möge? 

Donnerstagmorgen, 6.15 Uhr, Rorate … das ist ein anderer Gottesdienst. Das ist ein Gottesdienst, in dem das Dunkel sein darf - das Dunkel meines Lebens und all die Dunkelheiten derer, die ich begleite. Das ist ein Gottesdienst, in dem ich nicht distanziert bleiben muss, auf eine Rolle festgeschrieben bin. Ich darf selbst meine Dunkelheiten vor Gott bringen, meine privaten und die beruflichen. Und ich darf erleben, dass da ein Licht brennt - all meinen Dunkelheiten und denen des Lebens zum Trotz. Auch wenn es im Zugwind manchmal ein wenig flackert … 

Rorate. Mich mit meinen Dunkelheiten vor Gott bringen, dem Dunkel trauen - weil Gott selbst mitten in dieses Dunkel hinein kommt. 

„Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns geschenkt!" (Jes 9,5) - darauf leben wir in diesen Tagen hin. Noch sind wir im Dunkel, noch sind wir in Erwartung, noch erflehen wir Regen und Tau - aber genau das ist unsere Chance: Damit wir „nicht verhärten in dieser harten Zeit" (W. Biermann). 

Donnerstagmorgen, 6.15 Uhr. Das ist Rorate. Das Dunkel zulassen, damit ein Licht leuchten kann … damit ich berührbar bin und bleibe … aller Dunkelheiten zum Trotz. 

Damit Weihnachten werden kann …

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