Von der Ohnmacht zum Kraftort

Von der Ohnmacht zum Kraftort

Wer die Grabeskirche in Jerusalem besucht, muss sich am Eingang bücken. Ich habe diesen kurzen Anhalt des aufrechten Ganges immer geschätzt. Es wird nach dem Eingang auch nicht „wuchtiger“. Es ist eher ein von uns Touristen „heimgesuchter“ Ort mit Blitzlichtgewitter und Menschengedränge. In der Karfreitagspredigt in dieser Ausgabe habe ich – sehr spät realisiert – das Kreuz (auf Golgatha) als „Kraftort“ entdeckt. Gleichzeitig hatte ich ein bemerkenswertes Buch über das „Kreuz“ zu besprechen. In ihm findet sich neben sehr vielen großartigen Abbildungen ein Teil des „Maskell-Elfenbeins“, das den Tod des Judas und Christus am Kreuz zeigt Ein mir bislang unbekanntes Kunstwerk, das vermutlich als Kästchen – mit vier weiteren Seiten – ein Reliquiar beinhaltete. Das Kreuz bleibt paradox. Unzugänglich. Den einen eine Kraftquelle, anderen ein Ärger, den meisten wohl eine Torheit. Eine Tatsache bleibt, die kein ernsthafter Historiker oder Theologe bestreitet: Es gab zwei Tote am Karfreitag. Eben auch Judas, das Selbstopfer des verzweifelten, ausweglosen Menschen. Dessen Welt zusammenbricht, als sie in einer entscheidenden Stunde ganz anders läuft, als er sich das vorgestellt hat. Das ist das eine. Judas hängt an seinem Ast wie ein Erhängter am Ast hängt. Jesus überbietet dagegen das Kreuz. Jesus ist der Auferstehung näher als dem Tod. Ungewöhnlich muskulös sehen wir kein Durchhängen der Schulter, kein geneigtes Haupt, allenfalls die ihm von dem Söldner Longinus zugefügte Wunde an der Seite, der rechts aus dem Bild zu treten scheint. Maria, die Mutter – bis auf das offene Gesicht verhüllt – und Johannes, der Lieblingsjünger – kein esoterischer oder gar homophiler Jüngling, eher ein gestandener Mann in der Kraft seines Alters –, beide in gleicher Höhe wenden sich nicht verzweifelt ab. Sie scheinen eher, vor allem Johannes, dem Söldner Longinus entgegenzutreten. Während Jesus sichtbar, spürbar „thront“. 

Es ist mir erstmals – seit vielen Jahren – ein neues Geheimnis um das Kreuz. Als ob das Kreuz erst ein Auftakt wäre … Ein Auftakt, der die Brücke über Ostern und die (Kirchen-)Geschichte schlägt. Über Elend und Kriege, Kriege und Elend bis zu uns. Sah ich bisher das Kreuz als fortwährendes Zeichen seiner und unser aller Ohnmacht, so weist diese Elfenbeinminiatur aus dem 5. Jahrhundert über alle Gräberfelder von Judas über den dreißigjährigen Krieg, über Verdun, Bergen-Belsen und Mariupol bis vor meine Haustür. Nichts wird weggeschönt. Das kleine Elfenbein-Bild (ich habe gelernt, dass helfenbein vom Elefanten helfant stammt) ist so grundehrlich wie einfach. So großartig wie herznah. So plastisch wie narrativ. Wenn Sie den gekreuzigten Jesus auf diesem Bild betrachten, dann sehen Sie kaum noch ein Kreuz. Dieser Christus (das Johannesevangelium „verdichtet“ diese Erhabenheit) erhebt sich über das Kreuz, ist größer als das Kreuz, überragt alle und trägt keine Zeichen der Ohnmacht.

Nun ist mir angesichts all der elend Gestorbenen – wer hat darüber keine Erfahrung in seiner nahen Umgebung? – nicht danach, das Elend kleinzureden. Im Gegenteil, ich entdecke eine „Urkraft des Heiligen“ (Jörg Zink), die mir nur „im Bild“ zugesprochen, in den Ostertexten wiederholt und in den Liedern bekräftigt wird. Ein „aber“ bleibt der kleine Seitenstich des „Longinus“ genannten Söldners, der für alle Söldner unserer fast zeitlosen Kriegsgeschichte steht. Doch bei Jesus Christus sind es eben Wunden des „Lebendigen“. Unser aller Weg geht durch den Tod ins Leben. Und vergessen wir nicht den sich in seiner Verzweiflung erhängenden Judas neben (unter) uns. Auch ihm gilt, dass das Schweigen, das sich über ihn breitet, „vorüber geht“. Waren wir nicht alle „Besserwisser“? Pläne sind nicht aufgegangen. Aber hat sich damit ein Leben erübrigt?

Es ist ein alter Streit in der Theologie, ob man von Allversöhnung – Röm 5,10 oder Kol 1,20 u.ö. – (ἀποκατάστασις) reden soll/darf. Den einen ein Ärgernis, den anderen eine Torheit. Mir aber eine Wohltat. Ich käme doch nie auf die Idee, mein „Ostern“ an mein Leben zu knüpfen. Und wenn schon mein Leben – in all seinem Misslingen und Gelingen – nicht an dem schwachen Faden hängt, dann doch an diesem stabilen Kreuz. Und das „Maskell-Elfenbein“ sagt uns: Selbst am Kreuz stehst du bei Christus auf „starken Schultern“.

Die „Urkraft des Heiligen“ – wohin sie mich auch wirft – es ist gutes Land. Auch jenseits von Andromeda und den Nebeln, die ich mit meinem kleinen Teleskop nicht sehe: Es ist Gottes Land, dein Land, Christus. Mehr muss nicht sein. Dann ist es gut.

Gerhard Engelsberger

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