Die zehn Gebote sind für mich Anleitungen für ein vertrauensvolles Zusammenleben. Sie sind in zwei Tafeln geteilt: drei religiöse Gebote und sieben ethische. Das erste der ethischen Gebote, das in der Zählung als viertes genannte, lautet: „Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf dass du lange lebest in dem Lande, das dir der Herr, dein Gott, geben wird.“ (2. Mose 20,12) Mit diesem Gebot wurde jahrhundertelang drohend gefordert, den Eltern zu gehorchen. Nach dem Motto: „Solange du deine Füße unter meinem Tisch hast...“ Wehe dem Kind, das sich widersetzte. Das zog Liebesentzug und Prügel nach sich.
Ich halte das für ein Missverständnis. Unser Begriff von Ehre hat immer einen Klang von Unterordnung, Respekt ohne Nachfragen. In der Bibel geht es beim Ehren eher um die Würde derer, die schwach sind. Es geht um die Würde der Alten, den Respekt vor ihnen. Nein, das ist kein Gebot, das Angst machen soll, kein drohender Donnergott, der dir sagt: Gehorche gefälligst. Es geht um die Liebe zu denen, die schwach sind, die alt werden. Da, wo die Kräfte nachlassen, ist Nachsicht angesagt. Da, wo das Leben gebrechlich wird, sind Ehre, ja Respekt gefordert. Für mich ist dieses Gebot sehr aktuell in unserem Land. Die Alten werden oft als wertlos angesehen, abgeschoben. Sie zu besuchen, ist dann eher Zeitbelastung. Wenn sie nicht mithalten können, gehen sie auf die Nerven.
Zur Entlastung der Jungen: Ich weiß, es gibt auch echt nervige Alte! Männer und Frauen, die nörgeln und erzählen, dass früher mehr Lametta war und die außerdem alles besser wissen. Aber um die geht es nicht. Mir geht es um die Zarten und Gebrechlichen. Diejenigen, die den Eindruck haben, niemand braucht sie, keiner will ihnen zuhören. Sie brauchen Zuwendung, Respekt, „Ehre“ im besten und schönsten Sinne. Weil wir ihr Leben würdigen, wenn wir sie besuchen. Weil es für uns gut ist, ihnen zuzuhören, um an ihrer Lebenserfahrung zu wachsen. Weil es eine Freude ist, wenn sie sich freuen über den Anruf oder den Blumenstrauß.
Und weil ich ja nun selbst langsam, aber sicher alt werde: In meinen Erinnerungen gibt es „würdige Alte“, an die ich gern zurückdenke. So eine möchte ich auch nach und nach werden. Keine nervige Oma, die fordert. Sondern eine, die gern angerufen wird, weil sie zuhören kann. Eine, die andere gern besuchen, weil sie wissen, sie sind dort gern gesehen und haben einen Platz des Vertrauens für ihre Sorgen.
Ich finde, das vierte Gebot ist eines auf Gegenseitigkeit. Die Alten sollen geehrt werden. Und sich auch so verhalten, dass es den Jungen leicht fällt, das zu tun. Denn Würde wird nicht nur zugesprochen, sondern auch vorgelebt.