Glaubensweitergabe in einer befreienden PerspektiveGegenwartssensibel und dialogisch – und deshalb hoffnungsvoll

Die Problemanalysen zum Zustand der kirchlichen Verkündigung in Deutschland liegen vor. Egal ob Erik Flügge, Philipp Gessler und Jan Feddersen oder andere: Die Unzufriedenheit über den Zustand kirchlicher Verkündigung und die journalistischen und kommunikationstheoretischen Analysen des Problems sind präsent. Sie sind sich einig, dass kirchliche Sprachspiele bis zur Unerträglichkeit abgenutzt und zu leeren Floskeln verkommen sind.

Die krisenhafte Situation besteht zudem konfessionsübergreifend, wenn auch mit spezifischen Facetten. Angesichts einer Vielzahl gut gemeinter Tipps und Hinweise steht die kirchliche Verkündigung jedoch grundsätzlich und immer vor dem Dilemma, dass sie einen Gott verkündet, der sich nicht einfach in menschliche Worte fassen lässt. Und sie soll eine Glaubensweitergabe praktizieren (im vermeintlichen Idealfall sogar über Kultur- und Generationengrenzen hinweg), wo sich im 21. Jahrhundert Glaubenswege individualisieren und Glauben ohnehin noch nie mit Tricks und Marketingstrategien erzeugt werden konnte.
Trotz der Problemanalysen bleibt die Suche nach gelingenden, das heißt überzeugenden Ansätzen und Beispielen der Glaubensverkündigung und -weitergabe ein offenes Projekt.

Von der Unabgeschlossenheit der Poesie lernen

In jüngerer Zeit hat Hans-Joachim Höhn (Höhn, 2022) mit dem Ansatz einer „poetischen Gottesrede“ die Potenziale aufgezeigt, die sich aus theologischen Seitenblicken ergeben können. Der Poesie ist, so sehr sie als schmales Randsegment öffentlicher Kommunikation und literarischer Genres gelten muss, ein wichtiges Element eigen: Sie bearbeitet Themen und Gedanken nicht abschließend. Darin unterscheidet sie sich von vielen theologischen Ansätzen, auch von den mit viel Euphorie betriebenen charismatischen Evangelisierungsprojekten, denen der schale Beigeschmack des theologischen Populismus anhaftet. Ihre Vertreter/-innen mit charismatischer Prägung nerven bisweilen mit ihrer Penetranz und produzieren eine Mischung aus Lockerheit und theologischer Naivität. Vor dem Hintergrund der vielen gut gemeinten Versuche wird es klug sein, auf eine komplette Lösung des Problems zu verzichten. Zu vielschichtig sind Gründe und Hintergründe für das hinlänglich beschriebene Problem. Unübersehbar ist deshalb, dass es nicht genügt, die Krise der kirchlichen Verkündigung durch eine bloße Optimierung ihrer Techniken zu bearbeiten. Sie ist auch Ausdruck des gestörten Verhältnisses von katholischer Theologie und spätmodernen Gesellschaften.
Deshalb sollen auch hier nur zwei Elemente benannt werden, die als unterschätzte und verkannte Säulen der Glaubensverkündigung gelten können. Sie müssen nicht zu jeder Predigt, jedem Artikel im Pfarrbrief oder jedem Workshop mit Firmbewerber/-innen gehören. Aber sie sollten unumgänglicher Bestandteil der Vorbereitung dieser Verkündigungsformate sein und zumindest immer wieder in die Versuche der religiösen Rede und kirchlichen Verkündigung einfließen.

Gesellschaftsrelevanz der christlichen Gottessuche

Zu den großen und unterschätzten Krisenphänomenen der katholischen Kirche gehört ein Eigenleben in Liturgie und Verkündigung, bei dem es immer noch möglich ist, Gottesdienste und Veranstaltungen in weitgehender Loslösung vom gesellschaftlichen Kontext zu gestalten. Eine Predigt und eine Liturgie, in der die konkreten Gegenwartsfragen nicht einmal exemplarisch aufgegriffen werden, verkommen zu einem Unglaubens-Zeugnis und zu einer „Häresie der Form“. Denn sie suggerieren, man könne dem christlichen Glauben Ausdruck geben, ohne dass dies mit dem Interesse an den Nöten der Mitmenschen verbunden wäre. Um diesen eklatanten Missstand zu vermeiden, wird jede Predigtvorbereitung von einem zentralen Arbeitsschritt begleitet sein: von der Frage, was die Menschen in dieser Woche besonders bewegt hat.
Was harmlos erscheint, trainiert die eigene Wahrnehmungskompetenz und sondiert Fragestellungen, die sich nicht aus dem Binnenbereich von Kirchenjahr und liturgischem Kalender ergeben. Natürlich werden nicht alle Themen und Fragestellungen in das jeweilige Verkündigungsformat Eingang finden: manche Themen sind bereits journalistisch ausreichend bearbeitet und kommentiert; manche Themen gehören besser in einen Vortrags- und Diskussionsabend. Das Sondieren von Themen geht also auch mit der Entscheidung einher, sie lieber nicht aufzugreifen oder an andere Stellen zu verweisen. Das ist nicht nur legitim, es ist notwendig. Aber immer wieder wird es auch hilfreich sein, wenn Prediger/-innen Bezüge zwischen den biblischen Glaubenstraditionen, der eigenen Glaubenssuche und aktuellen Gegenwartsfragen herstellen. Dieses Vorgehen ist Ausdruck für das Bemühen um Gegenwartsrelevanz. Wo erkennbar wird, dass Prediger/-innen um diese Bezugsetzungen ringen, entsteht bereits Glaubenszeugnis.
In seinem Buch „Was jetzt möglich ist“ hat Navid Kermani 33 Texte neu veröffentlicht, mit denen er im Lauf von drei Jahrzehnten politische Ereignisse für unterschiedliche Zeitungen kommentiert und eingeordnet hat. Es sind geistreiche Wahrnehmungen eines politisch aufmerksamen Menschen mit sprachlicher Virtuosität. Er verweist auf die in Deutschland schnell vergessenen Opfer des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan. Oder er identifiziert in den teils angestrengten Debatten um geschlechtergerechte Sprache die femininen Gottesvorstellungen. Und er lässt Menschen zu Wort kommen, wie Olga, eine Geschäftsfrau aus dem zerstörten Mariupol in der Ukraine. Nach den bisherigen Kriegserlebnissen beschreibt sie ihre Hoffnung auf eine künftige berufliche Tätigkeit im europäischen Kontext.
Was die politischen Kommentare von Navid Kermani mit kirchlicher Glaubensverkündigung zu tun haben, ließe sich fragen. Sehr viel! Denn hier spricht und schreibt ein Mensch mit großer Sensibilität für gesellschaftliche Entwicklungen und mit dem Blick auf Menschen in schweren Lebenssituationen. Sie wahrzunehmen und ihre Erfahrungen und Biographien zu erzählen, durchzieht die gesellschaftlichen Kommentare mit etwas Hoffnungsvollem. Es ist genau diese Sensibilität und Aufmerksamkeit, die auch für eine kontextualisierte und gegenwartssensible Glaubensverkündigung konstitutiv ist, wenn sie nicht als vermeintlich überzeitliches Katechismuswissen daherkommen soll. Wo religiöse Rede unter dem Anspruch steht, das Evangelium Jesu mit den Existenzfragen der Gegenwart in Bezug zu setzen, ja, das eine mit dem anderen immer wieder neu zu konfrontieren, braucht es das Training der gesellschaftlichen Gegenwartswahrnehmung. Navid Kermani und andere erscheinen darin als Lehrmeister par excellence. Mit ihm ist ein zentrales Element jeder Gestaltung von Glaubensverkündigung in der Identifizierung aktueller gesellschaftlicher Themen und Fragestellungen auszumachen. So gehört zu jeder Predigtgestaltung, zur Vorbereitung von Religionsunterricht und Katechese in jeder Woche neu die Frage: Was beschäftigt die Mitmenschen und Zeitgenoss/-innen und in welchen Themen wäre eine dezidiert christliche Perspektive? Wo zumindest diese Frage immer wieder aufgeworfen wird, stellt sie sicher, dass die Rede von christlicher Hoffnung nicht auf eine Glaubensrealität jenseits der aktuellen Bedrängnisse und existentiellen Dilemmata ausgerichtet ist, sondern sich mitten in ihnen zu bewähren hat. Erst damit lässt sich vermeiden, dass die christliche Gottesrede nicht gegenüber den je aktuellen Leiderfahrungen imprägniert und abgehoben wirkt. Der Einbruch aktueller Lebensrealitäten und gesellschaftlicher Debatten in die unterschiedlichen Genres der kirchlichen Verkündigung ist deshalb bereits ein implizites Glaubensbekenntnis zu einem Gott, der/die selbst in der Menschwerdung die konkrete Nähe zu diesen Erfahrungen sucht. Das Anliegen ließe sich als Praktische Politische Theologie verstehen, die sich als Konsequenz aus der Menschwerdung Gottes ergibt.

Gastlichkeit gegenüber den Andersdenkenden

Die Kommunikationskulturen des 21. Jahrhundert zeichnen sich vor allem durch dialogische und partizipative Elemente aus. So sind viele Menschen durch digitale Medien längst daran gewöhnt, eigene Kommentare in Diskussionsforen einbringen und Themen für einen nächsten Podcast vorschlagen zu können. Traditionelle Formen der kirchlichen Verkündigung erscheinen neben diesen dialogischen und partizipativen Ansätzen oftmals geradezu anachronistisch. Sie wirken in ihrem gesellschaftlichen Umfeld nicht selten anachronistisch, wenn sie lediglich als lineare Mitteilung von Inhalten verstanden werden. Das gilt für Predigten ebenso wie für bischöfliche Hirtenbriefe und viele andere Formate. Das in kirchlichen Kontexten nach wie vor zu beobachtende Ressentiment gegenüber den Social Media dürfte auch darin begründet sein, dass hier die überholte deklaratorische Kommunikation inkompatibel ist. Alles Gesprochene und Geschriebene gilt hier als Einladung zur Diskussion, was eine Verkündigungspraxis wohltuend subversiv unterwandert, die sich als Mitteilung feststehender Wahrheiten versteht. Die eigene Verunsicherung ist als hoffnungsvolles Zeichen der Offenheit und als Weg zu einer „Theologie im Gespräch“ (Büchner/Spallek, 2016) zu suchen, wie es der Aphoristiker Elazar Benyoëtz mit dem Wort „Vielleicht“ ausdrückt:
„Das Wörtchen ‚Vielleicht‘ ist die Visitenkarte der Hoffnung.“
Doch wie lassen sich in die klassischen kirchlichen Formate die gegenwartskulturellen Partizipationserwartungen einbringen? Der hier nur anzudeutende Ansatz der „gastlichen Verkündigungspraxis“ greift auch die Skepsis gegenüber dem eigenen Glauben und die kritischen Anfragen gegenüber kirchlichen Positionen auf. Er tut es nicht, um sie in einer Haltung des Ressentiments im nächsten Atemzug zu demontieren, sondern um sie zu würdigen. So kann selbst in den Monolog der Predigt eine dialogische Haltung einziehen. Es entsteht innerhalb der kirchlichen Verkündigung ein Raum der Diversität und Vielstimmigkeit, die christliche Glaubensrealitäten bis hinein in den Kanon biblischer Traditionen prägt. Diese Gastlichkeit gegenüber der anderen Position und dem fremden Denken fungiert dann als Angebot der gemeinsamen Glaubenssuche und respektiert die unterschiedlichen Positionen und Meinungen.

Die Tür geöffnet halten – gerade theologisch

Diese Gastlichkeit in der eigenen Verkündigungspraxis gegenüber der fremden Position bedarf einer geistlichen Weite, in der Identitäten nicht durch Abwertungen Anderer konstruiert werden. Eine derart gastliche Form der Verkündigung lässt sich mit der Metapher der leicht geöffneten Tür umschreiben. Sie hält denen Zugänge offen, die andere Glaubenswege gehen. Und sie enthält das Risiko, sich schmerzhaft die Finger einzuklemmen, wo mit Grenzziehungen Türen zugeschlagen werden:

In der offenen Tür
die Finger geklemmt
(an Jenny Aloni)

Gott
als den anzusprechen,
den es nicht gibt,
den es nicht bloß gibt,
sondern die, wenn es sie gäbe,
mit den Unsicheren solidarisch
wäre.

Mensch
als den zu würdigen,
der nicht weiß,
nicht in Zustimmung weiß,
nicht in Ablehnung weiß
und in der Unsicherheit
einfach die Tür einen Spalt breit
offen ließe.

Gesellschaft,
die nicht religiös ist,
der alles Religiöse fremd ist
und die doch
der Frage nach dem Größeren
die Tür einen Spalt breit offen
ließe.

Religion,
die dort, wo sie sich den
Eigenlogiken hingibt,
sich die Finger im Türspalt
einklemmt,
sich Grenzen aufzeigen lässt,
die sich notfalls unter Schmerzen
auf ihre Lebensdienlichkeit
zurückverweisen ließe.

Es gäbe keine Sicherheit,
aber Offenheit und Weite,
riskante Weite,
lustvolle Weite,
stürmische Weite,
in der sich durchgepustet
sagen lässt:
Vielleicht – ich weiß nicht.

(von Wolfgang Beck)

In kirchlicher Verkündigung, in der persönlichen Gottesrede, der Predigt und der Katechese, ja selbst im Pfarrbrief und an allen anderen Formen der Glaubensweitergabe der anderen Position und dem fremden Denken die Tür wenigstens einen Spalt breit offenstehen zu lassen, kann riskant sein (Beck, 2021). Dass Türen zugeschlagen und Menschen verletzt werden, gehört auch im Kontext religiöser Rede und Glaubensverkündigung zur (nicht nur vergangenen) kirchlichen Realität einer übergriffigen Deformation des Evangeliums Jesu. Gerade deshalb ist der offene Türspalt ein Hoffnungszeichen, das den Glauben vor Selbstsicherheit bewahren hilft. Die offene Tür repräsentiert eine Glaubensweitergabe, die nicht von Hoffnung redet, sondern hoffnungsvoll ist.

DREI THESEN

  1. Es wird nicht genügen, die Krise der kirchlichen Verkündigung durch sprachliche Optimierung zu bearbeiten.
  2. Christliche Glaubensverkündigung wird biblische Quellen immer wieder mit aktuellen Existenzfragen konfrontieren und mit ihnen betrachten, um darin die Relevanz des christlichen Glaubens zu suchen.
  3. Eine hoffnungsvolle Glaubensverkündigung wird Gastlichkeit gegenüber fremden Positionen üben und ihnen im eigenen Reden und Schreiben wertschätzend die Tür offen halten.
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