Vor einem halben Jahrhundert übernahm ich die Pfarrstelle in Harle (Nordhessen). Sehr schnell lernte ich von den älteren Dorfbewohnern, was für sie der „stille Freitag“ (Karfreitag) und der „stille Samstag“ (Karsamstag – der Sabbat, der siebte Tag der Woche) waren und wie sie diesen stillen Samstag mit ihrem Arbeitsleben verbanden. Da war der Sonntag noch der erste Tag der Woche (Mk 16,2). Wenig später ist er zum letzten Tag der Woche geworden, der Donnerstag zum „Mittwoch“ und der Karsamstag zum Ostersonnabend, oft auch heute noch: tempores mutantur – die Zeiten wandeln sich!
Die Worte „Karfreitag“ und „Karsamstag“ erzählen wie „Gründonnerstag“ von ihrer Bedeutung (nomen est omen): Grün kommt von dem alten Wort „greinen“ für weinen, Kara bedeutet Klage, Kummer, Trauer. Die Worte zeigen uns, was für diese Tage angesagt ist, aber kaum noch beachtet wird. So gibt es nur noch wenige Kirchengemeinden, die am Karsamstag einen Gottesdienst feiern oder ihn in einer stillen Andacht erkunden. Dafür lädt eine Kirchengemeinde am Karsamstag zu einem Benefizkonzert für krebskranke Kinder in die Kirche ein. Heiligt der Zweck die Mittel? Wenn aber in unserer Kirche unsere Zeiten gleich gültig geworden sind, dann müssen wir uns nicht wundern, wenn immer mehr Menschen diese Kirche gleichgültig wird.
Selbst den Karfreitag haben wir zum Passionsspiel gemacht und bemänteln die nackte Wahrheit, die wir nicht hören und wohl auch nicht sehen wollen, höchstens begaffen. Der Theologe Martin Hengel schreibt: „Neben der Tatsache, dass die Annagelung an Händen und Füßen in römischer Zeit die Regel war, muss die ebenfalls stereotype römische Begleitstrafe der Geißelung mitberücksichtigt werden. Hier floss das Blut in Strömen. Vermutlich war Jesus durch den Blutverlust so geschwächt, dass er den Kreuzbalken nicht zur Richtstätte tragen konnte; auch sein relativ rascher Tod erklärt sich am besten auf diese Weise“ (S. 613), und er fährt fort: „Weiter bedeutet die Kreuzigung durch die öffentliche Zurschaustellung des nackten Gequälten an einem hervorgehobenen Platz … eine äußerste Schändung des Opfers, die numinose Dimensionen besaß und der sich gerade der Jude aufgrund von Dtn 21,23 besonders bewusst war: Der Leichnam eines Gekreuzigten soll „nicht über Nacht an dem Holz bleiben, sondern du sollst ihn am selben Tag begraben – denn ein Aufgehängter ist verflucht bei Gott“.
Die öffentliche Zurschaustellung bediente die Gier der Gaffer. Und das ist bis auf den heutigen Tag so, wie ein Blick bei Unfällen auf den Autobahnen zeigt. Dazu gehört auch, dass wir nach dem Hören der Matthäuspassion von J. S. Bach nach dem Verklingen des letzten Chorals „Ruhe sanft, sanfte ruhʼ“ in der Kirche in Beifall ausbrechen, auch nach dem Hinweis des Pfarrers, nach dem Verklingen dieses Chorals für zehn Sekunden still zu sein und dann zu applaudieren. Was macht es uns so schwer, in der Stille auseinanderzugehen hinüber in die Stille des Karsamstags? In der Stille zu gehen geht nicht.
Und was passiert, wenn wir dieses unmenschliche Leiden Jesu und die buchstäblich nackte Wahrheit bemänteln? Unzumutbar? Schauen Sie einmal, in wie vielen Kirchen ein Kreuz mit dem nackten Jesus hängt. Wir schnitzen uns lieber die Kreuzigung schön. Dann lieber ein vergoldetes Kreuz, das man wie ein Schmuckstück an- und ausziehen kann wie die beiden Bischöfe auf dem Tempelberg in Jerusalem. Da wollten sie das Tragen des Kreuzes als Skandal vermeiden.
Dass das Kreuz ein Skandal ist und eine Dummheit, darauf hat Paulus hingewiesen (1. Kor 1,23): „Wir aber predigen Christus, den Gekreuzigten, den Juden ein Ärgernis und den Heiden eine Torheit.“ Schon der Kirchenvater Justin, der den Anstoß der christlichen Botschaft in seiner Welt mit dem Wort Verrücktheit (mania) umschreibt, verdeutlicht (Apol. I,13,4): „Denn darin, erklären sie, besteht unsere Verrücktheit, dass wir den zweiten Rang nach dem unwandelbaren und ewigen Gott, dem Weltenschöpfer, einem gekreuzigten Menschen zusprechen.“ Das griechische Wort für Ärgernis heißt skandalon, wörtlich Fallstrick. Und das Wort für Torheit heißt moria. Was die Dummheit des Glaubens an einem misshandelten Gekreuzigten eigentlich ist, kannst Du auf dem wohl ersten erhaltenen Kreuzigungsbild sehen. Etwa einhundert Jahre nach Jesu Kreuzigung hat ein unbekannter Soldat auf dem Palatin in Rom die Worte in einen Stein geritzt: Alexamenos betet zu Gott. Der Benannte kniet vor einem Kreuz, und der dort Gekreuzigte hat einen Eselskopf. Der Glaube an den Gekreuzigten ist aus Sicht dieses Steinritzers eine Eselei, eine moria. Für Paulus ist der Gekreuzigte „Gottes Kraft und Gottes Weisheit“. Diese unterschiedlichen Glaubensweisen dürfen wir nicht schönreden und bemänteln. Was Paulus ausdrückt, ist nichts als die nackte Wahrheit. Jesus starb gerade nicht einen „beliebigen“ Tod. Er wurde nackt am Kreuz in grausamer und verächtlicher Weise zur Schau gestellt, „für uns alle dahin gegeben“, sagt Paulus. Dieser Kreuzestod des Menschen und Messias ist bis heute ein Ärgernis, das man auf alle mögliche Weise entschärfen, auflösen und domestizieren will. Deshalb gibt der Karsamstag Zeit und Raum, um in die Stille zu gehen und das unsägliche Leid in dieser Stille zu ertragen.
Der Theologe Klaus Berger vermerkt in seinem Buch über den Humor Jesu ganz persönlich: „Ich kann die seichten Osterpredigten schon lange nicht mehr hören, in denen erklärt wird, nach der totalen Katastrophe des Karfreitags sei nun plötzlich den Jüngern ein Lichtlein aufgegangen. Nach Hunderten gehörter Osterpredigten und Grabreden, nach einigen dicken und dünnen Büchern zum Thema Auferstehung und über das, was nach dem Tod kommt, nachdem ich mich geärgert habe über die öffentliche Propaganda für Friedwälder und Seelenwanderung nach dem Ersatzmodell „Nachruhm“ … oder „du ruhst in meinem Herzen“ (Todesanzeigen) tendiere ich eher zur Meinung eines trappistischen Freundes, der Karsamstag mit seinem vernehmlichen Schweigen sei „der schönste Tag des Kirchenjahres“. Und die Schönheit dieses Tages liegt in seiner Stille.
Was ist an dieser Stille und ihrem Aushalten so rettend, dass Jesus vierzig Tage und Nächte vom Geist in die Stille der Wüste getrieben wird (Mk 1,12.13) und der Prophet Jesaja dazu aufruft (40,3): „In der Wüste (!) bereitet den Weg des Herrn“?
Der Prophet Elia bringt es uns ganz nahe, als er allein in die Stille des Gottesberges geht (1. Kön 19,11.12 in der Übersetzung von Martin Buber):
„Da vorüberfahrend ER:
Ein Sturmbraus, groß und heftig,
Berge spellend, Felsen malmend,
her vor SEINEM Antlitz:
ER im Sturme nicht –
Und nach dem Sturm ein Beben:
ER im Beben nicht –
Und nach dem Beben ein Feuer:
ER im Feuer nicht –,
aber nach dem Feuer
eine Stimme verschwebenden Schweigens.“
Gott naht sich nicht in der glitzernden Show, im ohrenbetäubenden mächtigen Getöse und auch nicht mit blendendem Feuerwerk. Er nähert sich uns in der Stille verschwebenden Schweigens. „Es sei stille vor ihm alle Welt“, wird der Prophet Habakuk (2,20) sagen, und der Psalmist (Ps 46,11) fügt hinzu: „Seid stille, sagt der Herr und erkennt, dass ich Gott bin.“ Diese stille Welt könnten wir am Karsamstag betreten, wenn wir uns ihr anvertrauten und nicht wie so oft vor ihr wegliefen.
Antoine de Saint-Exupéry schreibt von den Bäumen einer Oase in der Wüste: „Und ich erkannte, dass sie die Stille nötig hatten“ und fügt für uns hinzu „denn nur in der Stille kann die Wahrheit eines jeden Früchte ansetzen und Wurzeln schlagen“. Nur in der Stille wächst, was uns hält und trägt. Sind wir nicht, wenn wir uns auf Gott verlassen, wie ein Baum, am Wasser gepflanzt, dessen Blätter nicht verwelken und der unaufhörlich Frucht bringt (Jer 17,7.8)? Und steht der Mensch nicht wie ein Baum am Tor zur Welt der Psalmen (Ps 1,3)?
Noch einen Schritt weiter in die stille Tiefe führt uns der unbekannte Schreiber des 1. Petrusbriefes etwa zwei Generationen nach dem Tod und der Auferstehung Jesu Christi.
Lesen: 1. Petrus 3,18–22
Ein für alle Mal ist Christi Todesleiden geschehen. Es geschah, um uns zu Gott hinzuführen. Unsere Sünden wurden durch sein Sterben „ein für alle Mal“ getilgt. Den Weg zu Gott hat er für uns freigemacht, die wir aus dem Bereich des Gottesrechts ausgebrochen sind und dadurch mit Gott gebrochen haben. Dieser Leidende und am Kreuz Gestorbene führt uns zu Gott hin. Aber nicht nur uns Lebende, sondern alle, auch die „Geister im Gefängnis“, wozu Martin Luther verwundert bemerkt: „Das ist ein wunderlicher Text und finstrer Spruch, als nur einer im neuen Testament ist, dass ich nicht gewiss weiß, was S. Peter meinet“ (WA 12,367). Die „Geister im Gefängnis“ sind demnach die Seelen des Sintflutgeschlechtes, die an einem jenseitigen Ort der Strafe verwahrt sind. Christus aber hat als der Gestorbene und Auferstandene auch diesem verlorensten Teil der Menschheit das Heil angeboten. Die Heilswirkung seines Todesleidens reicht sogar hin zu den Menschen, die in diesem Leben nicht zu einer bewussten Begegnung mit Christus kommen, selbst zu den Verlorensten unter ihnen: „Es wurde auch den Toten das Evangelium verkündigt“ (1. Petr 4,6). Und das geschah in der Stille des Karsamstags. Diese beiden Stellen (1. Petr 3,18 und 4,6) sind die einzigen im Neuen Testament, die ein Wirken des gestorbenen und auferstandenen Christus an den Verstorbenen aussagen: „Hinabgestiegen in das Reich der Toten“, wird es dann im Apostolischen Glaubensbekenntnis heißen.
Noch deutlicher wird die Rettung durch Gott benannt: Gott, der Noah rettete, rettet jetzt durch die Taufe. Beide Mal rettet Gott, indem er Menschen durch Wasser hindurchführt. Und jetzt geschieht die Rettung durch die „Auferstehung Jesu Christi“ (3,21). Dabei wird die Taufe als verpflichtende Bitte gesehen wie sonst nirgends im Neuen Testament. Zeichen dieses Rettens ist das „gute Gewissen“. Und dann beschreibt der Verfasser das Ziel des Christusweges. Wie im Röm 8,34 sitzt er „zur Rechten Gottes“ und alle „Mächte, Engel und Kräfte sind ihm untertan“ (Ps 110,1b), und wie Paulus (Röm 8,38) werden vor den „Mächten und Gewalten“ die Engel genannt. Das „Hingehen“ bedeutet für den Ver fasser unseres Briefes die Erhöhung. Das Ziel ist das Sitzen „zur Rechten Gottes“. Deutlich wird, dass der Weg des Leidens um der Gerechtigkeit willen durch Christus zu einem Segens- und Siegesweg geworden ist: Das Geheimnis des stillen Karsamstags geschieht zu unserer Rettung in der Stille.
Dann entdecken wir, dass im Christentum Diesseits und Jenseits untrennbar zusammengehören, denn es ist Gottes Welt, die er in Jesus Christus erlöst hat. Der Theologe Udo Schnelle fasst es so zusammen: „Der evangelischen Kirche droht ihre Identität verloren zu gehen, weil die Ethik an die Stelle der Metaphysik getreten ist; weil von der befreienden und heilenden Kraft des Glaubens nur noch in politischen und nicht mehr in geistlich-theologischen Kontexten gesprochen wird und vor allem, weil die Auferstehung Jesu Christi von den Toten nicht mehr ernst genommen wird. Die Kirche verleugnet ihre Grundlagen, wenn sie ihre Glaubensinhalte beliebig macht und das Christliche ausschließlich in der Begründung bestimmter ethischer Verhaltensweisen sieht.“ Reinhard Bingener kommentiert: „Der Preis für die schleichende Verfreundlichung des Gottesbildes ist eine gewisse Sprachlosigkeit.“ Und unsere augenblickliche Beerdigungskultur ist ein Hinweis auf das Vergessen und Verdrängen der Auferstehung der Toten aus Angst vor dem Weg in die Tiefe.
Vor zehn Jahren hielt der Theologe Fulbert Steffensky im Ev. Forum in Kassel einen Vortrag, aus dem ein Satz in der Kirchenzeitung der Landeskirche „blick in die Kirche“ hervorgehoben wiedergegeben wurde: „Ich wünsche mir, dass unsere Kirchen wieder Orte des Schweigens und der Anbetung werden.“ Sein Wunsch hat kaum Gehör gefunden, wie auch unser Umgang mit dem Karsamstag und unser Umgehen dieses stillen Tages zeigen, an dem es in den evangelischen Kirchen kaum Andachten oder Gottesdienste gibt. Dabei verdeutlichte schon Jesaja (30,15):
„So spricht JHWH, der Herr, der Heilige Israels:
In Umkehr und Stille hätte eure Rettung gelegen,
in Ruhe und Vertrauen hätte eure Stärke bestanden –
aber ihr habt nicht gewollt!“
Zitate:
Udo Schnelle, Die Kirche verleugnet ihre Grundlagen in: FAZ vom 10.07.2020, S. 18; Klaus Berger, Ein Kamel durchs Nadelöhr? Der Humor Jesu, Herder Verlag Freiburg 2019 S. 115; Martin Hengel, Mors turpissima crucis in: Studien zum Urchristentum, Kleine Schriften VI WUNT 234, Tübingen 2008, S. 594ff; Jörg Jeremias, Das Rätsel der Schriftprophetie in: Studien zur Theologie des AT FAT 99 Tübingen 2015, S. 297 (Jesaja 30,15); Leonhard Goppelt, Der erste Petrusbrief KEKNT Bd. XII/1, Göttingen 1978; Gerald Wagner/François Vouga, Der erste Brief des Patrus HNT 15/II Tübingen 2020; Barbara Ullrich, Karsamstag in: Hans-Helmar Auel (Hg), Unentdeckte Feiertage. Das Kirchenjahr als Fest des Glaubens DaW 89, Göttingen 2000, S. 110ff; Die Schrift verdeutscht von Martin Buber gemeinsam mit Franz Rosenzweig, Bd 2, S. 40,6 7.A., Heidelberg 1979
Gebet:
Herr, allmächtiger Gott,
vor dir klagen wir in der Stille …
Herr, allmächtiger Gott,
dich rufen wir in der Stille an …
Herr, allmächtiger Gott,
dich bitten wir in der Stille …
Psalmvorschlag: |
Psalm 65 |
Lesungen: |
1. Thessalonicher 4,9–11; Hiob 4,17–21; 5,17.18 |
Liedvorschläge: |
371 (Gib dich zufrieden und sei stille)
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484 (Müde bin ich) |
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88 (Jesu, deine Passion) |
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323 (Man lobt dich in der Stille) |
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65 (Von guten Mächten) |