Das adventliche Wort „Trost“ rührt an eine tiefe Sehnsucht. „Tröstet mein Volk.“ Oder: „Tröste Dich, mein Volk“ (vgl. Jes 40,1). Es ist schwer, sich den Advent ohne diesen wunderbaren Auftakt vorzustellen. „Lass dich trösten“, so könnte man auch formulieren. Das Wort „Trost“ hängt, nebenbei bemerkt, etymologisch mit dem Wortstamm „treu“ zusammen. Gott tröstet, weil er treu ist, „wie einen seine Mutter tröstet“ (Jes 66,13).
Trost ist eine sehr persönliche Erfahrung. Zu ihr gehört die körperliche Berührung oder zumindest die Berührung der Herzen. Musik tröstet. Oder der Anblick einer Landschaft. Oder Gebet. Viele Menschen können nicht trösten, weil sie die Untröstlichkeit der Trauernden nicht aushalten. Sie wollen vielleicht treu sein, schaffen es aber nicht. Irgendwann kommen dann Sprüche wie: „Jetzt muss aber mal gut sein“, oder: „Denk doch mal positiv.“ Menschen hingegen, die trösten, sind ausdauernde Menschen. Sie hören sich die immer gleichen Texte der Trauernden an, die sich wie ein Mühlrad in deren Kopf drehen, drehen aber selbst nicht mit.
„Tröstet mein Volk. Redet Jerusalem zu Herzen und ruft ihr zu, dass sie vollendet hat ihren Frondienst“ (Jes 40,1-2). Hier wird nicht bloß eine Einzelpersonen getröstet, sondern ein ganzes Volk. Das gehört ebenfalls zum Advent. Eine Hoffnung für das Volk erscheint am Horizont. „Steig auf einen hohen Berg, Zion, du Botin der Freude. Erhebe deine Stimme“ (Jes 40,9). Das klingt wie eine Fanfare. Sie erklingt vor großem Publikum, vor den Ohren eines Volkes, das unter einem Trauma leidet. Die Katastrophe aus dem Jahre 586 v.Chr. liegt einige Jahrzehnte zurück: Der Tempel im fernen Jerusalem ist zerstört, die Stadt ist dem Erdboden gleichgemacht, ein Rest des Volkes ist nach Babylon verschleppt worden. Dort ist das Volk hängengeblieben, ist unterdrückt worden und hat sich mühsam gegen die Zwangsassimilation gewehrt. Aber nun ertönt ein Freudenruf. Nach vierzig Jahren der Lähmung und der Depression tut sich etwas: Das Imperium zerfällt. Das Haus Nebukadnezar ist nur noch ein Schatten seiner selbst. Ein neuer Imperator betritt die Bühne, der Perserkönig. Ihr werdet nach Jerusalem zurückkehren dürfen.
Wo könnte heute dieser freudenreiche Trost erklingen? Der adventliche Ruf des Jesaja scheint keine Entsprechung zu finden. In der jüngeren Vergangenheit gab es vergleichbare Momente aufscheinender Vorfreude: die Zeit der Perestroika in der Sowjetunion noch vor dem Mauerfall; die Anfänge der Solidarność in Polen; der Auftritt von Nelson Mandela in Kapstadt nach 27 Jahren politischer Gefangenschaft; Martin Luther Kings Marsch nach Washington. Da war ein Beben der Erwartung spürbar. Doch das liegt hinter uns. Heute kehren vielerorts eher alte Gespenster zurück. Wo ist heute das Beben eines neuen Anfangs zu vernehmen?
An Strohhalme klammern will ich mich nicht. Eines weiß ich: Ich habe Sehnsucht nach solch einem Ruf. Und ich entdecke im prophetischen Weckruf des Jesaja noch etwas anderes, was ich gerne überlese, nämlich die Trauer über mich selbst, die der Prophet ja auch trösten will. „Tröstet, tröstet mein Volk, spricht euer Gott. Redet Jerusalem zu Herzen, dass gesühnt ist ihre Schuld.“ Das Volk hat im Exil einen eigenen Anteil an der Katastrophe erkannt und lebt nun mit dieser Erkenntnis. Nebukadnezar war ein Gewaltherrscher, das Imperium ging brutal mit den Besiegten um, das Volk wurde verschleppt, um in einem Mischvolk unterzugehen, viele bezahlten ihren Widerstand dagegen mit dem Leben. Gewiss. Aber das war und ist eben nicht alles.
Es liegt etwas Verführerisches darin, sich im Umgang mit gemeinsamen Gewalterfahrungen bloß als Opfer-Kollektiv zu definieren. Dann wird es am Ende schwer, diesen letzten Trost überhaupt anzunehmen „Rede ihnen zu Herzen, dass gesühnt ist ihre Schuld.“ Gerade von der Annahme dieses Trostes hängt viel ab. Er durchbricht das Schwarz-Weiß-Denken und befreit so aus den Fängen des Hasses. Klar: Nebukadnezar soll nicht entlastet werden. Aber mit dieser Erkenntnis allein gelingt noch kein Neubeginn.
Ich hatte in diesen Tagen die Gelegenheit, Zeitzeugen aus den 1940er-Jahren zu befragen, wie sie denn als Kinder die alliierten Bombenangriffe auf ihre Stadt erlebten. Es war schrecklich, gewiss. Sie haben geliebte Menschen verloren, gewiss. Ob sie die Alliierten deswegen gehasst haben? Nein, es war ihnen bewusst gewesen, jetzt die Konsequenzen eines Krieges zu erleben, den Deutschland nach 1933 angezettelt hat. Genau diese Unterscheidung war nach dem Krieg nötig, um einen Neubeginn zu ermöglichen. Achtzig Jahre später stehen wir vor vergleichbaren Fragen: Was ist unser Anteil an den gefährlichen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte? Wo müssen wir umdenken? Das Umdenken braucht die adventliche Stille, denn es ist nicht bequem und bedarf des Schutzes. Stille schärft auch das Gehör für die Trostbotschaft, wenn sie eines Tages wieder erklingen soll. Und das wird sie eines Tages ganz gewiss. Diese Hoffnung gehört zum Advent dazu, auch in diesem Jahr.