Rezensionen: Politik & Gesellschaft

Mendel, Meron: Über Israel Reden. Eine deutsche Debatte.
Köln: Kiepenheuer & Witsch 2023. 224 S. Gb. 22,–.

Dies ist kein Buch über Israel, sondern über das Reden über Israel in Deutschland. Es wurde fast ein Jahr vor dem Tag des brutalen Überfalls der Hamas auf Israel vom 7.10.2023 geschrieben. Doch nichts von dem, was darin steht, stimmt jetzt nicht mehr. Vielmehr hilft das Buch, zurückzutreten und zum Beispiel den jüngsten, einmütigen Schulterschluss des deutschen Parlamentes mit Israel aus der Langzeitperspektive zu betrachten. „Wir müssen uns der Frage stellen, was Solidarität mit Israel heute bedeutet. Die deutsche Politik kann auf Dauer schwerlich an Merkels Konzept der Staatsraison festhalten“ (66).

Der Autor, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt am Main, 1976 in Israel geboren, kam 2001 nach Deutschland. Im Vorwort beschreibt er seinen politisch-intellektuellen Werdegang in Israel, besonders beeindruckt vom Philosophen Jeschajahu Leibowitz, „zugleich orthodoxer Jude, kompromissloser Humanist und scharfer Kritiker der israelischen Besatzungspolitik (11). In Deutschland begreift er: „In Israel politisch links zu sein bedeutet etwas anderes als in Deutschland“ (113). Entsprechend reich an Einblicken in die inneren Windungen und Zerwürfnisse fällt sein Kapitel „Die Linke und der Nahost-Konflikt“ aus (113-148). Hier ringen eigentlich Gruppen und Grüppchen im Verhältnis zum Nahostkonflikt um „kulturellen Codes“ (Shulamit Volkov) mit dem Ziel, die die eigene Identität abzusichern. Um Israel und Palästina geht es umso weniger, je schriller sich jeweils „anti-deutsche“ und „anti-imperialistische“ Linke bekriegen.

Auch Merons kritischer Blick auf den BDS-Streit (67-112) lohnt die Lektüre, und ebenfalls sein Blick auf die deutsche „Erinnerungskultur und ihre Kritiker“ (149-180). Er bedauert, dass Debatten um BDS, Achille Mbembe oder die documenta fifteen nicht möglich waren (und sind), weil beide Seiten jeweils nicht aus ihrer binären Logik herausfinden. Behauptete „unweigerliche Assoziationen“ (87/94) auf der einen oder anderen Seite verunmöglichten von vorneherein jeden möglichen Diskurs. Bei Gleichsetzungen von nationalsozialistischem Antisemitismus und „allgegenwärtigem Antisemitismus in der arabischen Welt“ schaut Meron genauer hin: „Zwischen Israelis und Palästinensern gab und gibt es einen realen, handfesten Konflikt – zwischen Juden und Deutschen jedoch nie“ (110). Der eine Antisemitismus ist deswegen eher Mittel zum Zweck der Agitation gegen den Staat Israel, der andere war (und ist) Zweck an sich selbst. Solche Unterscheidungen sind keineswegs Glasperlenspiele oder gar Relativierungsversuche von bestimmten Antisemitismen, sondern Bedingung für die Möglichkeit der Entwicklung von jeweils zielführenden Gegenstrategien. Differenzierungen  haben auch nichts mit  Neutralität zu tun. Meron erzählt von einem persönlich erlebten Fall, wie es ist, wenn sich Veranstalter aus der Verantwortung ziehen und dabei in Kauf nehmen, dass die differenzierende Seite ausgegrenzt wird, weil bereits die Differenzierung als „diskursive Verschiebung“ erlebt wird. (136 ff.) Meron weiß, wo er steht. Das macht das Lesen dieses Buches zu einem echten Gewinn.

                Klaus Mertes SJ

Feldmann, Deborah: Judenfetisch.
München: Luchterhand 2023. 272 S. Gb. 24,–.

„In meinen Bekanntenkreisen in Berlin ist das Wort Judenfetisch ein gängiger Begriff, der ein Verhältnis zu einer Projektionsfläche beschreiben soll, mit der sich Deutschland und viele Deutsche zwangsläufig und zwanghaft auseinandersetzen, im Guten wie im Schlechten“ (189). Beispielhaft beschreibt die Autorin das Phänomen an der Begegnung mit einem jungen Mann, der sich als deutscher Jude ausgibt, mit hingebungsvoller Liebe zu Israel, und, nachdem die Hochstapelei auffliegt, als Journalist wieder auftaucht, der sich durch heftigste Israelkritik auszeichnet, um „sich von der deutschen Sicht zu befreien“ (188). Das Wort Judenfetisch sei gemein, gibt die Autorin zu. Es ist aus der jüdischen Perspektive gesprochen und will den Träger des Fetisch „als Opfer eines Diskurses und einer Dynamik“ erklären, „die es nachkommenden Genrationen erschwert, das Gefühl eines gerechten und aufrechten Lebens zu führen, ohne sich selbst verbiegen und verzerren zu müssen“ (189). Das Motiv klingt schon bei Feldmanns Erstbegegnung mit dem Berliner „liberalen“ jüdischen Milieu an. Levi Rosenthal erklärt ihr: „Schau dich um, die Menschen hier sind eigentlich mindestens zur Hälfte, also entsprechend der Halacha, mit der wir aufwuchsen, keine Juden … Viele stammen aus Pfarrersfamilien, es sind eigentlich Nachkriegs-Philosemiten ... Dann sind eigentliche Juden eher Störenfriede. Herr B. will dich entweder voll unter deiner Kontrolle wissen oder dich so fern von seinen Leuten halten wie möglich“ (74 f.).

Deborah Feldmann wurde bekannt durch ihre autobiografische Erzählung „Unorthodox“. Darin schilderte sie ihre Emanzipation aus der chassidischen Satmarer-Gemeinde in Williamsburg, USA. Eine Ahnung von den Traumata aus dieser Zeit wird spürbar, wenn sie nun ihren Besuch in Jerusalem und ihren Gang durch das ultraorthodoxe Viertel Mea Shearim beschreibt (81-101). „Die, die Religion nur noch als kurioses Relikt sehen wollen … stecken in Wirklichkeit den Kopf in den Sand. Denn nichts stützt Religion auf ihrem Weg zur Allmacht so sehr wie die sie tolerierende Irreligiosität. Niemand ist eine größere Hilfe der Fundamentalisten als der aufgeklärte, emanzipierte, gebildete Westler, der ihnen den roten Teppich auslegt, um aus lauter Romantik seine zukünftigen Unterdrücker zu bejubeln“ (99).

In den USA wäre die Autorin nicht so herausgefordert gewesen, sich mit ihrem Jüdischsein auseinanderzusetzen wie in Deutschland. Denn nirgendwo ist das Verhältnis zum Judentum so grundlegend für die Konstruktion eines Selbst-Narrativs wie in Deutschland. Deborah Feldmann beschreibt diese Herausforderung aus den unterschiedlichsten Situationen heraus, in die sie jeweils neu gestellt ist. Es gelingt ihr dabei, die Distanz zu halten. Dadurch klingt eine Hoffnung an: einander von Mensch zu Mensch so zu begegnen, dass dabei identitäre Festlegungen auf Herkunft und Geschichte überwunden werden.

                Klaus Mertes SJ

Nida-Rümelin, Julian: „Cancel-Culture“. Ende der Aufklärung? Ein Plädoyer für eigenständiges Denken.
München: Piper 2023. 186 S. Gb. 24,–.

„Cancel Culture ist ein uraltes Phänomen, das sich durch die Kulturgeschichte der Menschheit zieht: Praktiken, um diejenigen zum Schweigen zu bringen, deren Auffassungen von den eigenen in störender Weise abweichen“ (13, vgl. dazu die historische Aufzählung, 155-172). Was heute gängig unter Cancel-Culture verstanden wird und die Gemüter erregt, nimmt der Autor zum Anlass für eine vertiefte Analyse vor dem Hintergrund der westlichen Philosophiegeschichte von Platon bis Kant und John Rawls (13-44). Es folgen erkenntnistheoretische Überlegungen (45-84), ausgehend vom Fall Galileo Galilei: Der sei „deswegen so faszinierend, weil darin das Programm einer modernen … kausal erklärenden nominalistischen Naturwissenschaft greifbar wird“ (47), die sich gegenüber durchaus nachvollziehbaren politischen Rücksichten, verkörpert durch Roberto Bellarmin, durchsetzt, was aber der von theologisch-christentümlichen Rücksichten befreiten Vernunfttätigkeit keine Irrtumsfreiheit garantiert und sie damit auch nicht vor neuen Versuchungen zu Cancel-Tätigkeiten schützt.

Es folgen demokratietheoretische Aspekte der Cancel Culture (85-132) mit dem Bekenntnis zu einem „deliberativen“ Demokratieverständnis. Dazu gehört essentiell der Streit um das bessere Argument, der mehr ist als nur die „Aggregation von Präferenzen“ (86) oder die Koordination von Interessen. Politische Urteilskraft ist für Nida-Rümelin in diesem Sinne die Alternative zur Cancel-Culture (133-155). Und so schließt er mit ihrer Apologie gegen rechte und linke „Schmittianer“ (Carl Schmitt) sowie gegen multikulturelle und ökonomistische Fundamentalkritiken, für die politische Urteilskraft nur ein Epiphänomen von „eigentlichen“, darunter liegenden Tiefen-Diskursen ist.

Nida-Rümelin lässt in allen Kapitel aktuelle Bezüge aufscheinen. So entsteht ein ausgewogenes Urteil im Einzelfall, das sich der polemischen Schärfe enthält und zugleich klar Position bezieht. Besonders anregend für die gegenwärtigen Debatten um Sprache scheint mir das Kapitel über die „Lebenswelt als Refugium“ (71-84) zu sein. Mit Rückgriff auf Husserl und Wittgenstein wendet sich der Autor gegen den Versuch „zu fixieren, was sich nicht fixieren lässt“ (83). Zentral ist dabei der Begriff der „Selbstverständlichkeiten“ von Lebensform (Wittgenstein) und Lebenswelt (Husserl). Diese befinden sich in einem Prozess, der nicht von außen gesteuert werden kann, oder nur nach kurzen „Erfolgen“ zu einem langfristig hohen Preis: „Die klerikale oder politische Intervention lässt einen Prozess erstarren, der im Fluss bleiben muss, wenn die Gesellschaft als Ganze sich nicht gegenüber widerspenstigen Überzeugungen abschließen und damit zur geschlossenen Gesellschaft erstarren will“ (84).

                Klaus Mertes SJ

Nass, Elmar: Ziele und Werte „sozialistischer Marktwirtschaft“. Chinas Wirtschaft aus ordnungsethischer Sicht.
Stuttgart: Kohlhammer 2023. 154 S. Kt. 25,–.

Nach Jahrzehnten der Zurückhaltung präsentiert sich die kommunistische Volksrepublik China unter dem seit 2012 regierenden KPC-Generalsekretär Xi Jinping (seit 2013 Staatspräsident) als politisch zunehmend geachtete und gefürchtete selbstbewusste Weltmacht. Dieser beispiellose Aufstieg wäre ohne die rasante gesellschaftliche, wirtschaftliche und zunehmend digitale Entwicklung kaum denkbar. Schon in der Ära von Deng Xiaoping (1904-1997) setzte ohne grundsätzliche Abkehr vom Maoismus eine Öffnung gegenüber kapitalistisch-marktwirtschaftlichen Verhaltensweisen ein. Xi hat in der Präambel der Verfassung eine „sozialistische Marktwirtschaft“ festgeschrieben, die den sozialistischen Traum einer von fremden Mächten unabhängigen und wohlhabenden Gesellschaft verwirklichen soll. Nun erschien in der Kohlhammer-Reihe „Wirtschaft kontrovers“ mit einem Geleitwort des CDU-Politikers Jens Spahn eine aktuelle Untersuchung dazu.

„Ziele und Werte“ des Begriffs einer „sozialistischen Marktwirtschaft“ werden in der „Pilotstudie“ (29) vom Sozialethiker Elmar Nass, Inhaber des Lehrstuhls für Christliche Sozialwissenschaften und gesellschaftlichen Dialog an der Kölner Hochschule für Katholische Theologie, einer kritischen ordnungsethischen Analyse unterzogen. Es geht wie bei Ludwig Erhards sozialer Marktwirtschaft auch den chinesischen Kommunisten um einen „Wohlstand für alle“, nur sind die Rahmenbedingungen sehr unterschiedlich. Auf der einen Seite gibt es die freie Entfaltung unternehmerischer Initiative und Personenrechte, in China das, was Nass bildhaft einen „Käfig“ nennt: die trotz Wandel bleibenden vier Grundprinzipien der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung Chinas, die Xi Jinping 2012 so auflistete: „Festhalten am sozialistischen Weg, an der demokratischen Diktatur des Volkes, an der Führung durch die KP Chinas sowie am Marxismus-Leninismus und den Mao-Zedong-Ideen“ (74). Im seit fast tausend Jahren bestehenden Neukonfuzianismus dominieren ebenfalls kollektive Ansätze. Rechte sind nicht individuell, sondern werden erst im Familienverbund und in Netzwerken wie „Guanxi“ (48) erworben. Daher konnte die KP Chinas den Neukonfuzianismus für ihre sozialistische, patriotische und nationale Ideologie „adoptieren“ (52).            

Als „Leitfaden“ (37) seiner ordnungstheoretischen Untersuchung wählt Nass drei Perspektiven: die herrschende chinesische Position, für die viele Texte und Reden Xi Jinpings stehen; die von Marxisten problematisierte freiheitliche Position; die neosozialistische Position, die marktkritisch ist. Die drei Positionen werden von Nass dargestellt und miteinander verglichen, bevor er eine eigene „ordnungsethische“ vierte Position entwirft. Diese sieht als chinesisches Menschenbild den wettbewerbsaffinen Kollektivmenschen, dessen sozialistische Weltanschauung durch die neukonfuzianistische Sozial- und Individualmoral ergänzt wird. In einer christlich-sozialethischen Bewertung (123-141) zitiert Nass Manfred Weber, den Fraktionsvorsitzenden der EVP Im Europäischen Parlament: „Der eigentliche Konflikt [mit China] wird ein Wertekonflikt sein. Es geht um das Ringen von autoritären Staaten und von freiheitlichen Demokratien“ (123). Eine sozialistische Marktwirtschaft, wenn es sie überhaupt im Wortsinn geben kann, widerspricht fundamental dem christlichen Menschen- und Gesellschaftsbild (129 f). Nass schlägt die Einführung eines „Personalitätsprinzips“ vor. Erwähnt wird noch die perfekte digitale KI-Überwachung (140) mit dem problematischen, von vielen Chinesen aber akzeptierten „Sozialkreditsystem“.   

                Stefan Hartmann

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