Überfallen vom Krieg – in die Krise fallen
Eine Bilderbuchkarriere, es lief rund. Mit 33 Jahre war er Professor, eine zentrale Führungspersönlichkeit. Schon sein Vater und Großvater waren diesen Weg erfolgreich gegangen. Josua Stegmann wuchs in einem Bildungshaushalt auf, sein Vater unterrichtete ihn zunächst zuhause. Später studierte er an der Universität Leipzig, arbeitete als wissenschaftlicher Mitarbeiter. Dann drängen seine Professoren ihn, einen Ruf als Professor am Gymnasium, ersten Prediger und Superintendent im schaumburgischen Stadthagen anzunehmen. Er stellt noch schnell seine Doktorarbeit fertig, diskutiert versiert gegen Leugner der Dreieinigkeitslehre – hohe theologische Theorie. In Stadthagen, nun ein gemachter Mann, heiratet er. Als die Universität in Rinteln aufgebaut wird, wird er dort Professor für Theologie. 1621 hält er dort die Einführungspredigt zur Eröffnung der Universität und vergleicht die Uni mit dem Paradiesgarten. Bilderbuchkarriere – es läuft, das Leben.
Aber die Menschen leben jenseits von Eden. Sie fallen, sie stürzen sich heraus aus dem Paradies. So wie im 500 Kilometer entfernten Prag Protestanten meinen, um die Freiheit des Glaubens kämpfen zu müssen. 1618 stürzen sie drei Mitarbeiter des katholischen Kaisers aus dem Burgfenster. Die drei bleiben leicht verletzt. Doch der Fenstersturz von Prag führt zum Krieg, zunächst lokal begrenzt, dann weitet er sich aus, wird vom Religionskrieg zum Krieg um Territorien und Macht. Dreißig Jahre wird er durch Städte, Dörfer, Menschenleben wüten.
Aber das weiß man im schaumburgischen Rinteln 1621 noch nicht. Sie wissen noch nicht, dass der Fenstersturz im fernen Prag eine „Zeitenwende“ für Leib und Leben sein wird.
Vier Jahre später tragen die Rintelner Tücher vor dem Mund, ein verzweifelter Versuch, sich vor dem Pesthauch zu schützen. Es hilft nichts. Erst musste die kleine Stadt das Söldnerheer ihres eigenen evangelischen Landesherrn, des verrückt tollkühnen Christian von Braunschweig-Lüneburg ernähren: Vorräte, Handel, Güter, Leben – weg. Ob die eigenen Truppen oder Feindestruppen durchzogen, war eigentlich egal. Sie nahmen sich, was sie wollten. Und mit den Söldnern war die Pest in das aufstrebend-bezaubernde Städtchen an der Weser eingezogen. Zugleich steigt die Inflation, weil der Kaiser alte Münzen durch glänzende neue Münzen ersetzte, deren Silbergehalt aber viel geringer war.
Und mitten darin der jetzt 37-jährige Josua Stegmann, verantwortlich für die Seelsorge im ganzen Land Schaumburg. Er fällt aus seiner Welt, aus Disputationen und Theorie in den Angstschweiß, die Pestbeulen und findet sich vor den ausgehobenen Gräbern wieder.
Wie vierhundert Jahre später wir in die Pandemie fallen oder in die Zeitenwende. In diesem Moment, wo wir nur noch Pulsdröhnen, wegsackende Knie sind, die Luft wegbleibt. Wer hätte nicht schon mal darüber nachgedacht: Wie würde ich mich in einer Krise, einem Krieg, einer Krankheit verhalten, wenn ich betroffen wäre, wenn meine geliebten Menschen leiden … Und plötzlich ist er weg, der Konjunktiv. Das „was würde ich tun“ ist vernichtet. Statt Gedankenspiel Pandemie, leere Spielplätze, Panzertransporte in einen Krieg, mein geliebter Mensch in einer Urne.
Schreien, erstarren, weinen, Wortstille.
Ach.
Ach bleib mit Deiner Gnade, bei uns, Herr Jesu Christ (EG 347,1)
In der Krise überleben – ins Du Gottes fallen
Worte verdunsten, wenn man aus dem Paradies schöner Gedanken herausgefallen ist in den Schmerz. Worte werden zu leicht, lösen sich auf. Wie bewältigt man dieses Zurück-Geworfen-Sein auf das körperliche Spüren und Erfahren?
Josua Stegmann schreibt dieses Seufzer-Lied. Schlichtes Ach, immer wieder. Bitte, bitte Gnade, Worte, Glanz, Schutz, Segen Treue. All das, was gerade wegbricht. Gottesnähe gegen die innere Einsamkeit, die zum Feind wird. Der Glanz einer anderen Wahrheit als die ergraute Kriegswelt. Schutz für Leib und Seele. Treue eines Gottes, der fragwürdig wird.
Dieses Seufzer-Lied, ich stelle mir vor, entsteht in Josua Stegmann. Während er es schreibt und an der Sprache feilt, zieht es ihn selbst zu Gott. Aus dem eigenen inneren Ödland zu einem Du. Das ist ein großer Schritt, aus dem eigenen Elend in ein Du zu treten. Ach, bleib mit deinem Worte. Etwas anderes zu hören als die eigene Stimme, lässt mich heraustreten aus mich selbst. Das Du Gottes lässt mich mich selbst wieder sehen, statt in mir zu versinken. Ein Moment, wo das Leiden nicht mehr alles ist, was mich ausmacht. Ins Du fallen und wieder mehr sein als nur Schmerz, Sinnlosigkeit. Erlösung erleben.
Heinrich Heine verbringt seine letzten zehn Lebensjahre in extremen Schmerzen, gelähmt, ans Bett gefesselt, in seiner „Matratzengruft“, wie er es nennt. Er hält für sich fest, was das für ihn bedeutet, zu diesem Gottes-Du zurückkehren zu können:
„Ich bin nur ein armer Mensch, der obendrein nicht ganz gesund und sogar sehr krank ist. In diesem Zustand ist es eine wahre Wohltat für mich, dass es jemand im Himmel gibt, dem ich beständig die Litanei meiner Leiden vorwimmern kann, besonders nach Mitternacht, wenn Mathilde sich zur Ruhe begeben, die sie oft sehr nötig hat. Gottlob, in solchen Stunden bin ich nicht allein und ich kann beten und flennen, so viel ich will und ohne mich zu genieren, und ich kann ganz mein Herz ausschütten vor dem Allerhöchsten und ich kann ihm manches anvertrauen, was wir sogar unserer eigenen Frau zu verschweigen pflegen.“ (Zitiert aus dem Hörbuch Matratzengruft von Heinrich Heine, Kapitel 7, ab -0,39; Textkollage ausgewählt und gelesen von Annette Daugard und Uwe Neumann; ich würde die Passage einspielen)
Josua Stegmann, der Seelsorger, sammelt Gebete, Lieder und dichtet selbst welche. Er verlässt die lateinischen Klugheiten, schreibt stattdessen ein Erbauungsbuch „Gebet Büchlein auff die bevorstehende Betrübte, Krigs, Theurung und Sterbens Zeiten gerichtet“. Ach bleib mit deiner Gnade werden Generationen von Christen und Christinnen singen, aus dem aus dem auswendig gelernten Texten hervorholen, „um Gott die Litanei ihrer Leiden vorwimmern zu können, zu beten und zu flennen, ohne sich zu genieren, ganz ihr Herz ausschütten vor dem Allerhöchsten. Sie erleben es als Wohltat, als Erlösung, als Glanz im Dreck. Und die Konfession wird keinen Unterschied machen, evangelische und genauso katholische Christinnen und Christen finden in diesem Lied ihre Herzensseufzer wieder.
Ach, bleib mit deiner Gnade, EG 347,2–3
Hinausklettern aus der Krise – Hoffnungsfäden
Die Menschen, die so den Krieg, die tiefste Krise bewältigen, verändern sich. Ausgeplündert und überfallen werden, fühlt sich schrecklich gleich an, ob es die konfessionseigenen oder konfessionsfeindlichen Söldnerheere sind. Kriegszermürbt erleben Glaubende ihren Gott, der erlöst, der das Leiden in sich aufgenommen hat. Gott als Raum des Friedens. Die Bindung an die eigenen menschlichen Richtigkeiten ist für sie dagegen keinen Krieg mehr wert.
Sie sehnen sich nach Frieden, nicht mehr nach dem Sieg der eigenen Partei. Sie haben einen Gott erlebt, der sie heraushebt aus dem eigenen Leiden. Gott nimmt sie mit an einen Platz, wo sie sich selbst und das Geschehende betrachten können. Dieser Platz bei Gott, von dem aus sie vielleicht nur momentweise schauen können, ist die Gnade. Der Ort, wo Liebe größer ist als Verstand, Mitgefühl tiefer ins Menschsein führt als der Hass, Wahrheit in allen aufleuchtet, nicht nur in der eigenen Meinung. Ein Ort der Trotzkraft Gottes, der menschentreu bleibt, obwohl Menschen einander Unsagbares antun. „Ach, bleib mit deiner Treue … gib uns Beständigkeit“.
Die Menschen fallen aus dem Paradies heraus ins Leiden. Sie fallen, wenn Gott es ihnen gibt, momentweise in das Du Gottes, das ihnen einen Ort gibt, wo sie den Himmel wahrnehmen und zugleich im Leiden sind. Es sind diese Himmelsmomente, die sie herauskrabbeln lassen aus ihrem zerbrochenen Leben. Die Gnade, die Worte, der Glanz, der Segen, der Schutz, die Treue sind es, an denen sie sich festhalten. Hoffnungsfädchen, die zu Tauen werden, an denen sie sich hochziehen und aufstehen.
Sie lassen Heinrich Heine in der Matratzengruft die wahre Wohltat fühlen, dass da ein Allerhöchster ist. Sie bewegen Josua Stegmann, den überzeugten Lutheraner – „Ach, bleib mit deiner Gnade“ lautet ja die erste Strophe. Sola gratia – die Gnade allein, Urbekenntnis der Protestantinnen und Protestanten“ – an den Ort des Gottesfriedens, jenseits aller Konfessions- und Machtkriege. Sie bewegen ihn zu einem anderen Beten, einem Beten vom Ort aus, wo man in Gottes Du gefallen ist.
„O du Hertzog des Friedens / Hilff dass alle Regenten und Oberherrn einträchtig und friedfertig seyn / Gerechtigkeit und den Frieden lieben / die Einigkeit suchen und ihr nachjagen / Wehre dem höllischen Störenfried / dem Teufel / dass er nicht den Saamen der Uneinigkeit außstreue / Mißtrawen anrichte / und alles Elend stiffte. Stewre allen Friedhässigen Leuten / die zum Krieg und Unruh Lust haben / zu Zwietracht und Unfriede Anlaß geben / mach ihre Anschläge zu nichte / und laß sie in ihrem Vornehmen zu Schanden werden / verbinde die Hertzen aller Potentaten unnd Oberherren mit dem Bande der Liebe / mit dem Bande des Friedens / mit dem Bande der Einigkeit / dass der Friede daher fliesse wie ein Bach / und die Versöhnligkeit wie ein Strom sich ergiesse.“ (https://www.lwl.org/westfaelische-geschichte/portal/Internet/finde/langDatensatz.php?urlID=490&url_tabelle=tab_texte)
Einspielung der Interpretation von Till Brönner und Dieter Ilg – gekürzt ausblenden: https://www.youtube.com/watch?v=ZqWfrM0Bv_U
Josua Stegmann starb 1632 mit 44 Jahren. Als die Katholiken ihn zu einer Vorlesung bestellt hatten, hatte er wohl noch gehofft, jetzt gehe es zurück in eine Wirklichkeit der Argumente, des Verstandes, des Wissens. Aber sein Ich als Wissenschaftler nimmt in dieser „Vorlesung“ tiefen Schaden. Er wird unterbrochen, verspottet, vorgeführt. Seine Ehre als Professor, letzte Spuren seiner Bilderbuchkarriere liegen in Trümmern. Der Krieg wird noch sechzehn Jahr nach seinem Tod weitergehen. Unvorstellbar für uns, die wir wieder Kriegsjahre zählen lernen müssen. Ach, ach bleib mit deiner Gnade. Die Bilderbuchkarriere des Professors Josua Stegmann zerbricht. Doch der Seelsorger Stegmann schenkt unendlich vielen Menschen Worte, die sie im Leiden mit Gott verbinden. Eine andere Karriere, eine mit Himmelsglanz.
Ach bleib mit deiner Gnade, EG 347, alle Strophen.