Das existenzielle Potenzial liturgischer Erinnerungskultur"Tut und hört dies zu meinem Gedenken"

Derzeit ereignet sich in allen europäischen Ländern ein Generationswechsel im Umgang mit Geschichte und den damit verbundenen Werten, Emotionen und Handlungsmustern. Die eine Erinnerungsgemeinschaft gab und gibt es nicht. Erinnerungsformen und Inhalte verändern sich permanent. Welche Rolle wird Erinnerung in unseren multikulturellen und vernetzten Gesellschaften spielen? An welche Ereignisse und Erzählungen wird sich eine europäische Gemeinschaft erinnern? Oder sollte sich der Blick nicht vielmehr in die Zukunft richten angesichts der globalen Flüchtlingsbewegungen, der Kriege und des Terrors, des bedrängenden Klimawandels, der knapper werdenden Ressourcen?

Fazit

Es bleibt eine Aufgabe des gläubigen Menschen, nicht teilnahmslos, quasi vom Sturm der Zeit gefangen, in die Vergangenheit zu schauen und dabei mit dem Rücken in die Zukunft geworfen zu werden. Feste und Feiern, Sakramente und Sakramentalien können die Zeit weder anhalten noch die Katastrophen der Weltgeschichte zu einem Besseren wenden. Die vielfältigen Liturgiefeiern sind vielmehr in ihrer anamnetischen Verfasstheit Beginn und Vorwegnahme einer neuen Welt, jener Herrlichkeit Gottes, in der die uneingelösten Versprechen der Geschichte aufgehoben sind.

Zukunftsfragen und Erinnerungskultur sind nicht gegeneinander auszuspielen. Erinnern ist grundlegend ein dynamischer Prozess, der von den gesellschaftlichen und kulturellen Kontexten geprägt wird und auf Zukunft ausgerichtet ist. Erinnerung will von den jeweiligen Menschen in ihrem Heute getragen sein. Ohne Resonanz auf die eigene Lebenswelt wird jedes Gedenken schnell zur lästigen Pflicht und wirkungslosen Routine, verkommt ein Denkmal zur wüst gewordenen Skulptur, verblasst ein Feiertag im Alltag.
Die Gefahr der Verflüchtigung und des Resonanzverlusts gilt umso mehr für den christlichen Glauben und das Gebet, für die Feier des Gottesdienstes, die Feste des Kirchenjahres als auch für Kirchenräume – alles Formen und Orte des Erinnerns, die im Kern einem biblischen Auftrag folgen: „Tut dies zu meinem Gedächtnis!“ (1 Kor 11,24) Der Anamneseauftrag beschränkt sich nicht auf die Feier der Eucharistie als danksagende und lobpreisende Erinnerung an das Paschamysterium Jesu Christi. Sinngemäß gilt er gleichermaßen für eine Wort-Gottes-Feier, für Sakramenten- und Segensfeiern sowie für das Stundengebet. Wer Liturgie im engeren und weiteren Sinn verstehen will, kann an der Kategorie der Anamnese, des wirkmächtigen Gedenkens des Heilshandelns Gottes, nicht vorbeigehen. Insofern lässt sich das Pauluswort erweitern und konkretisieren: „Tut und hört dies zu meinem Gedenken!“

Liturgie als ästhetische Gestalt des Glaubens

Liturgische Feierkultur realisiert sich als eine Ästhetik von Erinnerung und Erwartung. Das in allen Religionen und Kulturen auf unterschiedliche Weise ausgeprägte kulturelle Gedächtnis mit seinem Rückgriff auf die Denkwürdigkeiten der eigenen Religion bzw. Kultur lässt die gegenwärtig Lebenden in der Alltäglichkeit ihres Daseins einen umfassenden Sinn erkennen. Daher markiert das Eingedenken der Menschen in die durch Gott geheiligte Geschichte die wesentliche Grundvoraussetzung zur Gestaltwerdung von Liturgie. Im Kontext einer Gesellschaft bzw. einer spezifischen Kultur von Erinnerung zu sprechen, zielt wesentlich auf die Vergewisserung der innersten Ursprünge, der zentralen Überlieferungen und der jeweiligen Geschichte. Daran wird ein identitätsstiftendes Merkmal eines Zusammenschlusses von Menschen erkennbar, das in der Generationenabfolge bewahrt wird. Bestimmte Medien fungieren als Vermittlerinstanzen, insbesondere heilige Texte, heilige Orte und Zeiten, Realien und Riten. Bei der medialen Aufbereitung kultureller Ursprungsereignisse geht es aber weniger um das vergangene Ereignis als solches als um eine Deutung der Gegenwart, die im Gegensatz oder in Beziehung zur eigenen Geschichte und Lebenswelt steht.
In dieser Hinsicht ist die Liturgie eine Vermittlerinstanz zu den Denkwürdigkeiten des Christentums. So wie die Heilige Schrift in ihrer Kanonizität als schriftliches Zeugnis die Erzählungen und Überlieferungen des jüdischen und christlichen Glaubens in die folgenden Generationen weiterträgt, so lassen sich auch die vielfältigen Formen von Liturgie als Medien des christlich-kulturellen Gedächtnisses begreifen, indem sie den Glauben der Tradition im Heute der Gemeinde realisieren und aktualisieren. In diesem Sinne ist die Feier der Liturgie die ästhetische Gestalt des christlichen Glaubens.

Zwischen Lebenswelt und Glaubenstradition

Liturgie ist nicht bloße Erinnerung und Darstellung des Glaubens, sondern Aktualisierung des göttlichen Engagements von Erlösung in der Gegenwart. Nur in einer von der Gemeinde getragenen Erinnerungskultur kann aber die Ankunft des Unerinnerbaren und Unausdenklichen geschehen – sofern gezeigt und geglaubt werden kann, dass Christus als der in Erinnerung Gerufene sich selbst gibt. Das Gedenken des Paschamysteriums Jesu Christi bildet den theologischen Deutehorizont, auf den das aktive Zeitbewusstsein der Gläubigen in ihrer tätigen Teilnahme an der Liturgie verwiesen ist. Die unverfügbare Gnadengabe Gottes wirkt bereits dort, wo sich eine Person in die Gemeinschaft der an Jesus als den Christus glaubenden Generationen einbinden lässt und die eigene Lebensgeschichte von der überlieferten Geschichte des neuen und ewigen Bundes Gottes mit der Menschheit her neu zu verstehen beginnt. Rituelle Erfahrung ereignet sich im Dazwischen von menschlicher Lebenswelt und kirchlicher Glaubenstradition.

Das Zusammenspiel von Anamnese und Epiklese

Auf der Ebene der Dramaturgie der liturgischen Feier zeigt sich das unverfügbare Handeln Gottes durch den untrennbaren Zusammenhang von Anamnese und Epiklese. Durch die Anrufung des Heiligen Geistes als verwandelnde Kraft Gottes gibt die Gemeinde in ihrem Handeln von ihrem Bewusstsein Ausdruck, durch die rituelle Feier des Glaubens nicht bereits die reale Gegenwart des auferstandenen Gekreuzigten erwirkt oder symbolisch dargestellt zu haben. Liturgische Erinnerungskultur führt keine sonst nicht vorhandene Wirklichkeit herbei, sondern stellt die Lebenswelt quasi auf eine Bühne, um zur bewussten und qualifizierten Begegnung mit dem lebendigen Gott befähigt zu werden. Jesus Christus als den auferstandenen Gekreuzigten in den ästhetischen Ausdrucksformen der Liturgie gegenwärtig zu erfahren, ist keine rationale Schlussfolgerung, sondern eine Gabe des Glaubens.
Die Epiklese bildet jene liturgische Handlung, welche als Kehrseite der Anamnese das göttliche Element im gott-menschlichen Gedenken zur Sprache bringt. So wie die Christusanamnese die innere Einheit der verschiedenen Aspekte der Liturgie zusammenbringt, so wird in der Epiklese um die Vollendung des erinnerten und gegenwärtig geglaubten Heilswerks Christi gebetet. Der Heilige Geist als die eschatologische Gabe schlechthin realisiert das Zustandekommen des gesamten gottesdienstlichen Geschehens, indem er sowohl den Glauben der gedenkenden Gemeinde als auch die Verwandlung der dargebrachten Gaben sowie des verkündigten Wortes schöpferisch bewirkt. Es ist der hoffnungsvolle Glaube an die Verheißungen des Auferstandenen, der den entscheidenden Grund dafür liefert, in den sinnlich wahrnehmbaren Ausdrucksformen der Liturgie zugleich eine Vorahnung von der Herrlichkeit Gottes zu erblicken. Die liturgische Versammlung ist daher das vornehmste Zeichen der zukünftigen Herrlichkeit Gottes auf Erden.

Ein neues Unbehagen

Erinnerungskultur steht derzeit unter massivem Legitimationsdruck. Die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann (* 1947) spricht von einem neuen Unbehagen und einem Wendepunkt gegenwärtiger Erinnerungskultur, bedingt durch den Tod der letzten Zeitzeug/-innen des Zweiten Weltkrieges und der Shoah sowie den Verlust der Deutungshoheit der 68er-Generation über die neuen Erinnerungsformen. Hinzu kommen weitere Faktoren: die zunehmende Medialisierung und Digitalisierung von Erinnerung, die durch Migration veränderte Zusammensetzung der deutschen Gesellschaft oder das zunehmende Erstarken nationalistischer Kräfte und Haltungen.
Auch religiöse Erinnerungskultur ist von diesem Wandel betroffen. Besonders offensichtlich wird dies am Stellenwert der sogenannten Theologie nach Auschwitz. Während von Persönlichkeiten wie Elie Wiesel (1928–2016) oder Johann Baptist Metz (1928–2019) weitreichende Impulse einer Neuen Politischen Theologie ausgingen, blieben langfristige theologische Umbauprozesse aus, etwa in Fragen der Christologie und Soteriologie. Vielmehr entzündet sich an den von Metz geprägten Begriffen wie Compassion oder anamnetische Solidarität ein neues Unbehagen, auch aus jüdischer Perspektive, wenn darunter eine „opferidentifizierende Erinnerung“ (Ulrike Jureit/Christian Schneider) verstanden wird. Was aber Metz fordert, ist keine Totalidentifikation mit den Opfern; er erhebt vielmehr den ethischen Anspruch „Nie wieder Auschwitz!“. In diesem Sinn ist der Leitsatz einer opferzentrierten Erinnerung zu verstehen, das bedeutet: Über Auschwitz hinaus kommen Christ-/innen nicht mehr allein, sondern nur noch mit den Opfern von Auschwitz. Genau dieser Geschichtsimperativ scheint derzeit verblasst zu sein. Ob Auschwitz zudem eine theologische Zäsur war, muss bezweifelt werden.

Geschichtsdispositiv versus Ereignisdispositiv

Nicht nur die Neue Politische Theologie und der christlich-jüdische Dialog sind als herausragende Formen christlicher Erinnerungskultur erlahmt. Noch grundsätzlicher wird in einigen Strängen der Theologie an die Stelle des sogenannten Geschichtsdispositivs das Ereignisdispositiv gesetzt. Für diesen Paradigmenwechsel hat sich der Tübinger praktische Theologe Michael Schüßler (* 1972) ausgesprochen. Im Hintergrund steht die soziologische Beobachtung, dass die Geschichte immer weniger als Deutungsfolie für gegenwärtiges Erleben zur Verfügung steht.  Geschichte im Sinne eines linearen Prozesses der Weitergabe von Erfahrungen ist selbst zum Problem geworden. Wesentlicher ist die Gegenwart, das Hier und Jetzt, das immer anders und deshalb auch immer wieder neu zu deuten und zu verstehen ist. Und diese Deutung der Gegenwart geschieht immer seltener mit überlieferten Erfahrungen und erinnerten Erzählungen früherer Generationen, die einerseits selbst Konstruktionen sind und andererseits dem Neuen und Anderen keinen Platz lassen würden.
Für die Feier der Liturgie hat diese Gesellschaftsanalyse weitgehende Konsequenzen, vor allem im Hinblick auf die Relevanz kontingenter Glaubenstraditionen für die rituell vermittelte Deutung von Leben und Welt sowie für das Generieren neuer, ereignisbasierter Erfahrungen. Anders gesagt: Es geht um die existenzielle Relevanz von Anamnese bzw. Vergegenwärtigung von Heilsgeschichte im Heute menschlicher Lebenswelt. Bei liturgischer Anamnese handelt es sich allerdings nicht um ein rein passives Sich-Hineinstellen in die Vergangenheit, sondern um eine diachrone Verschränkung der Zeiten, also um eine kairologische Zeiterfahrung, die neben der Heilsgeschichte auch die Heilszukunft, das Unvorhersehbare und Unsagbare, einschließt und von diesen beiden Polen den Deutungsrahmen für das hodie, das je neue und einmalige gottesdienstliche Ereignis, vorgibt. In Rezeption des Ereignisdispositivs betont der Bonner Liturgiewissenschaftler Andreas Odenthal (* 1963) deshalb den Gedanken der Differenz. Zwischen Lebenswelt und Glaubenstradition bleibt immer eine Differenz – so auch zwischen der erinnerten Heilsgeschichte und ihrer im Ritual vergegenwärtigten Feier. Damit wird die Eigenständigkeit heutiger ereignisbasierter Erfahrungen aufgewertet, gleichwohl in spannungsgeladener Balance zur Heilsgeschichte, zu dessen fortwährender Erinnerung der Mensch aufgefordert und eingeladen ist.

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