Ein Kirchenlehrer Lateinamerikas

In den letzten zwei Jahrzehnten ist immer wieder das Ende der Befreiungstheologie proklamiert worden. Mehrheitlich wurde dieses Urteil mit dem Hinweis begründet, das Ende der sozialistischen Staaten Osteuropas bedeute auch die Erledigung jeder marxistisch-leninistischen Theorie. Gleichzeitig sei damit auch die theoretische Grundlage, auf die sich Befreiungstheologen berufen würden, fragwürdig geworden. Unbeschadet der Tatsache, wie diese sich in einer immer wieder aufgegriffenen Debatte differenziert zum Marxismus und zu dessen theoretischer Bedeutung für eine befreiende Theologie geäußert hatten, übersieht der von ihren Kritikern ins Spiel gebrachte Vorwurf, daß der Befreiungstheologie von Anfang an ein selbstkritisches Potential innewohnte, welches ihr möglich machte, auf veränderte politische und gesellschaftliche Situationen in der Praxis wie in der Reflexion einzugehen.

Einer, der diese Fähigkeit als theologischer Lehrer und Animator von basisorientierten Bewegungen auf einzigartige Weise verkörperte, war der am 27. März 2011 in Salvador da Bahia im 88. Lebensjahr unerwartet verstorbene José Comblin. Am 22. März 1923 in Brüssel geboren, kam er 1958 (noch mit seinem französischen Vornamen Joseph) nach dem Theologiestudium in Louvain und ersten Erfahrungen in der Gemeindepastoral nach Brasilien.

Wie viele andere seiner Altersgenossen folgte er damit dem Aufruf der Päpste Pius XII. und Johannes XXIII., einen Beitrag zur Minderung des Priestermangels in Lateinamerika zu leisten. Im Rückblick bezeichnete Comblin seinen Entschluß als die erste eigenständige Entscheidung seines Lebens. Sie sei von der Hoffnung bestimmt gewesen, in der Peripherie zu den europäischen Ländern und herausgefordert durch die Situation der Entkolonialisierung eine kreative pastorale Tätigkeit leisten zu können. Nach einem vierjährigen Aufenthalt in Brasilien arbeitete er auf Einladung des späteren Erzbischofs Marcos McGrath von 1962 bis 1965 in Chile. In diesen Jahren war er unter anderem theologischer Berater der chilenischen Bischofskonferenz, die durch einige ihrer Mitglieder auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil eine einflußreiche Rolle gespielt hat.

In den umfangreichen theologischen Arbeiten über eine Theologie des Friedens und über die Aporien der "Katholischen Aktion", die Comblin in diesen Jahren verfaßte, spiegelt sich schon die Auseinandersetzung mit dem durch ihn vollzogenen Ortswechsel. Dafür prägte er die Formel "Theologie der Aktion" (teología de la acción), um damit zum Ausdruck zu bringen, daß die theologische Reflexion jedem Handeln gegenüber einen "zweiten Schritt" darstellt, und daß dessen Ziel die Befreiung des Menschen in einem umfassenden Sinn ist. In die gleiche Richtung wies auch der berühmte, 1961 veröffentliche Essay über die "christliche Berufung Brasiliens".

Comblin begründete in dieser Studie das Recht auf eine autochthone Pastoral, die in einer Formulierung von Dom Hélder Câmara nicht "für die Armen", sondern "mit den Armen" ihren Weg sucht. Darüber hinaus lenkte dieser kurze Text die Aufmerksamkeit auf das kritische Potential der vielfältigen Formen der Volksreligiosität.

1965 kehrte Comblin nach Brasilien zurück, um beim Aufbau eines regionalen Priesterseminars für das nordöstliche Brasilien mitzuarbeiten. Gleichzeitig wirkte er am "Pastoralinstitut" (IPLA) des "Lateinamerikanischen Bischofsrates" (CELAM) in Quito (Ecuador). Die von ihm verfaßte Studie zur Vorbereitung der vom CELAM organisierten "Zweiten Vollversammlung des Lateinamerikanischen Episkopates" in Medellín (1968) führte zu einer innenpolitischen Debatte in Brasilien, in der seine Ausweisung gefordert wurde, und zu einer den ganzen lateinamerikanischen Kontinent umfassenden Kontroverse um die politischen Optionen der Leitungsgremien des CELAM. In diesem Text untersuchte er die Umstände, die gesellschaftliche und kirchliche Reformen behinderten, und analysierte Modelle einer Veränderungspraxis. Seine Überlegungen wurden im Vorfeld von Medellín von den Gegnern der befreiungstheologisch orientierten Gruppe von Bischöfen als Aufruf zur gewaltsamen Revolution denunziert.

Im Jahr 1972 wurde Comblin nach einer Auslandsreise die Einreise nach Brasilien verweigert. Er fand in Chile Exil, bis er auch dort 1980 ausgewiesen wurde und nach Brasilien zurückkehren konnte. Die Existenz der Militärdiktaturen in den südlichen Ländern Lateinamerikas (cono sur) ließen ihn seine Methode vertiefen und lokale Basisarbeit mit einer Reflexion auf die kontinentale Entwicklung verbinden. Die in diesem Zusammenhang entstandenen Studien über die "Ideologie der nationalen Sicherheit" wurden in eine Vielzahl von Sprachen übersetzt und beeinflußten weltweit die Lateinamerikanistik.

Comblin gelang es zu zeigen, daß es nicht nur eine zufällige Gleichzeitigkeit der Militärdiktaturen in den einzelnen Ländern gab, sondern daß dahinter eine enge Zusammenarbeit auf der Grundlage einer antikommunistischen Sicherheitsdoktrin steckte, in welcher militärisches Elitebewußtsein, autoritäres Staatsverständnis und Suspension der Bürger- und Menschenrechte eine menschenverachtende Konstellation eingegangen sind. Ziel seiner Studie war es zu klären, wie die Kirche unter den Bedingungen einer Militärdiktatur eine befreiende Praxis evozieren und begleiten könne.

Comblins Analyse der Ideologie der nationalen Sicherheit gilt bis heute als Grundlagenwerk. Er schuf damit ein Modell theologischer Reflexion, welches für sich eine eigenständige Erinnerungskultur im interdisziplinären Austausch in Anspruch nimmt. Für die Theologie ist deren Geschichte unverzichtbar. Comblins letzte Arbeiten über die neuen theologischen Herausforderungen sind dafür das beste Beispiel. Er sprach einmal von den "Kirchenvätern Lateinamerikas", um jene Bischöfe zu beschreiben, die - von Medellín und Puebla (1979) geprägt - die lateinamerikanische Kirche verändert hatten. In analoger Weise könnte man José Comblin einen Kirchenlehrer Lateinamerikas nennen.

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