Gottesdienst am 20. Februar 2022Lebendig und kräftig und schärfer

Sexagesimä, Hebräer 4,12-13

Für Peter war er ein Schlag ins Gesicht. Ausgerechnet dieser Satz. Am Tag seiner Konfirmation. Über ihm ausgesprochen wie ein Fluch. Schutz und Schirm vor allem Argen, Kraft und Hilfe zu allem Guten sollten mit den segnenden Händen des Pfarrers über ihm ausgebreitet werden. Und dann dieser Satz. Sein Konfirmationsspruch. Auf Jahr und Tag an ihm klebend. Ausgesucht vom Pfarrer, es waren noch diese Zeiten. „Peter Z., dein Konfirmationsspruch steht im Hebräerbrief im 13. Kapitel, Vers 14“, las der Pfarrer vor. „Da steht: Denn wir haben hier keine bleibende Stadt. Sondern die zukünftige suchen wir.“ Rumms. Das saß. Ein Satz wie eine Faust in der Magengrube. Da, vorm Altar einer thüringischen Kirche, die nicht seine war. Da, vorm Altar einer Kirche, tausende Kilometer von seiner wunderschönen und vertrauten Heimatkirche im serbischen Beschka entfernt. Da, mit dem Blick auf seine mühsam polierten, aber sichtlich abgenutzten Schuhe, traf Gottes Wort den Peter schneidend in Seele und Geist. Das tat weh, das ging durch Mark und Bein. Am Tag seiner Konfirmation stellte sich Peter das biblische Wort von der bleibenden Stadt, die er hier nicht hatte, einmal quer ins Herz. Es sagte ihm nichts. Oder zumindest nichts Schönes. Es schmeckte eisern und schwer.

Das Wort Gottes ist lebendig und kräftig und schärfer als jedes zweischneidige Schwert und dringt durch, bis es scheidet Seele und Geist, Mark und Bein, und ist ein Richter der Gedanken und Sinne des Herzens.
Und kein Geschöpf ist vor ihm verborgen, sondern es ist alles bloß und aufgedeckt vor den Augen dessen, dem wir Rechenschaft geben müssen.

Dass wir mit manchen Worten durchs Feuer gehen. Dass Bibelverse schier körperlich fühlbar sind. Dass sie dich wahlweise warm umhüllen oder dir an die Nieren gehen, das wusste schon Martin Luther. Die Schrift ist klar. So schrieb er uns Evangelischen ins Stammbuch. Aber nicht alle Sätze entfalten ihre Klarheit vor dir, sobald du sie liest. Sondern mancher Bibelvers will im Licht der eigenen Erfahrungsgeschichte zum Strahlen gebracht werden. Muss sich anreichern mit Leben, Lieben und Erleiden. Mit Geschichten deines Ergehens. Und manchmal kann es sein, dass derselbe Vers, der dich heute schneidet wie ein zweischneidiges Schwert, lebendig und kräftig und schärfer als alle Schwerter dieser Welt, sich morgen vor dir öffnet wie ein wunderschöner Blütenkelch. Erlebt, erliebt, erlitten will es sein. Dieses Wort.

Das Wort Gottes ist lebendig und kräftig und schärfer als jedes zweischneidige Schwert und dringt durch, bis es scheidet Seele und Geist, Mark und Bein, und ist ein Richter der Gedanken und Sinne des Herzens.
Und kein Geschöpf ist vor ihm verborgen, sondern es ist alles bloß und aufgedeckt vor den Augen dessen, dem wir Rechenschaft geben müssen.

„Denn wir haben hier keine bleibende Stadt. Sondern die zukünftige suchen wir.“ Das war der Satz, den der Pfarrer ihm am Tag seiner Konfirmation als Segensspruch mitgab. Dieser Satz, vom Pfarrer sicher sorgsam ausgewählt, fiel bei Peter in Bausch und Bogen durch. Verletzt war er. Gekränkt. Denn er, der Flüchtlingsjunge, er, der seit dem Jahr 1944 eine Fluchtgeschichte in die eigene Biografie eingeschrieben hatte, um die er niemals gebeten hatte, er wünschte sich doch nichts sehnlicher als endlich wieder eine bleibende Stadt. Als endlich ankommen. Heimat finden. Diese Flucht vergessen. Die Tiere vergessen, die in der jugoslawischen Heimat seine liebsten Geschöpfe gewesen waren und denen man bei Nacht und Nebel die Ställe geöffnet hatte, damit sie durchkamen. Irgendwie und irgendwo Futter fanden, bevor man zur Flucht mit dem Bollerwagen aufbrach. Die großväterliche Schmiede vergessen und die schöne Nachbarstochter auch. Ankommen. Bleiben. Das war, was er wollte. Aber der Pfarrer sagte dies. Und es ging ihm an die Nieren. „Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“ Wie sollte Peter nicht denken, was er dachte. Dass der Pfarrer ihm so durch die Blume mitteilte: „Denkt nicht, dass ihr hier bleiben könnt.“ Er hat das später oft erzählt. Seiner Frau, die er an der Endstation seiner Flucht in Karlsruhe fand, Donauschwäbin wie er, viel schöner noch als die Nachbarstochter aus Beschka. Hat oft erzählt, wie dieser Satz ihn schnitt, seiner Frau, seinen Kindern und Enkelkindern.

Das Wort Gottes ist lebendig und kräftig und schärfer als jedes zweischneidige Schwert und dringt durch, bis es scheidet Seele und Geist, Mark und Bein, und ist ein Richter der Gedanken und Sinne des Herzens.
Und kein Geschöpf ist vor ihm verborgen, sondern es ist alles bloß und aufgedeckt vor den Augen dessen, dem wir Rechenschaft geben müssen.

Gottes Wort, erlebt, erliebt, erlitten. So erzählt es auch die Bibel in den unzähligen Geschichten von Menschen, die das Wort Gottes trifft. Hart kann es sein und ungnädig da, wo es Schuld aufdeckt. Das hat, im Mythos, schon Adam so erlebt, allererster Mensch Gottes und von Gott in seiner Schuld gefunden: „Adam, wo bist du?“ Das hat, im Mythos, auch Kain so erlebt, den Gott nach seinem Bruder fragt: „Wo ist dein Bruder Abel?“ Und weil der Mythos ja nichts anderes erzählt als das ewig Gleiche des Menschseins, erleben auch wir es, real und greifbar da, wo Gott uns Menschen des 21. Jahrhunderts nach unseren Brüdern und Schwestern fragt. Nach denen, die wir an Grenzzäunen und auf Schlauchbooten im Mittelmeer ihrem Schicksal überlassen, obwohl wir ihre Hüter hätten sein sollen. Wir erleben es, als aufdeckendes und anklagendes Wort, wo es uns mit dem Genuss der wunderbaren Schöpfung Gottes doch den Auftrag mitgibt, diese Erde zu bebauen und zu bewahren. Und wir doch immer weiter diesen Planeten verbrennen. Wir erleben es, wo wir den Einspruch der Propheten des Volkes Israel gegen soziale Ungerechtigkeit auch uns durch Mark und Bein gehen lassen. Wo wir uns erinnern lassen von Amos, dass die Armen einer Gesellschaft nicht sich selbst überlassen werden dürfen. Und von Jesaja, dass da, wo wir uns in unsere selbst erschaffenen Götzen verkrümmen, kein Segen auf uns wartet, sondern Fluch.

Das Wort Gottes ist lebendig und kräftig und schärfer als jedes zweischneidige Schwert und dringt durch, bis es scheidet Seele und Geist, Mark und Bein, und ist ein Richter der Gedanken und Sinne des Herzens.
Und kein Geschöpf ist vor ihm verborgen, sondern es ist alles bloß und aufgedeckt vor den Augen dessen, dem wir Rechenschaft geben müssen.

Wir hätten es so gerne anders. Leichter. Bequemer und gemütlicher im warmen Arm unseres lieben Vaters überm Sternenzelt. Aber da ist Gott nicht zu finden. Er ist auch nicht in den leeren Hülsen von ewiger Liebe und billiger Gnade zu finden, nicht in der schablonenhaften Rede von Gottes bedingungslosem Vergeben und Verzeihen.
Du findest ihn da, wo sein Wort dich bewegt und aufwühlt. Dich richtet und orientiert. Wo es dir Rechenschaft abringt, dich bloßstellt und erkennt. Wo es existenziell in dein Ergehen hineinspricht und du mit ihm ringst wie Jakob am Jabbok, wie Peter am Altar seiner thüringischen Konfirmationskirche, wie du und ich in den schlaflosen Nächten, in denen die Schuld uns drückt, die Scham uns schneidet.
Gottes Wort ist nicht weich. Es trifft dich manchmal eisern und schwer in den Tiefen deiner Scham, wie Peter, den Flüchtlingsjungen. In den Tiefen deiner Schuld, wie Kain, den Brudermörder. Es trifft dich manchmal in schierer Bedürftigkeit nach Erlösung und Orientierung, wie die Ehebrecherin, die Jesus, lebendiges Wort Gottes, vor ihren Anklägern beschützt und doch weiterschickt mit den Worten: „Geh hin und sündige hinfort nicht mehr.“ (Joh 8,11) Zuspruch und Anspruch ist es. Rettung und Richtwort. Anklage und Freispruch. Manchmal in ein und demselben Wort.

Das Wort Gottes ist lebendig und kräftig und schärfer als jedes zweischneidige Schwert und dringt durch, bis es scheidet Seele und Geist, Mark und Bein, und ist ein Richter der Gedanken und Sinne des Herzens.
Und kein Geschöpf ist vor ihm verborgen, sondern es ist alles bloß und aufgedeckt vor den Augen dessen, dem wir Rechenschaft geben müssen.

Peter, der Flüchtlingsjunge, kam irgendwann an. In Karlsruhe. Im Frieden. Im Leben. Er hatte so viel. Einen Beruf als Kfz-Mechaniker. Einen Bauplatz. Kinder mit der schönen Donauschwäbin. 60 Jahre Ehe. Enkel und Urenkel. Engagement in der Kirchengemeinde, treue Gottesdienstbesuche, eine große Gelassenheit, mit der er schließlich auf die Höhen und Tiefen seines Lebens blickte. Es war schon gut. Ja, gut war es. Er war dankbar. Und nach und nach, Jahre ging das, wurde er einig mit den einst gehassten Worten, die der Pfarrer im Jahr 1946 in sein trauriges junges Flüchtlingsgemüt gesprochen hatte. Dass wir hier auf dieser Erde eben doch nur als Gäste wandeln. Und unsere eigentliche Heimat bei Gott ist. Dass hier alles vorläufig ist, Vorletztes, das zwar gilt, aber eben nicht letztgültig zählt, das hatte Peter Z. in einem langen, ereignisreichen Leben erlebt, erliebt und erlitten. Du musst, so hat er dann auch gerne gesagt, du musst es machen wie der Weizen im Wind. Mit dem Wind dich beugen. Ihn über dich gehen lassen. Dich in der Stille wieder aufrichten. Standhaft und doch flexibel sein. Denn das alles hier ist ja nur das Vorletzte.
Im August des vergangenen Jahres habe ich ihn beerdigt. Über seiner Beerdigung stand dieser Satz: „Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“ Er hatte es so gewollt. Peter Z. fühlte jetzt, was ein biblisches Wort ihm einst quer ins Herz gestellt hatte. Fühlte und liebte es, dieses Wort, lebendig, kräftig und scharf. Und fand darin eine ewige Ruhe.

Eingangsgebet:
Ich hoffe auf dein Wort, Herr,
am Anfang dieses Tages, am Anfang dieser Woche.
So stehe ich hier. Mit offenen Händen. Offenem Herzen.
Fruchtbarer Boden für dein Wort.
Schenke es mir.
Ein Wort, das mich tröstet.
Eines, das mich orientiert.
Eines, das mir den Weg leuchtet.
Eines, das mich vom Kopf auf die Füße stellt.
Ich vertraue darauf. Ich baue darauf.
Durch Jesus Christus, deinen lieben Sohn, lebendiges Wort,
unser Herr und Bruder.

Fürbittengebet:
Du sprichst, Gott, und wir hören.
Wo du sprichst, da scheidet dein Wort Geist und Seele, Mark und Bein.
Da schafft es Klarheit, Trost, Orientierung und Segen.
Wir bitten dich heute um dein Wort für alle, die Verantwortung haben für die Zukunft Europas, die Entscheidungen treffen und Weichen
stellen: Erinnere sie an deinen Auftrag, diese Erde zu bewahren.
Erinnere sie an die gegenseitige Verantwortung, die wir für unsere Schwestern und Brüder haben.
Erinnere sie an die Liebe, zu der wir verpflichtet sind.
Wir bitten dich: Erhöre uns.

Psalmvorschlag: Psalm 119
Evangelium Lukas8,4-8
Liedvorschläge: 295,1–4 (Wohl denen, die da wandeln)
194,1 (O Gott, du höchster Gnadenhort)

196,1.2.5 (Herr für dein Wort sei hochgepreist
  199,1–5 (Gott hat das erste Wort)
  653,1.2.4 (Herr, deine Liebe ist wie Gras und Ufer)
Anzeige: Jana Highholder - Overflow. 137 Fragen für ein Leben in Fülle – Journal

Pastoralblätter-Newsletter

Ja, ich möchte den kostenlosen Pastoralblätter-Newsletter abonnieren und willige in die Verwendung meiner Kontaktdaten zum Zweck des E-Mail-Marketings durch den Verlag Herder ein. Den Newsletter oder die E-Mail-Werbung kann ich jederzeit abbestellen.
Ich bin einverstanden, dass mein personenbezogenes Nutzungsverhalten in Newsletter und E-Mail-Werbung erfasst und ausgewertet wird, um die Inhalte besser auf meine Interessen auszurichten. Über einen Link in Newsletter oder E-Mail kann ich diese Funktion jederzeit ausschalten.
Weiterführende Informationen finden Sie in unseren Datenschutzhinweisen.