Müller, Wolfgang W.: Musik der Engel. Eine Kulturgeschichte.
Basel: Schwabe 2024. 264 S. Gb. 28,–.
Engel sind wieder präsent, fast überall. In der Kultur – populärer wie elitärer, religiöser wie säkularer – treten sie auf. Ihr Erscheinen wird auch reflektiert, nur ihr Vorkommen in der Musik oder als Musikmachende wird kaum thematisiert, weder in der Theologie noch in den Kulturwissenschaften. Das Buch von Wolfgang W. Müller, emeritierter Professor für Dogmatik in Luzern, schließt diese Lücke.
Zu Beginn zeigt der Autor breit auf, wo in Film und Literatur, in Popmusik und Werbung, in Philosophie und Spiritualität die Engel wieder vorkommen. Das antike Motiv der Sphärenmusik wird anschließend erläutert, im Mittelalter wird es verbunden mit der Harmonie der Engelsmusik. Die Rede von Engeln in den Religionen und in den Theologien wird breit dargestellt, mit Blick auch auf das Judentum und den Islam und differenziert in verschiedene christlichen Konfessionen. Die Musik der Engel kommt bisher wenig vor, eher die Sprache der Engel, so u.a. bei Thomas von Aquin. Die Mönchstheologie spricht etwas mehr von der Musik, etwa die Magisterregel. Das 20. Jahrhundert – u.a. Erik Peterson – thematisiert die Engel im religiösen Kult und somit auch die liturgische Musik als Engelsmusik. Ein Kapitel widmet sich, allerdings eher kursorisch, der Ikonografie des Engelskonzerts; die wenigen Abbildungen sind leider nur klein und qualitativ unzureichend. Ein Exkurs zum gefallenen Engel beschränkt sich auf dessen Musik – ist es eine Höllenmusik? „Wie hängen Engels- und Teufelsmusik zusammen?“ (153). Hieronymus Bosch bildet solche Teufelsmusiken ab, das Spätmittelalter, aber auch etwa Johann Sebastian Bach, Camille Saint-Saëns oder Karlheinz Stockhausen komponieren solche Musiken.
Das zentrale Kapitel des Buches thematisiert „Musikalische Elemente der Rede über die Engel“. Das Gloria und das Sanctus der Messe gehen textlich auf alte Engelstexte (u.a. Jes 6) zurück, ihre Bedeutung für die Liturgie und einige Vertonungen, von der Gregorianik bis in die Gegenwart, werden vorgestellt. Auch das Marienlob ist eng mit Engelschören verbunden, etwa bei der Hirten- und Engelsmusik in Bachs Weihnachtsoratorium. Aus allen Jahrhunderten werden Engelsmusiken erläutert, vielfach mit Notenbeispielen, erwähnt seien nur Franz Schuberts Vertonung der Engelsmusik aus Goethes Faust I, Felix Mendelssohns Elias-Oratorium und Alban Bergs Violinkonzert „Dem Andenken eines Engels“. Zu Recht breiter wird Olivier Messiaens Hauptwerk, die Oper „Saint François d’Assis“, vorgestellt: Der Engel hat starke, ja wuchtige Auftritte, die musikalisch mit sehr eigenen Motiven und Klängen, gespielt mit riesigem Orchester, ausgedrückt werden. Als der Engel dem Heiligen persönlich erscheint, ist die Musik der Solo-Geige so lieblich, dass Franziskus in Ohnmacht fällt. Mit Bezug auf den Sonnengesang wird die Engelsmusik zur kosmischen Harmonie. Stark ist die Verbindung der Engelsmusik mit dem in der Oper überall präsenten Gesang der Vögel. Müller fasst zusammen: „Die musikalisierten Motive der Engel bilden einen Zugang zu Fragen und Erfahrungen der Transzendenz unter den Bedingungen der Neuzeit. Im spirituellen Kontext können die musikalischen Engelspassagen sowohl in einer rein immanenten Sichtweise als auch in einer explizit biblisch-christlichen Perspektive gehört und verstanden werden“ (227).
Müllers Buch bietet eine reiche – freilich nicht vollständige – Materialsammlung zu Engeln in der Kultur und vor allem in der Musik. Systematisierende Reflexion muss man etwas suchen. Am Ende („Warum singen Engel?“) verweist der Autor auf den sinnlichen Zugang des Menschen zur Religion und zum Glauben, auf die Dignität des Gotteslobes („es ist würdig und recht“), auf die Möglichkeit der Musik, Unsagbares sagbar zu machen, auf den eher niederschwelligen und interreligiösen Zugang zum Monotheismus über die Vielfalt und den Reichtum der Engelswelt, mit ihrer Farbigkeit und Musik. „Die Engelsmusik ist fluid, sie versteht sich als ein Vorübergehen, sie ist Exodus, Existenz und Ekstase in einem“ (246).
Stefan Kiechle SJ
Illies, Florian: Zauber der Stille. Caspar David Friedrichs Reise durch die Zeiten.
Frankfurt am Main: S. Fischer 2023. 253 S. Gb. 25,–.
In kurzen und gut zugänglichen Abschnitten, die oft durch die Zeitebenen springen, erzählt Illies von dem eigentümlichen Leben C.D. Friedrichs, von seiner außergewöhnlichen Malerei und vom oft abenteuerlichen Schicksal seiner Bilder. Inbegriff der deutschen Romantik, erlebt der Maler derzeit mit mehreren Ausstellungen zu seinem 250. Geburtstag einen überraschenden Hype. Das Buch schwimmt auf dieser Welle, es ist elegant, spannend und durchaus bestsellerorientiert geschrieben.
Die Kapitel sind nach den vier Elementen Feuer, Wasser, Erde und Luft benannt und mit je einem Bild Friedrichs illustriert. Friedrich war ein Naturmaler und sehr religiös. Er wollte die Religion über eine gleichsam innere Naturschau neu zum Leben erwecken. Personen malte er meist von hinten, denn Portraits, das wusste er, lagen ihm nicht. Zunächst war er ein großer Zeichner, der sich später an die Ölmalerei wagte. In der Natur machte er sich Skizzen, malte die Bilder aber meist im abgedunkelten Atelier – seine Gemälde sind nicht Abbilder der Wirklichkeit, sondern Fantasiekompositionen. Das Winterliche und das Düstere, das Kalte und das Sterbende, vor allem das Sehnsuchtsvolle überwiegen, und immer spricht er die großen Gefühle an – bewegt er deswegen heute so sehr? Illies erläutert Friedrichs Kunst mit Anekdoten aus seinem Leben, das voller Brüche war, und er zeichnet für viele seiner Bilder die chaotische spätere Geschichte nach, die geprägt ist von Verlusten und Irrfahrten – beschämend viele sind vernichtet worden – und von glücklichen Wiederentdeckungen. Mit Goethe hatte Friedrich immer wieder Kontakt, aber dieser schätzte, zum Kummer des Malers, dessen Bilder nur wenig. Nach seinem Tod geriet Friedrich in völlige Vergessenheit, wurde erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts wiederentdeckt und schnell von den Nazis für ihre nationalistische Ideologie vereinnahmt. Heute gehört er zu den unbestritten Großen der Kunst. Das Buch lädt ein, sich auf den Weg zu den bedeutenden Jubiläumsausstellungen zu machen.
Stefan Kiechle SJ
Müller, Wolfgang W. (Hg.): Das Leben Jesu. Theologische und musikalische Interpretationen.
Ostfildern: Matthias Grünewald 2024. 285 S. Kt. 28,–.
Der Band gibt die Beiträge einer Luzerner Tagung von 2021 wieder, die um die Frage kreiste, wie durch Musik das Leben Jesu theologisch dargestellt, interpretiert und vermittelt wird. Dass die Beiträge die sonst meist wenig in Beziehung stehende Musikwissenschaft und die Theologie lehrreich verbinden, macht ihre Stärke aus. Dass die Texte teilweise etwas detailreich, lang und arg gelehrt geraten sind, dass die Verbindung zwischen ihnen bisweilen vage bleibt und ihre Redundanzen nicht eliminiert sind und dass am Ende die beiden kurzen Konzerteinführungen ohne die zugehörige Musik fade bleiben, das macht die Schwäche des Buches aus – bei Tagungsbänden wohl unvermeidbar.
Markus Enders bleibt eher grundsätzlich beim Wesen der Musik als einer „Sprache des Unaussprechlichen“, die Affekte anspricht und zu charakterisieren ist mit den Metaphern des Mysteriums, des Zaubers und des Schweigens. Melanie Wald-Fuhrmann beschreibt erhellend den Umgang mit den Affekten in Leben-Jesu-Oratorien. Peter Reifenberg bringt dem Lesenden recht anregend – Jüngere kennen das Werk kaum noch – Guardinis „Der Herr“ nahe, ist damit bei dieser bedeutenden Leben-Jesu-Beschreibung, allerdings ohne direkten Bezug zur Musik.
Nach dem Grundsätzlichen werden zwei große Komponisten ausführlicher behandelt: Zunächst Johann Sebastian Bach, der „fünfte Evangelist“, der in seinem Kantaten-Werk das Leben Jesu in unüberbietbarer Weise theologisch-musikalisch auslegt und vermittelt. Nach Jochen Arnold ist Jesus für Bach zugleich „Hirte, Arzt, Heiland und Geliebter“ (106) – die letztere, mystische und fast erotische Seite in Bachs Musik wird sonst kaum beachtet. Arend Hoyer stellt die ebenfalls wenig bekannten exegetischen Qualitäten Bachs dar: „Bach improvisiert in der Auswahl und Behandlung seines Stoffs. Dabei stützt er seine Interpretation auf eine gründliche Exegese und teilt seinem Sänger die Rolle des innerlich beteiligten Verkündigers zu. Am Schluss entsteht eine Szene, in welcher der erhöhte Christus seiner Gemeinde in biblisch-narrativer Lebendigkeit begegnet“ (169). Isgard Ohls beschreibt das Bachverständnis des Universalgelehrten Albert Schweitzer vor dem Hintergrund der historischen Leben-Jesu-Forschung.
Schließlich geht es um den bei uns wenig bekannten französischen Organisten und Komponisten Charles Tournemire. Sein Hauptwerk „L’Orgue Mystique“, entstanden um 1930, wird mehrfach gewürdigt, u.a. von Marie-Louise Langlais, Jean-Marc Leblanc und Tobias Willi. Es will den gregorianischen Choral, der in jener Zeit von Benediktinern als Gipfel der sakralen Musik gesehen und neu fruchtbar gemacht wurde, in moderne Formen gießen und in die Liturgie einbringen. Für 51 Sonn- und Feiertage des Kirchenjahres komponierte Tournemire 255 Orgelstücke, insgesamt 14 Stunden Musik, um die theologischen Inhalte der Choraltexte musikalisch auszudrücken, im alten modalen System, das hinter das seit Bach vorherrschende tonale System zurückgeht. Tournemire will damit die symphonisch geprägte Orgelmusik von Widor und Vierne ablösen und die Orgel christologisch und liturgisch einbinden. Seine Nachfolger, u.a. der in Deutschland viel bekanntere Olivier Messiaen, sind davon geprägt.
Müllers Band ist, trotz seiner Fachlichkeit, empfehlenswert auch für musikalisch-theologisch interessierte Nichtfachmenschen.
Stefan Kiechle SJ