Der Monatsspruch im Juni 2018

Vergesst die Gastfreundschaft nicht; denn durch sie haben einige, ohne es zu ahnen, Engel beherbergt.
Hebräer 13,2 (E)

Schlagwort 2015: „Willkommenskultur“.
Scheltwort nach 2015: „Ausländer raus.“
Dauerwort nach 2015: „Obergrenze“.
Angstwort nach 2015: „Ausländer in unserer Straße“.

„E-lend“ ist alte Sprache, heißt „Aus-Land“.
Nun nehmen Sie bitte einmal diesen schlimmen Begriff in seiner doppelten Bedeutung: „Aus-Land“. Aus. Land.
Nachbarschaft ist das pure Gegenteil von Elend, von Ausland. Der Begriff stammt aus den Vorzeiten unserer deutschen Sprache.
Nachbar. „Bar“ oder „Bur“ ist der Bauer. Und der „Nachbar“ ist der Bauer, der dir am nächsten wohnt. Ist dein „Nächster“. Mittelhochdeutsch „nachgebur“. Das englische „neighbour“ ist nichts anderes.

Was mich am meisten fasziniert hat beim Nachdenken über Nachbarschaft ist dies: Es gibt keinen, der nicht Nachbar wäre. Du wirst geboren. Du bist männlich oder weiblich, - und du bist Nachbar. Bevor du einen Namen hast, bevor du getauft und hochgepäppelt bist, bist du schon Nachbar. Gibt es schon Nachbarkinder. Du kannst noch nichts erkennen, nur hell und dunkel unterscheiden, und hast im Nachbarbettchen ein Nachbarkind. So geht das weiter. Deine Wohnung oder dein Haus - wie weit entfernt es vom nächsten liegen mag - ist das Nachbarhaus eines andern. Du spielst - vom anderen aus gesehen - in einem Nachbargarten. Du lebst - vom anderen aus gesehen - in einer Nachbarstadt, in einem Nachbarland.
Wer keine Nachbarn hat, so fasse ich meinen Ausflug in unsere Sprache zusammen - wer keinen Nachbarn hat, ist ein e-lender Menschen.

Zweite interessante Bemerkung: Der Nachbar „definiert mich vom anderen aus“.
Das zweite Faszinierende - auch etwas ganz Simples - ist dies: Wenn ich mich Nachbar nenne, dann bestimme ich mich vom Nächsten her, vom anderen, von dem neben mir. Ich bin nicht allein Nachbar. Das ist einfach nicht möglich. Ich bin Nachbar, weil es da einen anderen oder viele andere neben mir gibt, denen ich ein Nachbar bin.
Ich kann mich drehen und wenden. Ich bin als Mensch Mann oder Frau, und ich bin Nachbar. Das scheint so etwas wie eine menschliche Grundbestimmung zu sein und lenkt meinen Blick gleich weg von mir auf den oder die in meiner Nähe.
Mensch bin ich, wenn ein anderer Mensch „du“ zu mir sagt. Mensch bin ich, weil ich Mutter, Vater und Nachbarn habe. Besser noch: Mensch bin ich, weil ich Nachbar bin.

Das erschreckt mich auch, denn ich fühle mich plötzlich vereinnahmt. Ich kann mir die Nachbarn im Gegensatz zu meiner Frau ja nicht aussuchen.
Es gibt eine schwäbische Weisheit, die sagt: „En Onkel, wo en Bauplatz hot, isch besser wie e Tante, wo Klafier schpielt.“
Ich erschrecke auch, weil mich das Nachdenken an fortschrittliche Biologen (Richard Dawkins) erinnert, die behaupten, der Mensch sei von seiner Erbanlage, von seiner Gehirnstruktur und seinen Genen her ein „Kleingruppenwesen“, egoistisch angelegt, nicht auf Nachbarschaft, sondern auf Überleben. Und weil - das ist der „Knackpunkt“ - nun plötzlich der Nachbar mir im Weg steht. Der Nachbar bildet meine Grenze. Der Kollege wird zum Mitbewerber, zum Kontrahenten. Der Nachbar wird zum Streithammel und der Nächste zu dem, der mir Arbeit, meinen Kindern den Kindergartenplatz und meinen Radieschen die Sonne wegnimmt. Ach, wenn nur alle meine Nachbarn so wären, wie ich sein sollte.

Ich erschrecke, weil Nachbarschaft mich verpflichtet. Immerhin sagt der Volksmund auch: „Wer einen guten Nachbarn hat, braucht keinen Zaun.“ Oder: „Wer gute Nachbarn hat, kann ruhig schlafen.“ Na ja. Wohl dem, der solche hat ... Besser müsste ich sagen: Wohl dem, dem ich ein guter Nachbar bin.

Zurück zu uns selbst. Jeder von uns hat Nachbarn. Sie unterscheiden sich im Aussehen, in der Lebensweise und Religion, in der Gestik, in der Lautstärke ihrer Feste, im Zeitraum ihrer Anwesenheit. In meiner Kindheit, Ende der vierziger, Anfang der fünfziger Jahre nannte man die Neubürger „Flüchtlinge“. Und „Flüchtling“, das war eher ein Schimpfwort.
In Mannheim hatte ich einen jungen Nachbarn, der sich aus dem fünften Stockwerk zu Tode stürzte. Hatte Nachbarn, die mir in den Sommernächten den Schlaf raubten, und Nachbarn, die mir mein Kind versorgten, und sei es nur für Stunden. Als wir in Wiesloch in unser Pfarrhaus einzogen, sagte die inzwischen längst verstorbene Nachbarin: „Gott sei Dank, es brennt wieder Licht. Es wohnt wieder wer da.“
Sind wir nach fünfzig Jahren weniger auf den anderen angewiesen? Ist nicht heute wie damals einer, der keine guten Nachbarn hat, ein elender Mensch?
Ich komme mir gelegentlich, wenn ich solche Dinge erzähle, vor wie ein sentimentales Fossil.

... und die Moral von der Geschicht’:
Es ist eine grundsätzliche, allen Menschen gemeinsame Eigenschaft, Nachbar zu sein und sich nachbarschaftlich einzurichten.
Die „Partnerschaften auf räumliche Distanz“ sind großartige Zeugnisse eines Gesinnungswandels.
Vielleicht gelingt uns dieser - zum Teil - interkontinentale Brückenschlag auch über die Grenzen, die hier bei uns „Ich“ und „Du“, mich und dich manchmal so elend trennen.
Wir sind heute mehr denn je gefordert, als Männer Brüder, als Frauen Schwestern und als Menschen Nachbarn zu sein.
Es geht nicht um Sozialromantik. Es geht um das schlichte Überleben unseres Gemeinwesens, auch dessen, was wir Kultur nenne.
Es ist billig, über den Nachbarn zu lachen, wenn die Maulwürfe nun seinen Garten heimsuchen.
Es ist einfach, dem Nachbarn Ratschläge zum Sparen zu geben, wenn man im Geld schwimmt.
Es ist einfacher, ein Buch über Nachbarschaft zu schreiben, als selbst Nachbar zu sein.

Ich meine immer noch: Es muss doch möglich sein, dass ein Gemeinwesen in schwierigen Zeiten Nachbarschaft neu entdeckt und sich nachbarschaftlich organisiert. Wenn wir es nicht täten, wäre das nicht nur ein Armutszeugnis, es wäre ein Verrat an der eigenen Geschichte und - eine Riesendummheit.

„Wer Fett übrig hat, schmiere des Nachbarn Wagen.“
Übrigens: Das mit den „Engeln“ ist im Monatsspruch gut.

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