Rezensionen: Kunst & Kultur

Erasmus von Rotterdam: Über Krieg und Frieden. Die Friedensschriften des Erasmus von Rotterdam (Bibliothek historischer Denkwürdigkeiten).
Basel: Schwabe 2022 (Stuttgart: Franz Steiner 2017). 542 S. Kt. 48,–.

Der große Erasmus von Rotterdam war nicht nur führender Humanist, sondern auch vorbildlicher Pazifist. Seine umfassenden Friedensschriften werden hier erstmals gesammelt und auf Deutsch in einer schön gestalteten, verdienstvollen Edition vorgelegt. Von mehreren Forschern übersetzt, werden die Texte erhellend eingeleitet und knapp kommentiert.

Die „Rede über Frieden und Zwietracht“, ein Jugendwerk, reflektiert mit vielen Zitaten antiker Autoren die Vorteile des Friedens und die Nachteile der Zwietracht; im Keim enthält es die ganze spätere erasmianische Friedensethik. „Papst Julius vor der verschlossenen Himmelstür“ ist ein fiktives, satirisches Stück, das den Disput des verstorbenen Papstes, der als verkommenes Beispiel für christliches Leben und Wirken gilt, mit Petrus an der Himmelstüre schildert; sein Kriegstreiben, insbesondere das Aufhetzen von Christen gegen Christen – aus purer Machtpolitik und Habgier – werden an den Pranger und einem christlichen Friedensideal entgegen gestellt. Das Wort Dulce bellum inexpertis („Süß ist der Krieg den Unerfahrenen“) war ursprünglich Teil einer Sammlung antiker Sprichwörter, welche Erasmus in dem Band Adagia kommentiert und auf zeitgeschichtliche Fragen angewendet; später greift er dieses eine Wort heraus und erweitert den Kommentar zu einem eigenen, hier abgedruckten Essay, der ausführlich darlegt, wie der Krieg für alle, die Erfahrung mit ihm haben, keineswegs dulce ist, sondern voller Grauen und Schrecken, Leid und Tod. Aus der berühmten Schrift „Erziehung eines christlichen Fürsten“ sind drei Kapitel zu Krieg und Frieden ausgewählt. Neben einigen kleineren Schriften bringt der Band am Ende eine Erörterung, „ob man Krieg gegen die Türken führen solle“: „Das Übel sind nicht die Türken, sondern die Christen, die nicht so leben, wie ihr Name es von ihnen fordert, und nicht aufhören, übereinander herzufallen“ (Einl. dazu 366). Einige Redundanzen ermüden bisweilen, aber ansonsten sind die Texte sehr gut lesbar und durchweg anregend.

Erasmus ist Pazifist, was von seiner humanistischen, im Grunde optimistischen Anthropologie herrührt: Er glaubt an die individuelle Erziehung des Fürsten zum Guten nach dem Maßstab der Bergpredigt. Meint ein Fürst, einen Rechtsanspruch gegen einen anderen zu haben, soll er gut überlegen, ob er ihn mit Krieg durchsetzt, denn der Schaden durch Krieg ist meist größer als wenn sein Fürstentum kleiner bleibt (vgl. 270). Volker Reinhard fasst in seiner Einleitung die Kühnheit des erasmianischen Entwurfs zusammen: „Wahrer Adel ist Seelengröße, Bildung und Milde, das Schlächterhandwerk des Krieges ist damit unvereinbar. Krieg macht den Menschen nicht groß, sondern lässt ihn verrohen. Krieg entspringt fast immer den niedrigsten Motiven, Krieg drückt den Menschen unter die Stufe der Tiere, denn die Natur kennt keinen Krieg. Krieg ist ein permanenter Verstoß gegen Christus und seine Lehre, die den Menschen mit seinem Schöpfer versöhnt und den Frieden auf Erden will. Krieg ist Elend, denn die Zeche bezahlen die kleinen Leute in Form neuer Steuern und flächendeckender Verwüstungen. Allenfalls erlaubt ist der reine Verteidigungskrieg gegen einen wütenden Aggressor“ (41). – Wieder und wieder zu lesen ist Erasmus in diesen kriegswütigen Zeiten!

                Stefan Kiechle SJ

Körner, Reinhard: Was jetzt Halt gibt. Das Nada te turbe in den Turbulenzen unserer Zeit.
Leipzig: St. Benno 2023. 80 S. Gb. 9,95.

Das kleine Buch von P. Reinhard Körner OCD enthält in seinem Hauptteil (28-64) eine sorgfältig gestaltete Übersetzung des bekannten Gedichtes und Liedes Nada te turbe. In seinem Geleitwort (8-10) weist Prof. Mariano Delgado darauf hin, dass die meist Teresa von Avila zugeschriebene letrilla (zum Singen gedachtes Liedchen) die Quintessenz der mystischen Erfahrung Teresas von Avila enthält – auch wenn man nicht mit Sicherheit sagen könne, dass der Text von Teresa stammt. Zunächst skizziert P. Körner die komplexe Überlieferungs- und Interpretationsgeschichte des Nada te turbe (14-27). Über lange Zeit schrieb man das erst 1844 entdeckte Gedicht Teresa von Avila zu. Eine neue Perspektive eröffnete sich 2018, als Mariano Delgado in einem Buch des spanischen Priesters Miguel de Molinos (1628-1696) einige Zeilen fand, die dem Nada te turbe sehr ähnlich sind. Nun sei fraglicher denn je, schreibt P. Körner, ob das Nada te turbe von Teresa von Avila stamme (25). Er selbst vertritt die These, dass das Lied in den 200 Jahren nach Molinos entstand, inspiriert von dessen Text und mit unbekannter Autorenschaft.

Anschließend legt P. Körner einen eigenen, kommentierten Übersetzungsversuch des Nada te turbe vor. (28-64) Das Nada te turbe sei eine Ermutigung, die der Mensch sich selbst, seiner eigenen Seele zuspricht. Ausgewählt seien einige Zeilen, bei denen die Übersetzung durch P. Körner verblüfft:

Todo se pasa (31-35): gewöhnlich übersetzt mit „alles geht vorüber“, meint: Alles kommt und geht und kommt und geht. Es geht darum, das, was ist, wahrzunehmen und anzunehmen.

Dios no se muda will auf dem Hintergrund der teresianischen Schrift Seelenburg verstanden werden: Gott zieht nicht aus deiner Seele aus – gleich, wie es dort aussieht (35-40).

La paciencia/todo lo alcanza: „Die Geduld erreicht alles“ – wenn sie zu Gott, dem großen Alles, vertrauensvoll und aktiv hinharrt (40-45).

Ausführlich und feinsinnig dann die Übersetzung des Doppelverses quien a Dios tiene / nada le falta (45-58): „Wer Gott hat, dem fehlt nichts“ könnte als Einladung zur Weltverachtung missverstanden werden. Gemeint ist: Erst die Gewissheit, dass Gott immer bei mir ist, gibt allem, was mir wichtig und kostbar ist, Tiefe und Größe. Dann (49 ff.) folgt über neun(!) Seiten eine Besinnung auf das sprachlich nicht notwendige „a“ des Doppelverses. Dieses „a“ eröffnet nach P. Körner die Möglichkeit einer zweiten Lesart: „Wer zu Gott hin sich richtet / bei dem erst nichts fehlt“ (64).

solo Dios basta (58-64): Besser als die populäre Übersetzung „Gott allein genügt“ ist – weil näher am Spanischen solo: „Gott nur genügt“. Auf dem Hintergrund der erwähnten zweiten Lesart des vorangehenden Doppelverses kann man das „Gott nur genügt“ seiner Seele als „Gott seinetwegen lieben, nur das ist genug“ zusprechen (58 f.).

P. Körner hat das Gedicht Nada te turbe sprachlich präzis, theologisch fundiert und mit großer Sensibilität für den kontemplativen Resonanzraum skizziert, in dem das Lied „mit eigenen Worten – als Seine Worte“ (Überschrift des 3. Kap., 65 ff.), trostvoll und ermutigend erklingen kann.

Das schmale Bändchen ist in dem besonderen, von P. Körner im Laufe der Jahre entwickelten Schreibstil abgefasst: Der Autor bringt seine eigenen spirituellen Erfahrungen mit ins Spiel, bietet zusätzlich zu den wissenschaftlichen Formulierungen gut nachvollziehbare Umschreibungen und immer wieder ganz hervorragende Zusammenfassungen (z.B. 57 unten oder 51 mittig). Man spürt seine Freude, wenn die Leser:innen das Nada te turbe so formulieren, dass es ihre Seele in Schwingung versetzt und ein innerer Dialog mit Gott entsteht. Diese kontemplative Kompetenz ist es, die auch in turbulenten Zeiten der Seele Kraft gibt, „Mensch bleiben zu können“ (13; vgl. 54 f.).

                Wolfgang Broedel

Vinken, Barbara: Diva. Eine etwas andere Opernverführerin.
Stuttgart: Klett-Cotta 2023. 426 S. Gb. 30,–.

Ein ungewöhnliches Buch über die Oper schreibt die Münchner Literaturwissenschaftlerin: Sie untersucht die Dramen, vor allem die Libretti von dreizehn bekannten Opern auf deren literarischen, gender-feministischen, mythologischen und theologischen Gehalt. Vor allem letzterer mag hier interessieren: Der Opfertod Christi, so Vinkens Ansatz, und die christliche Liebe werden in den Opern dargestellt, aber eben teilweise auch neuformuliert, umgedeutet, konterkariert, pervertiert. Einige Beispiele:

Mozarts Figaro kritisiere nicht das Ancien Regime mit seiner freizügigen Liebe, sondern die bürgerlich-patriarchalisch-heteronormative Ehe; sein Thema sei nicht die soziale Revolution, sondern Gender: Cherubino, gleichsam die Hauptrolle, verkörpere die neue Macht des Eros, gerade weil er nicht binär, sondern „sehr weiblich“ sei, quer zu jedem Hetero-Begehren. Figaro befreie die weibliche Liebe, die über die patriarchale Macht triumphiert – sorry, aber zeigt das nicht eher Susanna als Cherubino, der die – durchaus jungenhafte, wenn auch verwirrte – Pubertät zeigt und, ja, ein wenig verklärt? In Verdis Rigoletto zeige Gilda durch ihren frei für andere übernommenen Opfertod genau die christliche Liebe von 1 Kor 13. In La Traviata werde das heidnische Tieropfer – der an Karneval, dem Mardi gras im Umzug vorgeführte und dann geschlachtete Ochse – durch das christliche Liebesopfer Violettas ersetzt. Puccinis Tosca endlich ist der Abgesang an den christlichen Glauben: „Der zweite Akt ist Perversion der eucharistischen Wandlung. Folter und Vergewaltigung, Verrat und Betrug, Mord und Totschlag kommen auf der Folie der Liturgie, als eine Variation des Gloria, des Dies irae, dies illa und der Eucharistie, zu Gehör.“ „Vor dem Hintergrund des liturgischen Gesangs und des eucharistischen Opfers verkehren die Folter, der unter Todesangst erpresste Sex und der eidbrüchige Mord die Liturgie und das Heilsgeschehen. Ist Christus Licht und Leben, dann Scarpia Dunkelheit, Hass und Tod“ (273). „Der zweite Akt eine Schwarze Messe, der dritte Akt durchkreuzte Auferstehung“ (279). Madame Butterfly zeige keineswegs nur die unterwürfige Orientalin, die einem sexistisch-perfiden Amerikaner zum Opfer fällt, sondern „in dem herzzerreißenden, trostlosen Leiden einer Mutter eine globalisierte, veristische, selbstverständlich säkulare Aufgipfelung der von den sieben Schwertern durchbohrten Schmerzensmadonna“ (286). Am Ende werde die Pietà umgekehrt: Das Kind spielt im Schoß der toten Mutter. In Bizets Carmen werden der Stier und Carmen gleichzeitig durchbohrt. Das antike Opferritual ist wieder da, und Carmen besiegelt ihren Tod wie das antike Opfertier und zugleich „wie Christus als das letzte Opferlamm“ (326). „Das antik-kultische Opfer, das Verdi in der Traviata mit dem Stierkampf hinter sich ließ, triumphiert in Carmen“ (358). In Mascagnis Cavalleria rusticana schließlich wird am Ostertag Ostern pervertiert: Es gibt keine Erlösung, nur blutiges Abschlachten aus Rache. Am Ende ist Bergs Lulu nur noch mordend, vernichtend; Liebe ist ein Ziehen in den Dreck. Verdi ist christlich, nach ihm ist das Christentum am Ende und das alte Heidentum wieder da.

Vinkens Buch wagt den großen Aufschlag, es ist gebildet und intellektuell anspruchsvoll. Manche Deutungen erscheinen überzogen, bisweilen widersprüchlich. Das heteronormative Geschlechterbild werde in der Oper gesprengt, vor allem durch die Kastraten – schon richtig, aber Opern mit Kastraten behandelt Vinken gar nicht, und ob die Arien der Königin der Nacht (Zauberflöte) und Fiordiligis (Come scoglio in Cosi fan tutte) wirklich dem Kastratenrepertoire verbunden sind, ist zu bezweifeln, denn es gab im 18. Jhd. auch brillanten Frauen-Koloraturgesang. Und die Oper des 19. Jhd., die Vinken so reich behandelt, ist doch vor allem binär und hetero zu deuten? Auch Wagners Opern – sie „spielen in den Diskurs der Regeneration ganzer, oft deutscher Männlichkeit hinein“ (8) – würden der These Vinkens widersprechen; an sie traut sie sich wohl nicht ran.

Wieder einmal wird die Musik in dem Buch kaum behandelt – doch in der Oper trägt diese die Gefühle, das Drama! Auch Inszenierungen spielen keine Rolle, auch Gesang nicht – die Tosca der Callas stützt Vinkens Deutung mehr als manch andere, sanftere Tosca… Trotz dieser Einwände ist das Buch, mit kritischem Auge gelesen, höchst anregend. Dass es in dem sonst meist sehr säkularen Opernbetrieb wieder Religion und Theologie zur Geltung bringt, ist sehr zu loben.

                Stefan Kiechle SJ

Baur, Eva Gesine: Maria Callas. Die Stimme der Leidenschaft. Eine Biographie.
München: C.H. Beck 2023. 507 S. Gb. 29,90.

Rechtzeitig zum 100. Geburtstag (am 2. Dezember 2023) erschienen, will diese Biografie nicht nur umfassend informieren, sondern auch strittige Fragen des skandalumwitterten Lebens der Diva aller Diven klären. Von griechischen Eltern in New York geboren, wuchs Maria Callas in Athen auf und studierte dort Gesang. In Griechenland früh entdeckt, eroberte sie bald die großen Bühnen der damaligen Opernwelt. Sie begeisterte weniger durch Schöngesang, sondern sie überzeugte außer durch ihre herausragende Gesangstechnik durch ihre existentiell-dramatische Durchdringung großer Heldinnen der Operngeschichte. Alte, auch vergessene Opernpartien erweckte sie neu zum Leben und verblüffte damit ihr Publikum. Ein heute nicht mehr vorstellbarerer Hype um ihre Person und ihre Auftritte entwickelte sich in den 1950er- und 60er-Jahren. Nachdem sich Stimmprobleme bemerkbar machten, wurden ihre Auftritte seltener, ihre Versuche von Comebacks scheiterten meist. Doch sie blieb nicht nur Legende, sondern etwas wie ein Mythos, bis zu ihrem frühen Tod 1977.

Eva Gesine Baur unterscheidet in ihrem Werk durchgehend eine „Maria“, die private Person, von der „Callas“, der öffentlichen Star-Sängerin. Maria war ein reichlich mittelmäßiger Charakter, wenig gebildet, unreif, egozentrisch und neidisch, krankhaft ehrgeizig, abergläubisch und intrigant, misstrauisch, süchtig nach Jetset und Luxus, unendlich gierig nach Anerkennung und Lob, schwankend in ihren Gefühlen, bösartig gegenüber vermeintlichen und tatsächlichen Feinden. Hingegen war Callas zielstrebig und professionell, künstlerisch anspruchsvoll, sie gab sich bis zum Äußersten in ihre Rollen, wusste sich gut darzustellen und zu verkaufen. Maria und Callas waren oft im Konflikt, etwa wenn Maria durch ihre Enge und Ichsucht der Callas große Chancen verbaute. Baurs Biografie erzählt sehr detailfreudig das äußere Leben nach, vor allem die Liebesgeschichten, die Kämpfe um Auftritte, die Erfolge und Misserfolge, die zahllosen Intrigen um sie herum und die Konflikte mit einer verwirrenden Zahl an Personen – teilweise spannend geschrieben, teilweise weitschweifig und ermüdend.

Um Opernkunst oder gar um Musik geht es in dem Buch weniger – schade, denn Maria Callas war Stimmkünstlerin, weniger Schauspielerin und noch weniger die bloß skandalverdächtige Diva. Von Stimmen scheint Baur nicht viel zu verstehen. Baur schreibt ihre Biografie über Maria, kaum über Callas. Callas‘ Geheimnis war, dass sie das Drama – Hass und Gier, Zweifel und Angst, Triumph und Ekstase… – nicht nur spielte, sondern in der Stimme ausdrückte, bis zur totalen Erschütterung des Publikums; ihre Stimme hatte ein sehr ausgeprägtes Timbre, war bisweilen unschön, auch scharf, aggressiv, zugleich sehr farbenreich, mit großer Höhe und starker Tiefe, nicht zwitschernd oder lyrisch, sondern voller Kraft des Leidens und der Verzweiflung, bisweilen todeskalt, Schauder erregend. Ihre größten Rollen waren Medea, Tosca, Norma; Callas war diese Tragödinnen. Politik und Gesellschaft, etwa der Aufruhr 1968 in Paris, kommen im Buch immer mal wieder vor, spotlight-artig, wie im Krimi, aber ohne Hintergrund, ohne Reflexion, ohne Bezug zu Callas‘ Leben – sie selbst war völlig unpolitisch. Ihre Religiosität wird immer wieder erwähnt, aber nicht auf ihre Kunst bezogen.

                Stefan Kiechle SJ

Vowinckel, Dana: Gewässer im Ziplock.
Roman. Berlin: Suhrkamp 2023. 362 S. Gb. 23,–.

„Mein Leben ist kein Judentheater für dich“ – dieser Satz richtet sich nicht nur an eine Frau, die Chasan Avi beim privaten Gebet beobachtet. Er spricht auch die Deutschen an, die in Dana Vowinckels Debütroman Gewässer im Ziplock an Jom Kippur ihre Kinder über den Zaun einer Synagoge heben, damit sie beim Schofarblasen besser zuschauen können. Der hier angedeutete Wissensmangel über jüdische Tradition ist eine Schlüsselszene im Roman, in dessen Mittelpunkt das angespannte Verhältnis zwischen Deutschsein und Jüdischsein steht.

Passend zu diesem Spannungsverhältnis erzählt der Roman aus zwei wechselnden Perspektiven: aus der Sicht des religiösen Avis und – hierin liegt eine innovative Besonderheit – der seiner Tochter Margarita. Die Fünfzehnjährige geht bei H&M einkaufen, hört Popmusik, schreibt Kurznachrichten, demonstriert mit Fridays for Future – eigentlich eine normale Teenagerin. Doch der Roman schildert auch das ihr entgegengebrachte Unverständnis aufgrund ihrer jüdischen Identität: Als Nico, für den Margarita Gefühle hat, sie Hebräisch sprechen hört, faselt er verständnislos von Zionisten. Margaritas Lehrerin bezweifelt, ob sie wirklich jüdisch sei oder nur etwas Besonderes sein wolle.

Der Roman entwirft eine komplexe deutsch-jüdische Identität: Margarita sieht sich selbst als Deutsche, sie denkt in der „Sprache der Täter“ und fühlt sich in Berlin wohl. Aber sie nimmt auch den Sicherheitsdienst vor den deutschen Synagogen wahr und sieht die Unterschiede zu einem jüdischen Leben in anderen Staaten, in denen jüdische Kultur als Selbstverständlichkeit gilt.

Für die deutsche Leserschaft soll der Roman keinesfalls ein „Judentheater“ sein, das jüdisches Leben voyeuristisch zur Schau stellt, ohne eine wirkliche Auseinandersetzung mit dem Gelesenen einzufordern. So verwendet der Text bewusst hebräische Wörter, verzichtet aber auf Erläuterungen, die den Erzählfluss unterbrechen könnten. Vowinckels Debüt steht einerseits in der Tradition des deutsch-jüdischen Familienromans, andererseits nimmt es mit der jungen Protagonistin, der Verwendung von Soziolekt, Markennamen und Musik von Nina Chuba und Wir sind Helden auch deutlich popliterarische Züge an.

Neben unterhaltsameren Passagen schlägt der in der Gegenwart verankerte Roman auch ernste Töne an. Antiislamische Bestrebungen in Israel werden verurteilt, die Erinnerungskultur in Deutschland kritisch betrachtet. Menschen, die in Sachsenhausen Selfies machen, und der Anschlag von Halle gehen nicht spurlos an den jüdischen Figuren vorbei. Dana Vowinckel, 1996 in Berlin geboren, erhielt 2021 in Klagenfurt bereits den Deutschlandfunk-Preis für ein Kapitel ihres Romans. Mit Gewässer im Ziplock gelingt es der jungen Berlinerin hervorragend, eine transnationale Familiengeschichte über das Jüdischsein in Deutschland zu erzählen.

                Achim Schmid

Lehnert, Christian: Die weggeworfene Leiter. Gedanken über Religion und Poesie.
Freiburg: Herder 2023. 108 S. Gb. 25,–.

Im Sommersemester 2022 war der Dichter und Theologe Christian Lehnert, der mehrfach in dieser Zeitschrift publizierte, zur Wiener Poetikdozentur Literatur und Religion eingeladen. Die dort gehaltenen vier Vorlesungen sind in diesem Band dokumentiert, mit einer Einleitung von Jan-Heiner Tück und einem Nachwort von Sebastian Kleinschmidt.

Die erste Vorlesung spricht über die religiöse Sprache. Diese tastet sich in das begrifflich nicht Fassbare, in das Zwischenreich zum Unendlichen hinein, in die Welt der Engel und Numina. Sie artikuliert sich zuerst als Zungenrede und als Jauchzen. Theologie wird zur Poesie. Ihre Wahrheit liegt nicht in dem, was sie sagt, sondern in dem, was sie ist. Religiös-poetische Rede wird durch das Schreiben und zugleich durch das Lesen kreativ konstituiert, sie wird zum Zeugnis. Der zweite Text geht über das Kreuz und zitiert ein Langgedicht Lehnerts. Dieses zeigt das Verlöschen der Sprache angesichts des Unsagbaren. Es geht auch um Opfertiere, Verbluten, rituellen Fleischgenuss, Brot, Eucharistie, Martyrium – letzteres heute freilich mehr als schmerzliches Aufgeben von Sicherheit, radikale Öffnung in der Liebe und Vertrauen auf einen Gott, „den es nicht gibt“. Die dritte Vorlesung spricht von der Schöpfung, indem Lehnert aus seiner starken religiösen Natur-Poesie schöpft. Mit dem Hexenbesen, einer gleichsam bösartigen Schmarotzerpflanze, die Birken befällt und vernichtet, nähert er sich behutsam der Frage nach dem Ursprung des Bösen an, die er dann mit kaum gehörten kabbalistischen Lehren weiter entfaltet. Der letzte Text setzt beim Atem an, Urmedium spiritueller Wege aller Religionen. Im Gedicht atmet ein Baum ein und aus. Wieder tauchen Engel auf als Zwischenwesen, hin zum Göttlichen. Autobiografisch erzählt Lehnert Erfahrungen aus seiner Zeit als Bausoldat am Ende der DDR. Das vernünftige Tier (animal rationale) und das dichtende Herz (cor fingens) führen ihn weiter. Das Ende bleibt verrätselt, offen, es überschreitet alles begrifflich-theologische Denken hinein in die unendlichen Weiten poetischer Rede.

Das Buch ist in seiner überreichen Fülle an Bildern und Gedanken nicht immer leicht zu greifen und zu lesen – Einleitung und Nachwort helfen gut zum Verständnis. Doch die Texte belohnen die Mühen der Beschäftigung reich, mit einer unerhörten Verzauberung des Denkens und Empfindens. Sie führen ein in die Welt eines Autors, der mit seiner Sprache Brücken schlägt zwischen den reichen Schätzen christlicher Tradition und der säkularen, aber zugleich oft religiösen zeitgenössischen Poesie. Man wünscht allen wachen Christgläubigen, dass sie Lehnert entdecken und studieren und ihm nachsinnen – Glaube und Kultur aus christlichem Geist können mit ihm nur wachsen.

                Stefan Kiechle SJ

Huizinga, Johan: Homo Ludens. Versuch einer Bestimmung des Spielelements der Kultur (Huizingas Schriften 7).
Paderborn: Brill Fink 2023. 281 S. Gb. 59,–.

Das Buch, erstmals 1938 erschienen, ist ein Klassiker der Kultur- und Geschichtswissenschaft. Johan Huizinga, niederländischer Philologe, Ethnologe und umfassend gebildeter Geisteswissenschaftler, entfaltete hier die These, dass das Spiel nicht nur eine Kulturerscheinung ist und Kultur sich aus dem Spiel entwickelt, „sondern sie entfaltet sich in Spiel und als Spiel“ (199). „Ludische“ Wurzeln haben sowohl die Sprache wie die Rechtsprechung – sie entstand aus den Usancen des sozialen Spiels –, der Krieg – aus dem Kampfspiel – wie die Musik und der Tanz, die Dichtung wie die Religion, das Theater wie die Philosophie.

Dass auch Tiere spielen, zeigt, dass das Spiel vor aller menschlichen Kultur besteht. Der Mensch spielt nicht nur Fußball oder Schach, sondern auch in der Lotterie – es geht um Gewinn – oder im Theater: Man spielt Hamlet oder Mephistopheles; es gibt das Liebesspiel und das liturgische Spiel, man spielt ein Musikinstrument, es gibt rauschhafte Spiele und Planspiele, ja es gibt sogar – im übertragenen Sinn – die Radachse, die „Spiel hat“; heute wären digitale Spiele oder das Internet als Spielwiese zu ergänzen. Auf den ersten Blick wäre das Gegenteil des Spiels der Ernst, aber manche Spiele spielt der Spieler sehr ernst, ja verbissen. Das Spiel des Menschen ist, so könnte man es umschreiben, ein freies Handeln, das das normale Leben unterbricht, in ausgegrenzten Zeiten und Räumen, mit festen Regeln, die aber auch übertreten werden, es ist fiktional im Realen, es ist zweckfrei und sinnlich-ästhetisch, und es braucht so etwas wie Vertrauen der Spieler zueinander – es ist kultiviertes Leben. Huizinga definiert das Spiel nicht zu eng, aber er belegt seine Aspekte der Spiel-Kultur mit einer Fülle von Beispielen vor allem aus frühen Kulturen aller Kontinente und zahlreicher Sprachfamilien; eine psychologische Bearbeitung des Themas leistet das Buch nicht.

Als siebter und letzter Band der Huizinga-Gesamtausgabe erschien diese verdienstvolle Neuübersetzung von Annette Wunschel; sie ist nahe am Originaltext erarbeitet und bringt die Lebendigkeit und Feinheit des Originals gut lesbar zur Geltung. Mit abgedruckt wurde die Rektoratsrede Huizingas vom 8. Februar 1933, die das Buch im Wesentlichen vorwegnimmt – welch Unterschied zu Heideggers Rektoratsrede wenige Wochen später in Freiburg! Wegen seines humanistischen und interkulturellen Denkens wurde Huizinga später von den Nazis kaltgestellt, er erhielt ein Publikationsverbot und war zeitweise interniert; er starb am 1. Februar 1945.

Klassiker zu lesen ist immer wieder neu und erfrischend, und man staunt über die Wissensfülle und die Klugheit der Alten. Auch Christentum und Kirche haben viele Wurzeln in einem spielerischen Umgang mit der Wirklichkeit: in der Liturgie, im Denken, in der Spiritualität, in der Pädagogik. Könnte es helfen, diese Wurzeln wiederzuentdecken und manches im Alltag spielerischer anzugehen, also zweckfreier und leichter, sinnlicher und freudiger?

                Stefan Kiechle SJ

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