… geerdet

Jüngst habe ich mich mit „meinem Bundestagsabgeordneten“ in Berlin bei einer Pizza und einem Pils unterhalten. Anlass war ein Gottesdienst im Berliner Dom, den er tatsächlich - Flieger sei Dank - besucht hat.
Wie erdet sich ein Bundestagsabgeordneter?
Er erdet sich an Wochenenden, wenn er in seinem Wahlkreis unterwegs ist, sich Hass und Lob, Unverständnis und all die kleinen Bitten, Fragen, Sorgen anhört. „Basis“ ist ein viel zu schwacher Begriff. Manchmal geht er in die Berge, um einen klaren Kopf zu bekommen. Manchmal taucht er in ein Bad mit Schwefeldämpfen, manchmal nimmt ihn jemand in den Arm - Küsschen links, Küsschen rechts. Manchmal ist er sehr allein. Selbst offensichtlich in der Fraktion.
Ich kenne ihn seit gut drei Jahrzehnten.
Wir sind Freunde, Vertraute.
Ich schreibe ihm spontan, er antwortet gelegentlich „intern“.
Er hat noch einen Job, den er montags ausfüllt.
Er hat noch Visionen, aber seltener zielen sie auf eine Karriere in der Partei.
Er hat noch seinen Glauben, geht gelegentlich in Kirchen, findet selten gute Predigerinnen und Prediger; dann doch eher die Lieder, vielleicht auch die Gebete. Er sucht diese „Erdung“ in der Kirche, in Predigten, Texten und Liedern.
Er ist und bleibt Christ, ist weit in seinen Gedanken, wie ich es bin, nahe bei den Menschen, wie ich es war.

Jüngst habe ich ihm Bertolt Brechts kleinen Text - einen der vielen Kurzgedanken über „Herrn K.“ - geschickt:
„Ein Mann, der Herrn K. lange nicht gesehen hatte, begrüßte ihn mit den Worten: ‚Sie haben sich gar nicht verändert.’ ‚Oh!’, sagte Herr K. und erbleichte.“ (B. Brecht)

Ich habe mich gefragt, ob die Menschen sonntags zu uns in den Gottesdienst kommen, um zu „himmeln“ oder zu „erden“.
Ich glaube: eher das Zweite.
Meine „Access-Datei“ zu „Heimat“ wächst mit der Literatur seit ca. 2005. Böse Texte, gute Texte, schwache Texte, starke Texte.

„Gibt es etwas Besseres, als dort zu bleiben, wo du geboren, aufgewachsen, zur Schule gegangen bist, dich zum ersten Mal verliebt hast? Wo deine Eltern und Großeltern gelebt haben? Weshalb seinen angestammten Platz verlassen? Und wenn es schon sein muss, weil man ja das ein oder andere draußen in der Fremde lernen und zuwege bringen sollte, warum anschließend nicht wieder heimkehren? Es wäre nur die Hälfte des Vergehens zu spüren, wenn man an seinem Ort bliebe. Wenn man gar nicht anders könnte, als immer an seinem Ort zu bleiben.
Wie die Toten, sie verlassen ihre Heimat nicht. Du begegnest ihnen auf den Waldwegen am Talrand, unten am Fluss, wo Vater und Mutter saßen, wenn sie Sorgen hatten, und auf der Wiese, die über den alten Sportplatz wuchs. Sicher, manches hat sich verändert. Die kleinen Läden, in denen wir einkauften, gibt es längst nicht mehr. Die alten Ärzte, die ins Haus kamen, sind nicht mehr auf den Emailleschildern zu finden. Da gibt es nun neue Messingplatten, auf denen Gemeinschaftspraxen angezeigt sind und eine Menge neuartiger Heilverfahren. Aber das ist nur die blanke Oberfläche, wie das neue Pflaster auf den Bürgersteigen. Man darf sich nicht von Nebenansichten blenden lassen, der Ort selber blieb doch unangetastet und unantastbar. Es genügt ein Blick auf den Fluss, der sich in einer weichen Biegung durch das Städtchen zieht. Früher fuhren Lastkähne darauf, mit Kohlebergen gefüllt. Heute verkehren nur noch Vergnügungsboote und Yachten. Aber der Fluss ist doch derselbe geblieben. Kaum anzunehmen, dass er sauberer war, als wir Kinder darin badeten. Er mag auf und ab transportieren, was immer man ihm auflädt. Er ist und bleibt deine Zeit, dein Zuhause, dein Ort, deine Grenze.
Ein Fluss fließt nicht weg. Nur das, was er trägt, kommt und geht.“
Botho Strauß

„Heimat ist ein Ort, wo die Erinnerungen bleiben dürfen und nicht weggeschickt werden. Ein Ort der Harmonie oder, er verbesserte sich beim Reden: ein Ort, wo die Dissonanzen zur Harmonie werden.“
Elie Wiesel

„Dies ist die schönste Landschaft auf der Erde, keiner sollte hier wegsterben müssen. Wenn du in dieser Gegend aufs Geratewohl die Hand ausstreckst, deutest du immer, ob du willst oder nicht, auf ein Wunder der Natur, eine Sehenswürdigkeit oder ein Mirakel, die deinen Verstand bei Weitem übersteigen. Ich selbst habe noch nie eine andere Gegend gesehen, es nie gebraucht.“
Torgny Lindgren

„Wenn du eine Landschaft gut kennst, wirst du alle anderen Landschaften mit anderen Augen betrachten. Und wenn du einen Ort lieben gelernt hast, wird es dir leichter fallen, auch andere zu lieben.“
Anne Michaels

„Statistisch ist Heimat für 31 Prozent der Wohnort, für ­27 Prozent der Geburtsort, für 25 Prozent die Familie, für 6 Prozent die Freunde und für 11 Prozent das Land. Das sind deutsche Zahlen; ich vermute, europäi­sche und amerikanische Zahlen wären ähn­lich.“
Bernhard Schlink

„Unter meinen Füßen kein Asphalt mehr, sondern etwas we­niger harte Wiese. Ich kreuze die Wege von Joggern, Skatern und Touristen und lege mich ins Gras. Die Sonne strahlt, der satte, blaue Himmel lässt auf den Sommer hoffen, mein Blick folgt einzelnen Wolken von West nach Ost. Heimat, geht mir durch den Kopf, der geschützte und vertraute Ort der Kind­heit, eine überschaubare Welt mit klaren Verhältnissen, in der ich einen sicheren Platz hatte.“
Jörn Klare

Frage:
Wann erdet man mich? Ich kann das wohl nicht selbst.
Dazu brauche ich andere? Ist der Gottesdienst eine ­„Erdung“? Wenn nein, was ist fremd? Wenn ja, was erdet?

Es ist übrigens ganz wesentlich wichtig, dass wir Pfarrerinnen und Pfarrer, Prädikantinnen und Prädikanten „geerdet“ sind. Sonst „himmeln“ wir Bilder, Geträumtes, vor allem unsere Lieblingsgedanken an - die Bibel ist reich davon - und entdecken hinter den Bildern nicht den „Grund“. Man muss sich bücken, um sich „erden“ zu lassen. Im Kriechen riecht man Erde. Keiner muss sie fressen. Aber der Geruch ist einmalig.

Anzeige: Ich bin, wie Gott mich schuf von Sabine Estner und Claudia Heuermann

Die Pastoralblätter im Abo

Gottesdienste komplett und fundiert vorbereiten.

Zum Kennenlernen: 2 Ausgaben gratis

Jetzt testen