Erschöpfte Liebe atmet auf

„Der Worte sind genug gewechselt, lasst mich auch endlich Taten sehn; indes ihr Komplimente drechselt, kann etwas Nützliches geschehn“, erklärt der Direktor der lustigen Person vor Beginn des Prologs. (Goethe, Faust I, Vers 214 ff)
Lange genug haben wir Abstand gehalten, sind uns mit Mundschutz begegnet, mussten Querdenker auf den öffentlichen Plätzen ertragen und die Poltergeister von Rechtsaußen im Bundestag. Sprachliche Neuentdeckungen gab es: Die Bevölkerung wird „durchseucht“, „Herdenimmunität“ ist angestrebt, Impfdosen werden „verimpft“. Immer lautere (im Sinne von Lärm machen) Diskussionen über Sonderrechte für Geimpfte, Abschaffung der Grundrechte, geheime Weltregierung, falsche Prioritäten und fehlgeleitetes Steuerzahlergeld belästigten die Ohren. Derweil starben Menschen in seit der Spanischen Grippe und den beiden Weltkriegen nicht bekannter Zahl. Toleranz und Nächstenliebe sind gelegentlich ein echt schwieriges Geschäft.
Darüber ist es Frühling geworden. Nützliches ist geschehen. Die ersten Millionen sind geimpft. Viele genesen. Vergessen wir die Verstorbenen nicht. Und doch wenden wir uns der Sonne zu, dem Licht, der Wärme. Die Natur trägt wieder Farben, die Gesichter der Menschen auch. Es scheint nur noch eine Frage der Zeit, bis man wieder vor Sonnenbrand warnt und Schnäppchenreisen bucht.
„Alles streckt sich zum Leben“, schreibt Jochen Lenz in dieser Ausgabe der PASTORALBLÄTTER in seinem Gebet zum Himmelfahrtsgottesdienst. Ja!
Ja. Aber.
Aber mir geht manches einfach zu schnell. Ich weiß es aus der eigenen Familie, dass es nicht mit einem „Los geht’s“ dann auch echt wieder losgeht. Für viele ist die Atemluft noch kostbar, begrenzt, und die Enge in der Brust beängstigend. Langsam tasten sie sich heran an früheres Leistungsvermögen, wenn sie es überhaupt erreichen.
Es ist wie immer im Leben. Erst wünschen wir uns etwas, jagen ihm nach, sind hinter ihm her, und wenn es erworben ist, verliert es sofort an Wert – ideell und materiell. Die Selbstverständlichkeit des „Besitzes“, des Anspruchs, der Anwesenheit, der Gesundheit, der „Unterhaltung“, der „Immunität“ ist verführerisch. Wir sind „gewöhnungsbedürftig“. „Verwöhnt“ halten wir so großartige Dinge wie die Gebirge, das Meer, den richtigen Impfstoff, den Vollmond, die Gesundheit oder die Liebe des anderen für selbstverständlich.
Zurück zur Normalität war seit Weihnachten die Sehnsucht der Vielen, das Versprechen der Verantwortlichen. Doch was ist „Normalität“? Macht statt Ohnmacht, Tempo statt Geduld, Maßlosigkeit statt Herzensgüte, Fete statt Rücksicht, Aktienkurs statt RKI-Zahlen. Rendite und Gewinn statt Verzicht und Geduld. Stau auf der Autobahn, volle Stadien, volle Hallen, übervolle Auftragsbücher, Wachstum als Hausgott. „Fortschritt“ bedeutet immer noch mehr, immer weiter. Die Messlatte, die Aktienkursschaubilder, immer noch eins drauf. Von Null auf den höchsten Level. Und morgen ist der Level von heute nur Mittelmaß. Nichts dazugelernt?

Trauer braucht Zeit. Genesung braucht Zeit. So wie die Natur Zeit braucht, um sich von der Kälte zu erholen, Bär und Igel Zeit brauchen, um sich aus dem Winterschlaf zu räkeln, so braucht eine Gesellschaft nach (?) einer Pandemie Zeit, um sich zu erholen. Wir neigen dazu, Warteschleifen und Erholungszeiten zu überspringen. Wenn’s sein muss, überholen wir rechts und gönnen dem Langsameren noch ein kräftiges Hupen.

Unzählige Menschen – meist kennen wir sie nicht, wenn sie nicht in den Medien präsent waren – haben sich über den Winter bemüht, haben geforscht, getröstet, verteilt, bis zur Erschöpfung gearbeitet, bis zur Selbstaufgabe geliebt. Irgendwann ging es selbst bei den Engagiertesten nicht mehr. Und wenn Liebe erschöpft ist, braucht sie Zeit, sich zu erholen.
„Die Welt ist entzaubert, aber das religiöse Sprechen ist aktueller denn je.“ Das habe ich mir von Peter Sloterdijk notiert. Die entzauberte Welt, die nur noch einen Zauber kennt: „höher, weiter, reicher, schneller, mehr“ – diese Welt stürzt von einer Erschöpfung in die nächste. Sie schreit nach Sinn.
Wir Christinnen und Christen meinen, wir könnten dazu zumindest etwas beitragen. Nicht alles lösen und klären, anhalten und zurückhalten. Doch Achtsamkeit könnten wir verschenken, den Erschöpften ein Aufatmen, den Überarbeiteten einen Mehrwert, den Verbrauchten eine Zuwendung, den Müden ein Fest, der Liebe eine neue Chance.

Der Monat Mai ist der Monat der Farben, der Blüten, des Aufatmens – und der Liebe. Der „Wonnemonat“ Mai.
Für diesen Monat habe ich „Liebe“ als Thema gewählt, in einer Sammelanfrage wieder Autorinnen und Autoren gebeten, Trauansprachen zu 1. Korinther 13,13 beizutragen. Elf sind es geworden. Natürlich finden Sie zu Kantate, Rogate, Himmelfahrt, Pfingsten und Trinitatis – mit Exaudi sechs thematisch deutlich ausgerichtete Gottesdienste im Mai – Perikopenpredigten, dazu drei Alternativpredigten, insgesamt wieder eine Fülle von Anregungen, aus denen Sie schöpfen können – und vielleicht hier und dort selbst aufatmen mit der ganzen Schöpfung in unseren Regionen.

Ich bin mir bewusst, dass wir aufgrund der vielen Einschränkungen in Zeiten der Corona-Pandemie sozusagen „auf Halde produzieren“. Viele Gottesdienste werden so – z. B. über die sozialen Medien, über YouTube-Gottesdienste und hybride Formate – nicht gehalten werden können. Und dennoch enthalten die PASTORALBLÄTTER in jedem Beitrag auch für kleine Formate geeignete Bausteine. Nutzen wir die guten Gedanken der Autorinnen und Autoren, unserer Schwestern und Brüder, als Fragmente, als kleine Portion, als Anregung, als Depot, Kornspeicher oder Steinbruch ... bis wir eines Tages wieder in aller neuen Vielfalt der Möglichkeiten Gottesdienste feiern können.

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