Damit die Balance eine Chance hat„Und das Ausatmen nicht vergessen!“

In meiner Kindheit war am Sonntagnachmittag der obligatorische Spaziergang angesagt: Mit dem Auto fuhren wir in den Taunus, auf einem Parkplatz wurde dann das Auto abgestellt – und die Familie spazierte los. Aber schon nach einigen Metern blieb mein Vater stehen, hob die Arme und sagte bedeutungsvoll und etwas theatralisch: „Und jetzt ganz tief ein…atmen!“ – und atmete laut und tief ein. Und dann kam immer der Satz „… und das Aus…atmen nicht vergessen!“ – und dabei blies er durchaus hörbar seinen Atem wieder in die Welt hinaus. Ich fand das irgendwie ein bisschen peinlich – und tat in diesem Moment immer so, als ob ich nicht dazugehören würde. Aber diese beiden Sätze sind mir gut in Erinnerung geblieben – auch wenn es fast sechzig Jahre her ist.

Recht hatte mein Vater, wie bei so manchem, was ich als Kind etwas lächerlich oder komisch fand, aber im Laufe der Jahrzehnte doch schätzen gelernt habe. Ein- und ausatmen, das machen wir normalerweise eher unbewusst, eigentlich atme gar nicht ich, sondern „es atmet“ in mir. Man kann nur begrenzt darauf Einfluss nehmen, wenn man zum Beispiel für eine gewisse Zeit die Luft anhält, aber man kann sich nicht entscheiden, gar nicht mehr zu atmen. Und auch wenn wir bewusst auf unseren Atem achten, gelingt das in der Regel nur für eine kurze Zeit, dann „atmet es“ einfach wieder weiter. Tief Luft holen, das tun wir manchmal, wenn wir etwas „Gutes“ riechen – der Geruch eines Lagerfeuers oder von gemähtem Gras, eines frisch gebackenen Kuchens oder eines trockenen Rotweins im Glas. Dann möchten wir das regelrecht in uns aufsaugen. Bewusst ausatmen – das machen wir seltener. Manche kennen es von Situationen, die Druck oder Stress verursacht haben – wenn die Spannung vorbei ist, dann atmet man ganz tief aus.
Beides aber ist wichtig und notwendig. Beim Einatmen holen wir uns mit der Luft den Sauerstoff – beim Ausatmen geben wir die verbrauchte Luft und damit Kohlendioxid wieder her. Das „Frische“ und „Neue“ hat nur dann Platz, wenn das „Alte“ und „Verbrauchte“ losgelassen wird. Und das gilt auch für unser Leben: Wir können nicht immer nur nehmen und behalten, sondern müssen auch loslassen und geben. Ein- und Ausatmen, das steht für den ewigen Rhythmus des Seins – nehmen und geben, bekommen und loslassen, Fülle und Leere, Ebbe und Flut, Leben und Tod. Wir sind ausgespannt zwischen diesen Polen – und genau diese Spannung erzeugt erst Lebendigkeit in einem umfassenden Sinn. Wer sich nur auf einen Pol begrenzt, wer immer nur das eine will oder tut, ohne dem anderen Raum und Zeit zu geben, der verkümmert an Leib und Seele. Gefragt ist ein Hin- und Herschwingen zwischen dem einen und dem anderen, durchaus ein bisschen tänzerisch – im Wissen, Ahnen, Spüren, dass es „für alles eine Zeit gibt“, wie es in der Bibel heißt, ja, geben darf und geben muss.

Einseitige Polarisierung

Viele Krisen, Konflikte und Probleme, die Menschen belasten, hängen möglicherweise damit zusammen, dass wir dieses Gesetz des Lebens zu oft ignorieren und einseitig auf den Pol des „Habens, Nehmens, Bekommens“ setzen. Die angeblichen Wertig- und Wichtigkeiten scheinen klar zu sein: Es geht um Besitz, Wachsen, Gewinn, Bedürfnisbefriedigung, Macht, Ansehen. Das aber sind Dinge, die auf der Seite des „Einatmens“ stehen, auf der Seite des nur „etwas in mich Aufnehmens“. Um etwas zu bekommen, mißbraucht man seine Macht; um Gewinne zu maximieren, wird Raubbau an der Natur betrieben. Wer sich nur darüber definiert, was er hat, wird nie genug kriegen, von was auch immer, und grenzenlos konsumieren. Und diese scheinbare Komfortzone wollen manche nicht verlassen.
Das ist ein Verhalten, das man auch bei Gruppen, Kulturen und Institutionen finden kann, die von solch einem Denken bestimmt sind. Sie sind eher „Einatmer“ im Sinne eines falsch verstandenen „Macht euch die Erde untertan!“ – und dann kann es durchaus vorkommen, dass ein Staat kurzerhand das Nachbarland überfällt, um es zu seinem Besitz hinzuzufügen.
Auch kirchliche Organisationen können gelegentlich so „ticken“. Dann geht es um Macht, Prestige, Einfluss – koste es, was und wen es wolle. Aus früheren Zeiten könnten einem da die Kreuzzüge, die Inquisition oder die eine oder andere zweifelhafte Form von Mission einfallen. Und auch heute könnten manche Diskussionen auch im Kontext des Synodalen Weges vielleicht noch in diese Richtung zeigen: Wer hat das „richtige“ Gottes-, Menschen- und Kirchenbild? Wer nimmt für sich die Deutungshoheit in Anspruch? Oder ganz provozierend gefragt: Wenn die Spendung eines Sakramentes an Bedingungen gekoppelt wird – ist es dann noch ein Dienst an den Menschen oder vielleicht doch schon „Ausübung von Macht“?

Formen der Spiritualität

Möglicherweise gibt es auch persönliche Formen von Spiritualität, die eher vom „Einatmen“ bestimmt sind: wenn es Menschen mehr um ein gutes Gefühl als um Gott selbst geht oder um das Bild eines guten Christen, das andere von einem haben sollen. Manche setzen sich dabei selbst absolut und reduzieren Gott zum „Gebetserfüller“ und ihren Glauben zur „Versicherung für alle Fälle“.
Macht haben, besitzen wollen – diese Versuchung des Menschen gab es schon bei Adam und Eva im Paradies, der Teufel probiert es bei Jesus in der Wüste – und heute will uns die Werbung damit zum Kaufen verführen.
Einatmen an und für sich ist nicht schlecht, ist sogar lebensnotwendig. Es kommt auf das Maß an und auf das „wie“. Aber es gibt den Punkt, an dem etwas Gutes durch das „Zuviel“ plötzlich zum Schlechten wird. Bei Panikattacken versucht der Körper verzweifelt, etwas zu „bekommen“, es wird zu viel und zu schnell eingeatmetet – aber zu wenig Kohlendioxid abgegeben. Und dann kann es gefährlich werden. Auf das Leben hin übertragen, könnte das heißen: Aus einem gesunden Selbstbewusstsein, also „sich-seiner-selbst-bewusst-sein“, kann Egoismus und Narzissmus werden, das natürliche Bedürfnis nach Ansehen kann in eine Profilneurose umschlagen und Macht kann dazu missbraucht werden, dass sie für die eigenen Interessen eingesetzt wird statt zum Wohle anderer.
Deshalb braucht es zum Einatmen den Gegenpol, das Ausatmen, das Hergeben und Loslassen: sich begrenzen, Mut zur Kleinheit, sich in Dienst nehmen lassen, Verzicht, Ohnmacht. Und vielleicht, um es mit einem alten Wort zu sagen, Demut …

Einladung zum Ausatmen

Die Einladung zum Ausatmen könnte auch eine Erlaubnis sein: Ich darf loslassen, ich muss nicht alles haben, machen, tun, ich muss nicht perfekt sein. Diese „Kunst des Ausatmens“ wird überspitzt in einem alten Witz deutlich: Da wird einer gefragt, „Und was wirst du so machen, wenn du in Rente gehst?“ – „Die ersten vierzehn Tage setze ich mich einfach in meinen Schaukelstuhl!“ – „Und dann?“ – „Dann fang ich langsam an zu schaukeln …“ – ausatmen hat viel mit Gelassenheit zu tun. Mit „lassen“ eben – und nicht damit, gestresst irgendwelchen Idealen hinterherzujagen oder „To-do-Listen“ abzuarbeiten. Ich kann Abschied nehmen von den „Allmachts-Phantasien“ und davon, dass ich alleine die Welt retten kann oder muss. Ausatmen – das ist zur Ruhe kommen, in die Stille gehen, Zeit haben.
Dazu gehört auch, Grenzen anzunehmen und zu akzeptieren. Ich kann nicht immer noch mehr haben wollen, sondern muss anerkennen, dass Platz, Zeit und Raum nur begrenzt verfügbar sind. Das gilt für die Banalität eines Kleiderschranks genauso wie für meinen Terminkalender oder die Menge an Themen, Begegnungen, Projekten …, die in mein Leben hineinpassen.
Zum bewussten „Ausatmen“ könnte auch Verzichten gehören, bewusst etwas nicht haben oder machen wollen. Muss es wirklich das zwölfte Paar Schuhe sein, unbedingt das neueste Handy-Modell, der Urlaub mit dem Flieger? Kann man nicht vielleicht doch auf die Fahrt mit dem Auto verzichten und stattdessen die Bahn nehmen (inkl. Abenteuer-Garantie)? Muss ich zu allen Anfragen „ja“ sagen und mich damit schon wieder selbst unter Druck setzen – oder trau ich mich, auch einmal „nein“ zu sagen?
Spirituell könnte „ausatmen“ vielleicht heißen: nicht machen, sondern einfach sein. Es geht nicht darum, vor Gott irgendein „Arbeits-“ oder „Gebetspensum“ abzuarbeiten, sondern sich der Gegenwart Gottes bewusst zu sein. So wie ich in einer Begegnung mit einem guten, vertrauten Freund loslassen kann, keine Rolle spielen, nichts beweisen oder können muss. Und genau so kann ich Gott einfach Gott sein lassen, als den ganz anderen, den Unverfügbaren, statt ihn nach meinem Bild zu formen und ihn für meine Interessen und Bedürfnisse vor meinen Karren zu spannen. Ausatmen – dann könnte man auch erkennen, dass Gott und Kirche nicht unbedingt deckungsgleich sein müssen – um es mal vorsichtig zu sagen. „Einatmen“, also Leidenschaft für Gott und den Glauben einerseits – und auf Kirche hin könnte vielleicht ein wenig mehr „Ausatmen“, also Gelassenheit hilfreich sein.
Und für die Institution Kirche selbst? Da wäre vielleicht auch etwas mehr Ausatmen angesagt. Nein, es kommt nicht auf Zahlen und Statistiken an, sondern darauf, wie wir als Christen in unsere Welt hinein wirken. Es geht nicht darum, dass wir selbst gut da stehen, sondern ob wir Menschen eine frohe und befreiende Botschaft weitergeben. Dazu kann auch gehören, dass wir den anderen anders sein lassen, Vielfalt ermöglichen, Buntheit als Bereicherung und nicht als Bedrohung erleben. Doch, Kirche kann und darf Macht haben, sie soll und darf etwas „machen“ können. Aber eine solche Macht steht im Dienst Gottes und der Menschen. Und wenn wir das nicht tun, sondern diese Macht missbrauchen, in welcher Form auch immer, dann verraten wir unseren Auftrag als Kirche.

Die Balance finden

Die Einladung zum „Ausatmen“ ist kein Plädoyer gegen das „Einatmen“. Es wäre genauso fatal, sich nur noch auf das Loslassen und Hergeben zu begrenzen. Geben kann ich nur etwas, was ich habe – und ausatmen kann ich nur, wenn ich auch einatme. Wer nie einatmet, kann auch nichts ausatmen, und verzichten kann ich nur auf etwas, was ich habe oder haben könnte. Oder um es noch einmal in einem anderen Bild zu sagen: Wenn ein Baum Früchte tragen soll, muss ich ihm auch das Blühen ermöglichen.
Wir brauchen beides – und nur, wenn es beides gibt, kann es sich gegenseitig auch entsprechend relativieren und in der Waage halten. Es braucht einen Rhythmus des Lebens, in dem es Zeiten des Einatmens und des Ausatmens gibt – und damit wären wir eigentlich bei einer uralten spirituellen „Idee“, dem jüdischen Sabbat und davon ausgehend dem christlichen Sonntag. Die Idee heißt ganz einfach: Da gibt es einen Tag, der sich von den anderen unterscheidet, der anders ist. An dem tut man nicht das, was man sonst tut, sondern „unterbricht“ sich. Der Sabbat/ Sonntag verhindert, dass aus Aktionen Aktivismus wird, er ermöglicht das Ausatmen und Loslassen. Aber er setzt eine solche Haltung zugleich nicht absolut – sondern schafft erst die Identität für das eine durch das jeweils andere. Wir „trainieren“ quasi einen Rhythmus, der uns dann auch im Alltag tragen kann.
Vielleicht können diese Sommerwochen, die für viele eher Wochen des „Ausatmens“ sind (wenn sie nicht gerade mit Zeltlager & Co. beschäftigt sind), eine Chance sein, einmal etwas genauer auf mein Leben hinzuschauen: Wann, wo und wie und vor allem was atme ich ein – und wie sieht es mit dem Ausatmen bei mir aus? Ist beides miteinander in Balance? An dieser Stelle könnte aber ein gesundes Misstrauen sich selbst gegenüber angebracht sein – manches, was ich spontan auf der einen Seite verbuchen würde, gehört vielleicht doch auf die andere Seite … und hinter manchem angeblichen „Hergeben“ könnte eventuell doch ein „Habenwollen“ stehen.
Möglicherweise wäre es eine Idee für diese Wochen, sich ab und an einfach des eigenen Atems bewusst zu werden und zu sein. Hildegard von Bingen soll gesagt haben: „Mein Atem ist mein Gebet!“ – ich atme ein, ich nehme, Gott, was du mir schenkst – und atme aus, gebe es her, gebe es weiter an andere.
Ach ja, übrigens: Der allerletzte Atemzug meines Lebens wird ein Ausatmen sein … loslassen.
Und dann bietet es sich ja durchaus an, dies schon vorher ein wenig einzuüben.

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