Glaube und Unvernunft bei Søren Kierkegaard

Am 5. Mai jährt sich der Geburtstag Søren Kierkegaards zum 200. Mal. Georg Sans, Professor für Philosophie an der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom, gibt einen Einblick in Leben und Werk des dänischen Schriftstellers und Philosophen.

Das Verhältnis von Glaube und Vernunft zählte zu den bevorzugten Themen des letzten Papstes. "Vernunft und Glaube brauchen sich gegenseitig, um ihr wahres Wesen und ihre Sendung zu erfüllen", schrieb Benedikt XVI. in seiner zweiten Enzyklika1. Sein Amtsvorgänger Johannes Paul II. nannte die Trennung zwischen Glaube und Vernunft ein "Drama", zu dessen Folgen unter anderem "ein wachsender Argwohn gegenüber der Vernunft"2 gehöre.

Zwei Fronten: Vernunftskepsis - Vernunftgläubligkeit

Wer Glaube und Vernunft als aufeinander bezogen ansieht, kämpft gewissermaßen an zwei Fronten gleichzeitig. Einerseits erinnert er - angesichts einer überzogenen Vernunftgläubigkeit - an die bleibende Verwiesenheit des Menschen auf Gott. Anderseits stellt er sich gegen die - unter Ungläubigen wie Gläubigen weit verbreitete - Vernunftfeindlichkeit. Die doppelte Frontstellung führt zu bisweilen überraschenden und nicht immer beabsichtigten Allianzen. So befindet sich Benedikt XVI. mit seiner Forderung nach einer Reinigung der Vernunft von ihrer Verblendung3 ganz im Einklang mit den Kritikern einer bloß instrumentell verstandenen - und damit im Dienst von etwas anderem stehenden - Vernunft wie etwa Jürgen Habermas. Klar ist aber auch, dass sich der Papst trotz aller Vorbehalte gegen die Moderne nicht einfach der postmodernen Vernunftskepsis anschließen oder in das bekannte Lied vom Ende der Metaphysik einstimmen kann. Insofern steht Benedikt XVI., gewollt oder ungewollt, in einer Reihe mit solchen, die an den Errungenschaften der Moderne festhalten.

Ähnlich kompliziert verlaufen die Grenzen innerhalb der Kirche. Denn auch hier gibt es neben einer zu großen Vernunftgläubigkeit ein erhebliches Maß an Vernunftfeindlichkeit. Nicht selten wird die lebendige Erfahrung des Glaubens gegen die vernünftige Durchdringung des Geglaubten ausgespielt. Nun mag man darin eine berechtigte Reaktion auf den übertriebenen Rationalismus einer zu schalem Lehrbuchwissen erstarrten Neuscholastik sehen. Doch die Geringschätzung der Vernunft stellt nicht nur häufig ein Zeichen von Bequemlichkeit dar, sondern hinter ihr lauert die Gefahr des Fideismus, der seinerseits in sehr verschiedenen Gestalten auftreten kann: sei es als bloßer Sentimentalismus, der den Glauben zu einer Frage des Gefühls erklärt; als Dezisionismus, dem zufolge der Glaube eine persönliche Entscheidung verlangt, für die sich letztlich keine Gründe angeben lassen; als ein Historismus, wonach durch die geschichtliche Offenbarung Gottes in Jesus von Nazareth alles Notwendige gesagt ist; oder als platter Supernaturalismus, für den das Geglaubte grundsätzlich jenseits von Natur und Vernunft liegt.

In diesem Zusammenhang ist es allemal bemerkenswert, dass die Enzyklika "Fides et ratio" ausgerechnet Søren Kierkegaard (1813-1855) als Kronzeugen für die Befreiung der Vernunft "von der typischen Versuchung zur Anmaßung"4 anruft. Der Fall ist besonders interessant, weil der Däne im Allgemeinen als beherzter Anwalt der Unvernunft des Glaubens und damit als Musterfall protestantischer Vernunftskepsis gilt. Will man in dem Hinweis auf Kierkegaard kein redaktionelles Versehen erblicken, lässt sich die Folgerung ziehen, dass es in gewisser Hinsicht durchaus angemessen ist, den christlichen Glauben als etwas Unvernünftiges zu betrachten. Der Papst spricht an der zitierten Stelle von der Anmaßung der Philosophen. Außer Kierke gaard weiß er auch den heiligen Paulus und Blaise Pascal auf seiner Seite. Jener stellte der Weisheit (sophia), welche die Heiden suchten, die Torheit (moria) des Kreuzes Jesu Christi gegenüber (vgl. 1 Kor 1,22 f.); dieser sprach von dem Feuer, welches "der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs, nicht der Philosophen"5 in ihm entflammte. Kierkegaard schließlich versuchte, auf eine Philosophen zugängliche Weise zu zeigen, was es mit der Unvernunft des Glaubens auf sich hat. Am 5. Mai 2013 jährt sich sein Geburtstag zum zweihundertsten Mal - Grund genug, auf sein Werk zurückzuschauen.

Von der Rastlosigkeit zur Vernunft

Søren Kierkegaard war in erster Linie ein begnadeter Schriftsteller. Zusammen mit seinem Zeitgenossen Hans Christian Andersen (1805-1875) ist er der wohl bekannteste Autor dänischer Sprache. Seine dramaturgische Begabung zeigt sich gleich in seinem ersten größeren Werk "Entweder - Oder" (1843). Formal erscheint das Buch als Sammlung von bisweilen unterhaltsam, bisweilen beklemmend zu lesenden Aufzeichnungen und Briefen. In Wahrheit handelt es sich um die scharfsinnige Darstellung zweier entgegengesetzter Lebensentwürfe. Ein durchgängiges Motiv des ersten Teils bildet die Bezugnahme auf Mozarts "Don Giovanni". Die eine der beiden Hauptpersonen, die nicht namentlich genannt, sondern lediglich mit den Buchstaben A und B bezeichnet werden, verkörpert das, was man einen Genussmenschen nennen könnte. Akribisch führt er darüber Tagebuch, wie er ein junges Mädchen verführte und mit ihren Gefühlen spielte. Gleichwohl wäre es verkehrt, sich bei dem Genussmenschen immer einen skrupellosen Herzensbrecher vorzustellen. Kierkegaard hat nicht nur den Titelhelden aus Mozarts Oper im Blick, sondern auch die Besucher des Theaters.

Genau wie der zynische Liebhaber jagt auch das bürgerliche Publikum nicht selten von einem Genuss zum nächsten. Sein Leben besteht in einer Folge mehr oder weniger verfeinerter Vergnügungen. An dem Punkt hakt der Autor ein. Denn während A seinem Glück hinterherläuft, wird er immer unglücklicher. Noch bevor er seine Freude genießen kann, muss er bereits daran denken, sich den nächsten Genuss zu sichern. Das Problem einer, wie Kierkegaard es nennt, "ästhetischen" Auffassung der Existenz liegt weniger darin, dass sie in den Augen anderer vielleicht unsittlich oder unvernünftig erscheint, als darin, dass sie die betreffende Person buchstäblich zur Verzweiflung treibt. Immer rastloser hetzt er oder sie dem Vergnügen hinterher. Die vermeintliche Freiheit des Genussmenschen entpuppt sich als Getriebensein vom eigenen Verlangen: "Ein jeder Mensch, der lediglich ästhetisch lebt, fühlt daher ein heimliches Grauen vor dem Verzweifeln."6

Im Bewusstsein dessen fordert die Person B in ihren Briefen gleichsam ultimativ zu einer Entscheidung auf. B vergleicht die "ästhetische" mit seiner eigenen, "ethischen" Lebensanschauung. Er hat seine Wahl getroffen und vor mehreren Jahren geheiratet. Während sich der Genussmensch auf immer neue Experimente einlässt, versteht es sich für den Ehemann von selbst, dass er seiner Frau treu bleibt: "Man liebt nur einmal in seinem Leben, die erste Liebe ist das, daran das Herz hängt - die Ehe."7 Obwohl Kierkegaard selbst niemals geheiratet hat und womöglich ein allzu ideales Bild von der Gemeinschaft der Geschlechter zeichnet, macht der Kontrast zwischen A und B deutlich, dass und warum die Entscheidung für ein Leben in verlässlichen Beziehungen eine ernst zu nehmende existenzielle Option bildet. Der Verfasser lässt die Frage offen, ob es sich bei A und B wirklich um zwei Personen unterschiedlichen Charakters handelt, oder ob sie die sprichwörtlichen zwei Seelen sind, die in der Brust ein und desselben Menschen wohnen. Vieles deutet darauf hin, dass Kierkegaard die ästhetische und die ethische Betrachtung der Existenz als verschiedene Stadien ansah, die jemand nacheinander durchläuft. Diese Annahme wird nicht zuletzt durch eine autobiografische Lesart von "Entweder - Oder" nahegelegt.

Ein unruhiges Leben

Søren Kierkegaard kam als jüngstes von sieben Kindern eines vermögenden Kopenhagener Kaufmanns zur Welt. Der Vater war ein gottesfürchtiger Mann, der sich und seiner Familie ein genügsames Leben abverlangte. Søren begann zunächst, wie sein ältester Bruder, Theologie zu studieren, doch mehr als zu den langweiligen theologischen Vorlesungen fühlte er sich zu den philosophischen Fächern und zur Literatur hingezogen. So kam es, dass man ihn bald öfter im Theater und in den stadtbekannten Konditoreien als im Hörsaal antraf. Sehr zum Missbehagen des Vaters entwickelte sich der Student zusehends zu einem Dandy - oder inszenierte sich wenigstens als solcher. Gleichzeitig gruben sich der Verlust der Mutter, zweier Schwestern und eines Bruders tief in seine Seele ein. Viel ist über Äußerungen gerätselt worden, nach denen Kierkegaard einen Fluch auf seiner Familie lasten sah. Als im Jahr 1838 auch der Vater starb, waren fünf seiner sieben Kinder bereits tot. Das ist der Augenblick, in dem Søren, mittlerweile im sechzehnten Semester, beschließt, sein Studium zu Ende zu bringen. Er bereitet sich intensiv auf die Magisterprüfung vor. Außerdem verlobt er sich mit der zehn Jahre jüngeren Regine Olsen, in die er sich verliebt und der er schon länger den Hof gemacht hatte. Alles erweckt den Anschein, als sei der sprunghafte Student A auf dem besten Weg, ein treuer Ehemann B zu werden.

Wäre der Vater noch am Leben gewesen, hätte ihm der Gesinnungswandel des Sohnes gewiss Genugtuung bereitet. Angeblich hatte er Søren noch auf dem Totenbett das Versprechen abgenommen, Pastor zu werden. Äußerlich gesehen war dieser offenbar zur Vernunft gelangt. Allerdings währte die Freude nicht lange. Ein Jahr nach der Verlobung löste Kierkegaard ohne weitere Angabe von Gründen seine Verbindung mit Regine. Auch vom Pfarramt will er nichts mehr wissen, noch möchte er Professor werden. Stattdessen widmete er sich ganz der Schriftstellerei. Dank des väterlichen Erbes brauchte er sich um seinen Unterhalt keine Sorgen zu machen.

Schreiben als religiöse Berufung

Innerhalb kurzer Zeit entstanden so ein rundes Dutzend Bücher, die er unter verschiedenen Pseudonymen veröffentlichte, sowie eine lange Reihe erbaulicher Reden. In den Werken, die auf "Entweder - Oder" folgten, spricht Kierkegaard neben dem ästhetischen und dem ethischen noch von einem dritten, dem religiösen Stadium der Existenz. Die Tatsache, dass beinahe alle seine Schriften, sei es indirekt, sei es direkt, vom christlichen Glauben handeln, legt die Deutung nahe, er habe das Schreiben als eine Art religiöser Berufung angesehen.

Kierkegaard verstand sich selbst als jemand, der andere an den Punkt führt, wo die Entscheidung für oder gegen den christlichen Glauben unausweichlich wird. Anders als die aufgeklärten Theologen seiner Zeit wollte er seine Leser nicht bewegen, das Christentum als eine im Großen und Ganzen vernünftige Angelegenheit anzuerkennen. Es ging ihm um die Wahrung der Unendlichkeit Gottes, die nicht weniger als einen bedingungslosen Glauben erforderlich macht. Immer wieder schildert er die leidenschaftliche Hingabe an Gott als eine den allgemeinen sittlichen Gepflogenheiten und Überzeugungen zuwiderlaufende existenzielle Wahl. Die Bedeutung der Religion findet sich nirgends so eindringlich beschrieben wie in der kurzen Abhandlung "Furcht und Zittern" (1843). Dort stellt Kierkegaard Abraham als "Ritter des Glaubens" der Figur des tragischen Helden gegenüber. Während der Letztere aufrechten Ganges die Entscheidung trifft, die zu seinem Unglück führt, ist der Weg Abrahams zum Berg Morija voller Anfechtungen. Gott verlangt von ihm, das zu opfern, was ihm im Leben das Allerwertvollste ist. Schweren Herzens lässt der Vater alle ethischen Bedenken hinter sich und lädt seinem Sohn das Holz für das Brandopfer auf (vgl. Gen 22, 1-19).

Für Kierkegaard ist der Glaube "ein Paradox, welches einen Mord zu einer heiligen, Gott wohlgefälligen Handlung zu machen vermag". Der Glaube ist "etwas, dessen sich kein Denken bemächtigen kann, weil der Glaube eben da beginnt, wo das Denken aufhört."8 Das Anstößige der biblischen Erzählung von der Opferung Isaaks liegt darin, dass der Glaube jenes Denken außer Kraft zu setzen scheint, aus dem sich die ethischen Maßstäbe unseres Handelns ergeben, welche die Grundlage jedes menschlichen Zusammenlebens bilden. Die Vorstellung, dass sich Kinder nicht darauf verlassen können, von ihren eigenen Eltern nicht den willkürlichen Ansprüchen einer höheren Macht aufgeopfert zu werden, ist menschlich schwer zu ertragen. Außerdem wirft sie einen Schatten auf die Religion. Sollte Gott tatsächlich wollen können, dass der Gläubige auch nur die Möglichkeit in Betracht zieht, einen Menschen, gar den eigenen Sohn zu töten, um Gott einen Gefallen zu tun? Lässt sich das fünfte Gebot durch das erste außer Kraft setzen? Wer die Frage bejaht, öffnet einem fundamentalistischen Verständnis des Glaubens Tür und Tor. Doch das Böse wird selbst durch den vermeintlichen Befehl Gottes nicht zu etwas Gutem. Dieser Satz gilt für die Menschenopfer im Alten Orient ebenso wie für die Hexenverbrennungen im Mittelalter und für Selbstmordattentate der Gegenwart.

Es ist also Vorsicht angezeigt. Die Geschichte Abrahams muss von ihrem Ende her gelesen werden und enthält jedenfalls keine Rechtfertigung der Gewalt im Namen Gottes. Dessen ungeachtet hat Kierkegaard etwas Richtiges bemerkt: Das Problem des Verhältnisses zwischen Ethik und Religion darf nicht einfach vom Tisch gewischt werden. Die Opferung Isaaks mag ein schlecht gewähltes Beispiel sein, aber die Erzählung vom Weggang Abrahams aus Haran im Norden Mesopotamiens zeigt, wie sehr der Glaube an Gott die innere Bereitschaft voraussetzt, Vertrautes und Liebgewordenes zurückzulassen. Der Schritt Abrahams lässt sich mit keinem ethischen Gebot erklären. Will man darin trotzdem den Willen Gottes erblicken, muss man einräumen, dass die sittliche Vernunft nicht ausreicht, diesen zu erkennen. Auch wenn er nicht gegen ethische Normen verstößt, handelt der Gläubige in gewisser Weise "unvernünftig". Sein Tun passt nicht zu den Maßstäben seiner Umgebung. Aber wie die Anführungszeichen kenntlich machen, ist von der "Unvernunft" hier in einer übertragenen Bedeutung die Rede.

Glaube und Unvernunft

Die Überlegungen Kierkegaards werden besser verständlich, wenn man sich den Hintergrund vergegenwärtigt, vor dem sie entstanden sind. Seine Schriften sind voll von polemischen Angriffen gegen die dänische Staatskirche und das bürgerliche Christentum einerseits sowie von ironischen Spitzen gegen die Philosophie Hegels anderseits. Neuere Forschungen haben genügend Belege geliefert, dass beides eng miteinander zusammenhängt. Die Vertreter der damals einflussreichsten theologischen Strömung verfochten eine Form von rechtshegelianischem Rationalismus. Während Kierkegaard die Werke Hegels wohl nie eingehend studiert hat, war ihm die Gedankenwelt der dänischen Hegelianer bestens vertraut. Gleichzeitig waren sie ihm hinreichend verhasst, um keine Gelegenheit auszulassen, die selbsternannten spekulativen Denker lächerlich zu machen. So mokierte er sich beispielsweise über die Theologen, die den Glauben in eine Summe von Lehrsätzen verwandeln,

"als ob das Christentum auch als eine Art kleines System, freilich wohl nicht als ein so gutes wie das Hegelsche, verkündet worden wäre; […] als ob Christus Professor gewesen wäre und die Apostel eine kleine gelehrte Gesellschaft der Wissenschaften"9.

Kierkegaards Hauptwerke enthalten den weit ausgreifenden Versuch, eine Sicht des Christentums zu entwickeln, die der Falle des Rationalismus entkommt. Dabei treten neben Hegel auch Sokrates und Lessing als Gewährsleute auf. In einem kurzen, "Philosophische Brocken"(1844) betitelten Buch, untersucht der Autor das Problem einer Offenbarung Gottes in der Geschichte. Sollte Gott den Menschen in der Person Jesu tatsächlich etwas mitgeteilt haben, so überlegt Kierkegaard, müsste es sich um eine Einsicht handeln, zu der sie nicht kraft eigenen Nachdenkens ohnehin gelangt wären. Die Annahme eines philosophischen Lehrers, der wie Sokrates seine Jünger durch geschicktes Fragen zu Erkenntnissen führt, die bereits verborgen in ihnen schlummern, scheidet daher aus. Auch darf man sich Jesus nicht wie Lessing als einen Moralerzieher vorstellen, der seinen unmündigen Schülern Sittlichkeit beibringt, solange bis diese im Gebrauch ihres Verstandes weit genug fortgeschritten sind, um selbst zu erkennen, was gut und richtig ist.

In den "Philosophische Brocken" argumentiert Kierkegaard zunächst rein hypothetisch: Einmal angenommen, Gott sei Mensch geworden und habe uns in menschlicher Sprache etwas mitgeteilt, was bedeutet das für das Wesen des christlichen Glaubens? Kierkegaards Antwort lautet, dass aus der Annahme der Offenbarung mit logischer Stringenz der denkbar schärfste Gegensatz zwischen philosophischer Spekulation und religiösem Glauben folgt. Wenn es stimmt, dass sich Gott nicht nur ganz allgemein in seiner Schöpfung zeigt, sondern außerdem konkret in der Geschichte offenbart, dann bezieht sich das Christentum auf ein Ereignis, das sowohl über als auch gegen die menschliche Vernunft geht. Die Offenbarung übersteigt die menschliche Vernunft, insofern der sich Mitteilende als Gott geglaubt wird, und sie widerspricht der Vernunft, weil es nichtsdestoweniger ein endlicher Mensch ist, der da Gott sein soll. Eben deshalb kann der Glaube unmöglich etwas sein, das sich ein vernünftiger Mensch ausgedacht haben könnte - es sei denn, um für verrückt gehalten zu werden.

Aus theologischer Sicht tut Kierkegaard nichts anderes, als das Dogma des Konzils von Chalkedon (451 n. Chr.) beim Wort zu nehmen, dem zufolge Jesus Christus wahrer Gott und wahrer Mensch ist. Im Rahmen des Gedankenexperiments der "Philosophischen Brocken" ergibt sich dennoch eine Schwierigkeit: Woran sollten die Jünger erkennen, dass der Sohn des Zimmermanns aus Nazareth nicht bloß ein gewöhnlicher Mensch ist wie sie, sondern zugleich Gott? Die Theologen verweisen an der Stelle gerne auf die Prophezeiungen und Wunder, die Jesus gewirkt hat. Doch spätestens seit der Aufklärung lassen sich durch solche Hinweise allenfalls die Gläubigen beruhigen; bei den Schwankenden oder Ungläubigen fruchten sie wenig. Kierkegaard hat denn auch einen ganz anderen Punkt im Auge. Seines Erachtens war es für die Jünger damals keineswegs leicht, zum Glauben an Jesus als den Messias zu gelangen. Ihm nachzufolgen, verlangte eine Entscheidung gegen den äußeren Anschein und, wenn man so will, gegen den gesunden Menschenverstand.

Angesichts dessen äußert der Däne den Verdacht, dass es sich seine Zeitgenossen mit dem Christwerden zu leicht machen. Viele tun so, als könne nach einer knapp zweitausendjährigen Tradition eigentlich kein ernsthafter Zweifel mehr an der Wahrheit des Christentums bestehen. Wer in einem christlichen Land zur Welt kommt und als Kind getauft ist, dem wird der Glaube gewissermaßen in die Wiege gelegt. "Du bist doch ein Däne", lässt Kierkegaard eine Frau zu ihrem Mann sagen, der sich Sorgen macht, ob er sich vielleicht zu Unrecht einen Christen nenne: "Steht es nicht im Geographiebuch, dass die lutherisch-christliche Religion in Dänemark herrscht?"10 Lange vor der Diskussion über die christlichen Wurzeln Europas und über das Erfordernis einer Neuevangelisierung betont Kierkegaard die Notwendigkeit der bewussten Entscheidung, ein Christ werden zu wollen. Während die Entscheidung der ersten Jünger und Apostel in der direkten Begegnung mit Jesus zustande kam, sind die Menschen späterer Generationen auf das Glaubenszeugnis anderer angewiesen. Kierkegaard spricht von Jüngern "zweiter Hand", um dann festzustellen, dass hinsichtlich der Schwierigkeit, etwas glauben zu sollen, das der Vernunft widerstrebt, zwischen beiden kein Unterschied besteht: "Es gibt keinen Jünger zweiter Hand. Aufs Wesentliche gesehen, sind der erste und der letzte einander gleich."11

Dass die Wahrheit des Christentums der Vernunft zuwiderläuft, kommt in den Augen Kierkegaards wiederum dem Glauben zugute. Denn wäre es mit bloßem Nachdenken schon getan, hätte das Christwerden nichts mehr von einer Bekehrung an sich. Doch nach den Worten Jesu und gemäß dem Zeugnis der Apostel stehen am Anfang des Glaubens die Reue des Sünders und das Eingeständnis der Schuld. Der Christ ist sich des Abstands schmerzlich bewusst, der ihn von Gott trennt. Weil er sich als Sünder weiß, helfen dem Gläubigen keine Abhandlungen über die an sich gute Natur des Menschen, sondern zählt vor allem das, was er - mit der Gnade Gottes - aus seinem Dasein macht. Trotzdem kann sich Kierkegaard offenbar nicht vorstellen, dass ein Christ jemals Ruhe und Frieden findet. Noch vor dem Dialektischen, das heißt Widersprüchlichen, gehört zum Glauben für ihn das Pathetische, das heißt Leidenschaft. In der "Abschließenden unwissenschaftlichen Nachschrift zu den Philosophischen Brocken" (1846), die sich über weite Strecken wie eine Parodie auf Hegel liest, macht er klar, dass die Suche nach Gott niemals an ihr Ende kommt, sondern der Gläubige im Gegenteil, je mehr er Gottes inne wird, sich umso mehr seiner Schuld bewusst ist, weshalb es wiederum Leidenschaft braucht, um am Glauben festzuhalten.

Der Einzelne

Einiges spricht für die Vermutung, dass sowohl Kierkegaards Gottesbild als auch sein Verständnis vom Wesen des christlichen Glaubens stark durch die Schwermut bestimmt waren, die er als kleiner Junge bei seinem Vater beobachten konnte und später an sich selbst feststellen musste. Die Frömmigkeit des Vaters schien von einer tiefen Angst getrieben, hinter der das Gefühl gestanden haben mag, von Gott verdammt zu sein. Einige Biografen mutmaßen, Michael Pedersen Kierkegaard habe sich in jungen Jahren, vielleicht bei einem Bordellbesuch, eine ansteckende Krankheit zugezogen und seitdem in der Furcht gelebt, die Infektion an seine Frau und seine Kinder weitergegeben zu haben. Klar ist jedenfalls, dass sich der Charakter des Vaters wie ein Schatten auf Søren legte, der keine andere Möglichkeit sah, als sich in sein Schicksal zu fügen und die eigene Befindlichkeit in mehr oder minder verschlüsselter Weise zum Gegenstand seiner Schriften zu machen.

Ein Ereignis, durch das Kierkegaard im wahrsten Sinn des Wortes gezeichnet wurde, ist die Auseinandersetzung mit der Satirezeitschrift "Corsaren". Dort erschienen im Frühjahr 1846 eine Reihe von Karikaturen, die den Dichter als bucklige Witzfigur mit verschieden langen Hosenbeinen zeigten. Danach meinte er, kaum noch in Kopenhagen spazieren gehen zu können, ohne von Jung und Alt begafft und wegen seines Aussehens verlacht zu werden. Aus dem Tagebuch geht hervor, dass er in der Verhöhnung nicht nur eine Gemeinsamkeit mit der Missachtung erblickte, die Jesus widerfahren war, sondern aus der Kränkung auch die Kraft zu weiteren Werken zog. Im Zusammenhang mit seiner außerordentlichen Produktivität ist darüber gerätselt worden, ob Kierkegaard an einer Form von Epilepsie litt, was nicht nur die somatischen Beschwerden erklären würde, von denen immer wieder berichtet wird, sondern zugleich auch die Grundlage seiner ungebremsten literarischen Aktivität bilden könnte. Mehr noch als Sublimierung wäre bei seinem Schaffen also eine regelrechte Graphomanie im Spiel12.

Den Autor würden solche Diagnosen gewiss nicht erfreuen. Abgesehen davon, dass sie immer Spekulation bleiben, ist mit ihnen solange nichts gewonnen, wie die Aufmerksamkeit des Lesers nun dem besonderen Schicksal Søren Aabye Kierkegaards gilt und nicht, wie es sein müsste, dem Glauben des Lesers selbst. Es mag ja zutreffen, dass die Verstrickungen und Ereignisse im Leben des dänischen Kaufmannssohnes in den 40er Jahren des vorletzten Jahrhunderts gerade diese und keine andere Sicht der Dinge hervorbrachten. Aber für den Schriftsteller Kierkegaard liegt das Wesen des Christentums in der Einsicht, als der, der man selber ist, in unvertretbarer Einmaligkeit vor Gott zu stehen. Genauso wie es verkehrt wäre, den Glauben unter den allgemeinen Nenner einer spekulativen Vernunft bringen zu wollen, darf das Verhältnis des einzelnen Menschen zu Gott nicht in seine psychologischen Bedingtheiten aufgelöst und damit gleichsam pathologisiert werden. Deshalb geschieht Kierkegaard als Autor Unrecht, wenn er als Mensch zu sehr in den Brennpunkt des Interesses rückt.

Was die Betonung des Individuellen bei Kierkegaard von früheren Denkern unterscheidet und ihn zum Begründer der sogenannten Existenzphilosophie macht, ist die Eindringlichkeit, mit der er auf die Gebrochenheit des Daseins hinweist. Der Einzelne Kierkegaards ist weder das autonome Subjekt Kants, welches sich aus vernünftiger Einsicht freiwillig dem Sittengesetz unterstellt, noch ein romantisches Genie, dem es hauptsächlich um die künstlerische Selbstdarstellung ginge. In einer Schrift mit dem drastischen Titel "Die Krankheit zum Tode" (1848) macht der Autor sich Gedanken über die Verfassung des Menschen:

"Der Mensch ist Geist. Was aber ist Geist? Geist ist das Selbst. Was aber ist das Selbst? Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, oder ist das an dem Verhältnisse, dass das Verhältnis sich zu sich selbst verhält."13

Mit dem Substantiv "Verhältnis" bezeichnet Kierkegaard die vielfältigen in der menschlichen Natur gelegenen Spannungen, beispielsweise zwischen Körper und Geist, zwischen Notwendigkeit und Freiheit, zwischen Zeit und Ewigkeit. Das Prädikat "sich zu sich selbst verhalten" soll dagegen besagen, dass es jedem Einzelnen selbst obliegt, sich zu den genannten Spannungen ins Verhältnis zu setzen. Krank ist laut Kierkegaard ein Mensch, der entweder - aus Schwachheit - "verzweifelt nicht er selbst sein will" oder aber - aus Trotz - "verzweifelt er selbst sein will"14. In beiden Fällen handelt er seiner gottgegebenen Bestimmung zuwider, indem er vergeblich den Spannungen zu entkommen versucht, die sein Wesen ausmachen.

Es erfordert wenig hermeneutischen Scharfsinn, um zu erkennen, dass Existenz und Glaube, Philosophie und Religion bei Kierkegaard auf eine Art miteinander verflochten sind, die jede rein immanente Lesart ausschließt. Vielleicht liegt darin die eigentliche Provokation des Dänen für unsere Gegenwart. Denn bestand nicht zwischen den Vertretern eines streng naturwissenschaftlichen Menschenbildes einerseits und den Nachfahren Nietzsches und Heideggers anderseits für lange Zeit die stillschweigende Übereinkunft, dass von Gott besser zu schweigen sei?

Für Kierkegaard wäre eine solche Selbstbescheidung eine Form von Verzweiflung und - theologisch gesprochen - Sünde, ein Zustand, aus dem nur der Glaube befreit. Gleichzeitig moniert er, die Christen machten es sich zu einfach, wenn sie den paradoxen Charakter ihrer Überzeugungen als etwas Nebensächliches beiseiteschieben. Deshalb pocht er auf die Unvernunft des Glaubens und überlässt den Vernunftbegriff sozusagen kampflos seinen Gegnern.

Allerdings ist fraglich, ob man gut daran tut, Glaube und Vernunft als unversöhnliche Gegensätze darzustellen. Durch den Verzicht auf die Vernunft wird nicht bloß der Theologie ein Bärendienst erwiesen, sondern fällt auch die Religion auf einen ästhetischen Standpunkt zurück. Denn wo sachgerechte Maßstäbe fehlen - und sei es der einer recht verstandenen Unvernunft -, da zählen am Ende nur noch das eigene Gefühl und der persönliche Geschmack. Um zu sehen, dass die Dinge bei Kierkegaard anders, nämlich komplizierter liegen, braucht es - Vernunft.

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