Bruns, Christoph: Für Gott, die Kirche und das Vaterland. Spiritualität und Pädagogik der Jesuiten im Spiegel des Gymnasiums Mariano-Josephinum in Hildesheim (1595-1773).
Hildesheim: Georg Olms 2023, 196 S. Kt. 44,–.
Der Autor ist promovierter Theologe, Lehrbeauftragter für Alte Kirchengeschichte und Patrologie an der Universität Hannover und seit 2015 Lehrer für Latein, Religion und Geschichte am Gymnasium Mariano-Josephinum in Hildesheim. Dass er gleich zu Beginn ausführlicher auf die Geschichte der Kollegsbibliothek eingeht, mag dem Leser vielleicht etwas trocken erscheinen und die Sorge schüren, dass die Lektüre wohl eher dem lokalgeschichtlich Interessierten zugutekommt. Doch das erweist sich beim Weiterlesen als Irrtum. Und die Ausführungen über die Bibliothek sind berechtigt. Denn vieles aus den Beständen des alten Jesuitenkollegs hat Wirren und Kriege überlebt und ist so eine Fundgrube, um zu zeigen, wie die Mitglieder der Gesellschaft Jesu in Hildesheim Spiritualität (Exerzitienbuch) und Bildungsrichtlinien des Ordens (Ratio Studiorum) umsetzten.
So kommt der Autor schnell auf die Spiritualität und das Bildungsverständnis der Jesuiten grundsätzlich zu sprechen und zeigt am Mariano-Josephinum auf, wie die Umsetzung war, wie der Unterricht strukturiert war, dass selbst Kinder lutherischer Pfarrer das Kolleg besuchten, dass es den Jesuiten nicht nur um Vermittlung von Wissen, sondern auch um Vertiefung und Anwendung des Wissens ging. Dazu auch Wettbewerbsarbeiten zu bestimmten Themen, die mit Buchgeschenken prämiert wurden, die sich in der Hildesheimer Bibliothek nachweisen lassen. Und natürlich ging es den Jesuiten auch um eine religiöse Praxis, wie sich an den Marianischen Kongregationen zeigte. In Hildesheim waren ihre Mitglieder nicht nur Schüler des Kollegs, sondern auch Mitglieder des Domkapitels. Neben einer ganzen Reihe von polemischen Schriften aus der Zeit konfessioneller Kontroversen findet sich auch der Schriftverkehr zwischen dem aus Lüttich stammenden Jesuiten und Kontroverstheologen am Hildesheimer Kolleg Des Bosses und dem Hofrat der Kurfürsten zu Hannover, Gottfried Wilhelm Leibniz. Dieser ist getragen von einem respektvollen gemeinsamen Ringen um Fragen, die aus der China-Mission der Jesuiten resultierten. Diese Details und einige andere sind überraschend und gewinnbringend bei der Lektüre.
Das Betonen einer kritischen Auseinandersetzung zu den Fragen der Zeit im Bildungsdenken der Jesuiten hat dann, so die abschließenden Seiten, in der Aufklärung seine Fortsetzung gefunden. Während die Inschrift am Giebel des Mariano-Josephinums in Hildesheim noch heute das „Deo, Ecclesiae et Patriae“ anzeigt und damit die Trennung von geistlicher und profaner Bildung als überwunden erklärt, hat sich der ursprünglich theologisch geprägte Bildungsbegriff infolge der Aufklärung vom kirchlichen Offenbarungsglauben getrennt. Doch gerade das Infragestellen von Wahrheit seit Nietzsche erfordert ein christliches Bildungskonzept als Dienst für unsere „Welt“, so liest der Rezensent die Ausführungen des Autors in dessen Schlusskapitel. Bruns schreibt ein Buch, das über die Hildesheimer Perspektive hinaus auch als eine gute Einführung in die Spiritualität und vor allem die Bildungsgrundzüge des Ordens genommen werden kann.
Gundolf Kraemer SJ
Schmidt, Gunnar: Schreie. Versuche über die Gewalt der Stimme.
Basel: Schwabe 2024. 146 S. Kt. 22,–.
Schreie gelten als urtümlich und unkultiviert, animalisch und eruptiv. Im bürgerlichen Leben haben sie keinen Platz. Gunnar Schmidt, Medien- und Kulturwissenschaftler mit Lehrtätigkeit an verschiedenen Hochschulen, entwickelt hier gegen dieses klassische Bild eine Art Kulturgeschichte des Schreis. Sein Text ist eher essayistisch, er mäandert um verschiedene Typen des Schreis, und er zitiert ausführlich zahlreiche, meist recht eindrückliche Dokumente aus Literatur und Philosophie, aus Religion und Kunst. Der Text bleibt etwas offen und unfertig, ohne abschließende Urteile, ohne Systematisierung, ohne klares Ziel, eine Art Werkstattbericht, aber geistvoll und anregend.
Im ersten Kapitel/Essay geht um den Verzweiflungsschrei, mit Bezug auf den Schrei Jesu am Kreuz und dessen Darstellung in Bachs Matthäuspassion. Nach dem Schmerzensschrei und dem Schrei der Massen kommt der Autor zum Schrei der Wahnsinnigen: Dieser wird aus den früheren „Irrenhäusern“ viel beschrieben, heute sind psychisch kranke Menschen meist zu sehr sediert. Schmidt beschreibt ihn: „Der Schrei als singuläre Äußerung ist unheimlich, ungeheuerlich, archaisch und unzugänglich“ (33). Als unterdrückter Schrei wird im deutschen Idealismus und in der Klassik die antike Laokoon-Gruppe gedeutet; sie stelle das sehr bürgerliche Ideal der Affektunterdrückung dar – das deutsche Sprechtheater nach 1968 wird dann im Gegenteil zum Schreitheater. Mit dem expressionistischen Schrei kommt der Autor zu dem berühmten Bild „Der Schrei“ von Edvard Munch. Als überwirklichen Schrei zitiert er u.a. das „Brüllen des Löwen“ im Alten Testament, auch die Schreie der Engel in der Offenbarung des Johannes und manche Schreie in modernen Comics – es sind eher vorgestellte als wirkliche Schreie. Der gekünstelte Schrei findet sich etwa bei Performances, in denen das Publikum zum Schreien aufgefordert wird. Den Jubelschrei findet Schmidt vor allem im Sport: Der Superstress des Siegers geht in Supereuphorie über. Auch der Börsenjubel – beim Kurssprung nach oben – fällt unter diesen Schreityp. Der Lustschrei wird in der Literatur vor allem beim Tier und als sexueller Lustschrei der Frau wahrgenommen. Sein Gegenteil wäre der Angstschrei – es gibt freilich auch den Angst-Lust-Schrei, etwa auf der Achterbahn. Das Kriegsgeschrei soll die Krieger anfeuern – als Kriege noch leiser waren als heute und man Schreie hören konnte. Den Abschluss bildet der Notschrei, etwa im Sturm auf dem Schiff.
Für eine Zusammenfassung, die die Bedeutung des Schreis für die menschliche Psyche, auch für Kulturen und für Religionen darstellen würde, ist es vielleicht noch zu früh – man darf weiter hinhören und hindenken.
Stefan Kiechle SJ