Optimismus und Realitätssinn in den Wachstumsgleichnissen Jesu„Von selbst bringt die Erde Frucht“ (Mk 4,28)

Jedes Kind kennt die Gleichnisse Jesu vom Sämann und vom Senfkorn, zumindest wenn es den Religionsunterricht oder die Kinderkirche besucht. Durch ihre anschauliche Bildsprache sind sie selbst dann noch verständlich, wenn landwirtschaftliche Vollzüge dem Alltag der meisten Menschen ferngerückt sind. Denn die Erfahrung, dass das Leben unverfügbar ist und sein Gedeihen nicht erzwungen werden kann, ist universal und kann für den Einzelnen jederzeit existenziell werden.

Fazit

Mit den Wachstumsgleichnissen der synoptischen Evangelien will Jesus seinen Jünger/-innen die Zuversicht vermitteln, dass ihre Bemühungen um das Reich Gottes nicht umsonst sind, wenn auch ihr Beitrag bescheiden und ihr Erfolg ernüchternd sein mag. Wie sich das natürliche Leben durchsetzt, so bricht sich auch das Reich Gottes Bahn und entfaltet sich überall dort, wo Menschen im Vertrauen auf Gott ihr Leben mutig in die Hand nehmen. Sie müssen aussäen, aber Gott lässt wachsen.

Die Wachstumsgleichnisse der synoptischen Evangelien sind kleine Erzählungen, die ein offenes Sinnangebot unterbreiten. Sie fordern ihre Hörer/-innen dazu heraus, die Geschehnisse der erzählten Welt in ihr eigenes Leben zu übertragen und Schlüsse für ihr eigenes Handeln daraus zu ziehen. In diese Richtung weist der wiederholte Höraufruf, der ein klares Transfersignal setzt: „Wer Ohren hat zum Hören, der höre!“ (Mk 4,9; vgl. 4,23) Diese Aufforderung ist eigentlich sinnlos, weil die Ohren keinen Schließmuskel haben. Gerade dadurch wird aber deutlich, dass es hier nicht um ein äußerliches Vernehmen, sondern um ein inneres Verstehen geht, das die Oberfläche der erzählten Welt durchbricht und zu einem tieferen Sinn vordringt. Allerdings wird dadurch auch das Tor zu wilden Spekulationen, die am Kern der Sache vorbeigehen, weit aufgestoßen. Um dem vorzubeugen, hat Adolf Jülicher (1857–1938), der Nestor der modernen Gleichnisforschung, die Regel aufgestellt, dass jedes echte Gleichnis von seinem eigentlichen Vergleichspunkt (lat. tertium comparationis) her zu interpretieren sei. Die Frage lautet: Was ist der springende Punkt der Erzählung? Darum muss sich dann auch die Deutung drehen, und darauf sind alle anderen Details der Erzählung zu beziehen.

Erfolg und Misserfolg

Das klingt einfacher, als es ist. Ob im Bibelkreis oder im akademischen Seminar, fragt man nach dem springenden Punkt des allseits bekannten Gleichnisses vom Sämann und dem vierfachen Ackerboden (Mk 4,3–8), schaut man nicht selten in ratlose Gesichter. Natürlich geht es nicht um Ackerbau, aber worum geht es dann? Was naheliegt, ist oft schwer zu erkennen, weil es einer gewissen Distanz bedarf, um die Dinge klar in den Blick zu bekommen. Im konkreten Fall fördert die Art der Erzählung ein weit verbreitetes Missverständnis. In vier gleich langen Erzählsequenzen werden vier verschiedene Böden erwähnt, auf die der ausgebrachte Same fällt: Weg mit Vögeln, steiniger Grund, Dorngestrüpp und guter Boden. Das verleitet zu der irrigen Annahme, als gingen drei Viertel des Samens verloren und nur ein Viertel gedeihe bis zur reifen Frucht. So fahrlässig wird jedoch niemals ein Bauer den kostbaren Samen vergeuden. Man muss sich vielmehr vorstellen, dass nur ein wenig danebengeht, während der weitaus größte Teil des Samens auf fruchtbare Erde fällt und dementsprechend Ertrag bringt. Dadurch verändert sich die Aussage entscheidend: Das Gleichnis ist nicht pessimistisch, sondern optimistisch gestimmt; es betont den überwiegenden Erfolg des Sämanns, ohne seinen Misserfolg zu leugnen. Dadurch wirkt es der menschlichen Neigung entgegen, mehr dem Scheitern nachzuhängen, als sich vom Gelingen beflügeln zu lassen. Für sich genommen handelt das Gleichnis von einer universalen Erfahrung, die Menschen aller Zeiten und Räume miteinander teilen.

Gottes Wort in unserem Ohr

Einen spezifischen Bezug zum Reich Gottes bekommt das Gleichnis erst durch die nachträgliche Deutung, die Jesus auf Rückfrage der Jünger hin gibt (Mk 4,10–20). Erfolg und Misserfolg stellen sich auch bei der Verkündigung des Wortes Gottes ein. Doch die Erklärung Jesu bleibt nicht auf diesen zentralen Punkt fokussiert, sondern gibt jedem einzelnen Erzählzug eine übertragene Bedeutung, indem die verschiedenen Ackerböden mit unterschiedlichen Menschentypen gleichgesetzt werden. Dadurch verschiebt sich die Perspektive und trübt sich merklich ein, weil Menschen ja oft durch Fremdbestimmung (Satan), Oberflächlichkeit (Stein) oder schlicht die Sorgen des Alltags (Dornen) daran gehindert werden, nach dem Wort Gottes zu leben und zu handeln. Plötzlich scheint es doch realistisch, dass dies nur einem Viertel der Menschen (guter Boden) gelingt, die dadurch als eher seltene Ausnahmen umso strahlender hervortreten. Für die Jünger/ -innen Jesu ist diese Auslegung des Gleichnisses zweifellos eine bittere Medizin, die ihnen deshalb nicht schmecken kann, weil sie den Misserfolg ihrer Bemühungen zur allgemeinen Regel macht. Gleichwohl ist sie heilsam, weil sie trügerischen Illusionen vorbeugt und vor Selbstüberforderung schützen kann. Wer das Wort Gottes verkündet, muss mit Enttäuschungen rechnen, ohne sich dadurch allzu sehr entmutigen zu lassen.

Gottes Werk und des Menschen Beitrag

Das folgende Gleichnis von der selbstwachsenden Saat ist ein seltenes Beispiel von markinischem Sondergut, das sich weder bei Matthäus noch bei Lukas findet. Auch inhaltlich sticht es dadurch hervor, dass es von einem unerschütterlichen Grundvertrauen in die natürlichen Lebensprozesse der Schöpfung Gottes getragen ist. Dieser unbändige Optimismus wird durch den einleitenden Satz auf das Reich Gottes übertragen: „Und er sprach: So ist das Reich Gottes, wie wenn ein Mensch Samen auf die Erde wirft und schläft und aufsteht bei Nacht und Tag und der Same aufgeht und wächst, sodass er es selbst nicht versteht. Von selbst bringt die Erde Frucht, zuerst den Halm, dann die Ähre, dann das volle Korn in der Ähre. Wenn aber die Frucht reif ist, schwingt er sogleich die Sichel, weil die Erntezeit da ist.“ (Mk 4,26–29) Für Jesus und seine Jünger/-innen, die das Reich Gottes auf Erden verbreiten wollen, bedeutet das, dass sie nur den Anfang machen können und müssen, indem sie den Menschen durch Wort und Tat Gottes heilsame Zuwendung nahebringen und sie auffordern, sich ihrerseits erneut auf Gott und seine Liebe zu besinnen. Ob dies am Ende gelingt, liegt nicht in der Macht und Verantwortung derer, die sich in den Dienst Gottes und seiner frohen Botschaft haben nehmen lassen. Sie können das Reich Gottes nicht herbeizwingen, aber sie dürfen darauf vertrauen, dass es seinen Lauf auch ohne ihr Zutun nehmen wird, sobald sie den Anfang gemacht haben. Was sie investieren, geht nicht verloren.

Realismus und Gottvertrauen

„Schön wär’s!“, wird da die eine oder der andere sagen. „Schön wär’s“, haben wohl auch schon einige im Umfeld des Matthäusevangeliums gesagt. Denn dort tritt an die Stelle des Gleichnisses von der selbstwachsenden Saat dasjenige vom Unkraut unter dem Weizen (Mt 13,24–30.36–43). Der grenzenlose Optimismus ist einem nüchternen Realismus gewichen, der mit dem Widerstand des Bösen bis in die eigenen Reihen rechnet. Vom guten Samen der Gottes- und Nächstenliebe geht nicht mehr nur ein Teil verloren, es wird auch mit allen Mitteln versucht, das Aufgehen der guten Saat zu verhindern, indem Misstrauen gesät und Hass geschürt wird. In dieser Situation besteht die Unkrautparabel darauf, dass Gottvertrauen nicht mit Naivität verwechselt werden darf. Es gibt das Böse in der Welt, und es hilft nichts, davor die Augen zu verschließen. Im Gegenteil kommt es darauf an, das Gute vom Bösen zu unterscheiden, damit am Ende nicht alles verloren ist. Allerdings  – und das ist die Pointe des Gleichnisses – muss man sich vor einer ungesunden Fixierung auf das Böse hüten, die mit ihrem unduldsamen Eifer genauso alles kaputtmacht. Bei aller notwendigen Unterscheidung der Geister bleibt die endgültige Trennung von Gut und Böse dem Endgericht Gottes vorbehalten. Bis dahin gilt es, nüchtern für das Gute zu arbeiten und sich von den Erfahrungen des Bösen nicht lähmen zu lassen – soweit das eben möglich ist. Entschiedene Christen sind weder Schwärmer noch Hardliner, sondern solche, deren Gottvertrauen trotz allem lebendig und mit Gottes Hilfe unerschütterlich ist.

Vom Senfkorn zum Weltenbaum

Das Gleichnis vom Senfkorn übernimmt Matthäus wieder von Markus und schwenkt damit erneut auf dessen optimistischen Gedankengang ein (Mk 4,30–32; Mt 13,31– 32). Der springende Punkt besteht nun darin, dass aus etwas Kleinem und Unscheinbarem etwas Großes und Bedeutendes werden kann. Das Reich Gottes ist zweifellos eine große Sache. Deshalb überrascht es zunächst, dass Jesus es mit einem Senfkorn vergleicht, das mit einem Durchmesser von ein bis drei Millimetern wirklich winzig ist. Die Senfstaude wird hingegen bis zu drei Meter hoch und gehört damit zu den großen „Gemüsepflanzen“, wie Markus sie nennt. Wenn Matthäus noch hinzufügt: „und es wird zu einem Baum“, dann ist das auf der Bildebene trotzdem stark übertrieben. Er sprengt das Bild jedoch mit Absicht, weil der Baum, in dessen Zweigen die Vögel des Himmels nisten, als Bild für große Weltreiche bekannt war (vgl. Ez 17,22–23; Dan 4,8–9). Ebenso weltumspannend wird das Reich Gottes sein, wenn Jesus seine Jünger/-innen auf der ganzen Welt gefunden hat (Mt 28,18–20). Auch dann noch wird es freilich so sein, dass es im Alltag oft unscheinbar daherkommt und sich überall dort verwirklicht, wo Menschen – ohne viel Aufhebens zu machen  – das Gebot der Liebe zu Gott und ihren Mitmenschen befolgen, indem sie den Bedürftigen Nahrung und Kleidung, Obdach und Beistand gewähren (Mt 25,31–46).

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