"Grod diech braungmer" – oder: Die Zumutung des Stellenwechsels

Im 12. Jh. versuchte Anselm von Canterbury die vernünftige Notwendigkeit des stellvertretenden Leidens und Sterbens des Gott-Menschen der Logik schlüssig zu beweisen. - Im 16. Jh. konnte Martin Luther fast heiter schreiben: „Ich tue als Christ, was ich kann. Was ich nicht kann, das zahlt das Leiden Christi.“ - Vor Jahren schrieb mir eine Frau und drückte damit aus, was viele umtreibt, wenn sie gar mit Begriffen wie Opfer, Sühne, Strafe usw. konfrontiert an die Passion Jesu denken: „Von so einem Gott will ich nicht geliebt werden.“
Das Kreuz als Mahnzeichen für die vielen Kreuze: Ja.
Das Kreuz als Zeichen für die geschundene Existenz des jüdischen Volkes: Ja.
Das Kreuz als Zeichen der menschlichen Ohnmacht angesichts politischer Willkür und kalter Macht: Ja.
Das Kreuz als Zeichen der Liebe Gottes: Nein.

So, wie es vielleicht peinlich ist, dass mir einer die Füße wäscht, wie es befremdend ist, dass mir einer seinen Speichel auf die Augen streicht, wie es scheinbar unappetitlich ist, dass ich aus einem Kelch mit vielen trinke, so wehre ich mich dagegen, dass Christus für mich stirbt. Sterben ja, aber nicht für mich, nicht für meine Schuld. Als ob ich keines Opfers wert wäre.
Eine entscheidende theologische Krise unserer Zeit ist die Krise des Glaubens an den leidenden, sterbenden, für uns geopferten Gottessohn.

Warum wehren wir uns gegen solche Gedanken? Warum ist uns das Kreuz als ureigenste Tat Gottes so undenkbar geworden in den vergangenen Jahrzehnten?
Bei Kazoh Kitamori, einem japanischen Theologen, lese ich: „Der totale Sieg Christi, nämlich die Auferstehung, geschieht dann, wenn der Sünder der Liebe Gottes am Kreuz nicht mehr widersprechen kann.“ (S. 157) Petrus hatte, als Jesus sein Leiden und Sterben ankündigt, gewehrt: Gott bewahre dich, Herr! Das widerfahre dir nur nicht! Wir kennen die Antwort Jesu: Geh weg von mir, Satan, du bist mir ein Ärgernis; denn du meinst nicht, was göttlich, sondern was menschlich ist.
Das ist die Gefahr, der die Kirche immer wieder unterliegt, dass sie das, was geschieht an Karfreitag, als etwas Göttliches nicht zulassen will. Dass sie es ganz „ver-erden“ will und allenfalls dann den Juden und den Römern die Schuld gibt - und dafür die Römer und die Juden verfolgt. Wir sind nicht bereit, uns erschüttern zu lassen und zu staunen und dieses erschütterte Staunen weiterzugeben. Unser Gottesbild zerbricht. „Gott bewahre dich, Herr!“, sagt Petrus und weiß nicht, was er sagt.
Das sind Gedanken, die wir im Zusammenhang mit Gott nicht hören wollen: Strafe, Zorn, Opfer. Wir machen damit unseren Gott erst recht zu einem „herzlosen“ Wesen. Wer ein Herz hat, leidet: Der, den er liebt, ist anders, als er sein könnte. Wer kein Herz hat, den lässt das kalt. Der schaut zu, wie andere ins Verderben rennen. Der schreckt auch nicht im Schlaf auf und denkt: Was tun sie nur? Wer ein Herz hat, ist auch zornig. Wer ein Herz hat, will mit allen Mitteln zurechtbringen, was gnadenlos aus dem Lot ist.
Der Mensch will weg von Gott, will glänzen ohne Gott, will Gottes Liebe nicht. Um die Verlorenen zu retten, so erzählt das Neue Testament der Bibel, verlässt Christus die Liebe Gottes. Geht ins Ausland zu den Menschen, die sich gegen die Liebe und den Glanz Gottes wehren. Erträgt an unserer Stelle den Zorn Gottes.
Arnold Pfeiffer (1640-1698) dichtet und Johann Sebastian Bach (1685-1750) vertont folgende Worte:

So gibst du nun, mein Jesu, gute Nacht,
so stirbst du denn, mein allerliebstes Leben,
ja du bist hin, dein Leiden ist vollbracht.
Mein Gott ist tot, sein Geist ist aufgegeben.
Mein Freund ist hin, den meine Seele liebt,
der neigt sein Haupt, dem sich der Himmel bücket.
Der mir und aller Welt das Leben gibt,
wird von dem Tod ins finstre Grab gezücket.

So von Gott zu reden war zu früheren Zeiten selbstverständlich.
„Mein Freund ist hin. Mein Gott ist tot.“
Kann ein Gott sterben? Stirbt da - so mag man sich helfen - die menschliche Hülle, innerhalb derer Gott unversehrt die Passion übersteht? Aber wie soll ich auf solchen Tod dann meine Hoffnung gründen? War Jesus von Nazareth nur äußerlich und zum Schein Mensch, wie kann ich dann von seiner Auferstehung her sagen: Christus lebt, mit ihm auch ich?

Gott hat nicht unversehrt die Passion überlebt. Wie immer wir dies innergöttliche Geheimnis deuten - hier stirbt ein Mensch. Das ist eigentlich schlimm genug. Dieses Kreuz macht die ganze menschliche Hilflosigkeit, unser Elend deutlich. Aber hier stirbt auch Gott. Das Herz Gottes blutet. Die Zeit steht still. Keiner, an den der Mensch sich noch wenden könnte.

Im 17. Jahrhundert dichtet Johann Rist: „O große Not! Gott selbst ist tot.“
Im heutigen Kirchengesangbuch ist diese Zeile in Lied 73 geändert. Jetzt singen wir sehr viel zurückhaltender: „O große Not! Gotts Sohn liegt tot!“

An Buß- und Bettag 1996 wurde in Nürnberg ein „Kreuz der Arbeitslosigkeit“ aufgerichtet. Einer, der dabei war, ein Arbeitsloser, übermittelte mir seinen Text, den er verfasst und unter anderen Beiträgen bei der Errichtung des Kreuzes vorgetragen hat. Der Verfasser ist nicht Pfarrer, Kirchenältester oder Lektor. Er ist arbeitslos und möchte seinen Namen nicht genannt wissen. Es gibt Wesentlicheres. Von der Kanzel in Bildern sprechen, die existenziell nicht überfordern.

„Das Kreuz ist doch, wenn man’s recht bedenkt, ein Zeichen der Ablehnung. Der Jesus wurde von den Verantwortlichen, von den Entscheidungsträgern seiner Zeit, abgelehnt: „Den kemmer ned braung, der bringd ja alles durchernander, der mou wech!“ (fränk.: „Den können wir nicht brauchen, der bringt ja alles durcheinander, der muss weg!“)

Damit ist das Kreuz für mich Symbol für „Nein!“. Arbeitslosigkeit ist eins von diesen vielen Neins. So gehen Kreuz und Arbeitslosigkeit für mich zusammen: das Kreuz als Symbol für die vielen, vielen Neins, von denen eines, nur eines, die Arbeitslosigkeit ist.

Ist das alles: Kreuz Symbol für „Nein!“? - Wenn das alles ist, dann errichten wir an Karfreitag ein Zeichen der Hoffnungslosigkeit. - Wollten wir das? - Wollten wir eigentlich nicht. - Wo ist dann Hoff­nung?
Doch, ja, ich sehe Anlass zur Hoffnung: Ich schöpfe Hoffnung aus der Art, wie der Mann, den sie da­mals da drangenagelt haben, mit dem furchtbaren Nein von Seiten seiner Mitmenschen umgegangen ist.
... das ist das Eigentliche, was mir das Kreuz bzw. der, den sie da drangenagelt haben, sagt: Nicht fliehen vor der Ablehnung, vor den vielen Neins, das wäre wohl Flucht ohne Ende, in Resignation, in Alkohol oder sonst was. Auch nicht Gewalt: Gewalt erzeugt Ge­walt, eine Kette, endlos. Vielmehr sich stellen den Neins im Vertrauen auf ein großes JA vom Grund alles Seins her, auf ein unbedingtes, bedingungsloses Ja, das die tausenderlei irdischen Neins in sich birgt und aufhebt.
Das Kreuz sagt mir: Ich kann ein Ja finden - ein Ja zum Nein der Arbeitslosigkeit wie zu allen anderen Neins auch. Nicht, um mich mit dem Lebensfeindlichen, Zerstörerischen abzufinden, das täte den Ver­antwortlichen so gefallen! Aber um mir die Offenheit zu erhalten für bessere Tage, wenn vielleicht auch mal wieder ein ganz konkretes Ja ertönt: „Kumm’ mir braungdi, ja, grod diech braungmer!“ („Komm, wir brauchen dich, ja, gerade dich brauchen wir.“)

Es ist in der Passionszeit über die Zumutung des göttlichen „Stellenwechsels“ zu predigen. Dieser Stellenwechsel, an Heiligabend noch so einladend gefeiert, wird schlagartig zum Skandal, führt zu Enttäuschung und Verrat. Gott fällt „dauernd“ aus dem Rahmen.

Auf der Suche nach einfachen Bildern für das, was mit „Versöhnung“ beschrieben wird, bleibe ich bei der Schaukel hängen, bei einer Wippe. Gott macht sich schwer, geht zu Boden, zieht sich selbst in den Schmutz, während auf der anderen Seite der Mensch - aus dem Dreck befreit - sich plötzlich „oben“ wiederfindet. Verkehrte Welt. Kein Schnupperkurs für Angehörige des Götterhimmels auf der Erde, keine Stippvisite jenseits von Eden. Er bleibt.

Inkarnationstheologie wird konsequent zur Kreuzestheologie. Kreuzestheologie führt konsequent zur Doxologie (s. Joh.-Ev. oder Phil 2). Doxologie bleibt nicht Selbstzweck: Aus der (in der Mystik am deutlichsten verbalisierten) Siegesfeier wird Befreiungstheologie. Der Stellenwechsel Gottes steckt an. Leben steckt an: So seid nun ihr diejenigen, die mit Wort und Tat, mit Fürbitte und Fürsprache als Zeugen dieses Stellenwechsels handeln. Dies sei euer vernünftiger Gottesdienst, dass ihr euch - endlich aus dem ganzen Schlamassel befreit - als wirklich Freie erweist.

Wenn einer frei ist, dann ist es Gott. So gewaltig ist seine Liebe, so ernst meint er es mit der Freiheit, so radikal ist sein Ja zu den Menschen, dass er den Ertrinkenden, Verelendenden rettet und dabei selbst umkommt. Eine tiefe Wahrheit, vielleicht einsichtig noch Johannes vom Kreuz, Teresa von Avila, Martin Luther, Paulus aus Tarsus oder Dag Hammarskjöld. Die Welt der Händler hat dafür nur ein Lachen. Vor Jahren habe ich den Zynismus der Welt der Händler so beschrieben:

Stellenwechsel
Sie werden aus ihren
Vorstandsetagen
heruntersteigen
in die Bretterbuden
acht Tage dort hausen
und sagen
wir
haben uns das schlimmer
vorgestellt

Ja, eben das ist die Größte aller Zumutungen: Die Rechnung ist, bilanziert nach den Regeln der Händler, nicht aufgegangen. Der Krieg, nicht der Frieden wurde gewaltiger. Schändung, nicht Zärtlichkeit bestimmt den Alltag von Millionen. Vom scheinbar - aus der Sicht der Händler - sicheren Platz auf der Empore beobachten wir das Massen­elend, tauschen gutes Geld gegen begehrte Produkte, sind aber um keinen Preis bereit, die Empore zu verlassen. Wer wird sich schon diesem „elenden Gott“ anschließen, „heruntersteigen“ von der Empore, anderen den Platz frei machen und selbst ... Und selbst? Eine ganzheitliche Sicht wird plausibel machen müssen, in existenziell nachvollziehbare Akte übersetzen müssen, dass eine Welt, in der einer Opfer bringt für das Glück des anderen, eine glücklichere Welt ist als die, in der einer das Elend des anderen organisiert.

Aktionen wie das Arbeitslosenkreuz in Nürnberg, das ich selbst nur aus einem Briefwechsel kenne, könnten die Versöhnung, „mit Bildern schildern“, die nicht „existenziell überfordern“. Es gibt andere gute Beispiele.
Lasst uns diese Beispiele an Karfreitag feiern; und dabei, bei allem gebotenen Ernst, nicht vergessen, dass das Amt der Versöhnung ein fröhliches Amt ist. Unser Amt. Oder wie unser arbeitsloser Freund aus Nürnberg am Buß- und Bettag 1996 bei der Errichtung des Arbeitslosenkreuzes in seiner Mundart sagte: „Kumm’ mir braungdi, ja, grod diech braungmer!“

Selig eine Kirche, die sagt, dass sie gerade mich braucht.
Selig eine Kirche, die tut, was sie sagt.
Selig eine Welt, die das Geschwätz verabschiedet, auf deren Tagesordnung als Präambel Albert Schweitzers Forderung einer „Ehrfurcht vor dem Leben“ steht.
Selig eine Welt, die die Händler von ihren Bilanzen befreit.
Selig eine Welt, von Gott „heimgesucht“.
Selig eine Welt, die Gott nicht in ein anderes Asyl komplimentiert.
Selig eine Welt, die den „Stellenwechsel“ nicht propagiert sondern vollzieht.
Selig die Welt, die die Hungrigen aus Matth 25 und die Gesegneten aus Matth 25 und Jes 65 eins sieht.
Selig die Welt, die Gott - wenn auch auf verlorenem Posten - als die entscheidende Hilfe feiert, auch wenn er sein Kommen nicht unversehrt überstanden hat.
Selig die Kirche, die sich von der Empore verabschiedet und ihren Gott dort sucht, wo man sich bücken muss, wenn man finden will.

Ich bin selbst weit davon entfernt, das einhalten zu können, was mir zugesprochen ist. Dadurch wird der Zuspruch, die „Zumutung“ nicht weniger wertvoll. Im Gegenteil. Dieses Kleinod lasse ich mir nicht nehmen. Auch nicht auf dem „Dienstweg“.
Gott ist „in der Welt“ und ich bin „in ihm“.
Er „braucht mich“, und das lasse ich mir nicht zweimal sagen.

Lit.: K. Kitamori, Theologie des Schmerzes Gottes, Göttingen 1972; G. Engelsberger, Wir kommen auf Umwegen, Karlsruhe 1991

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  • probebohrung im himmel - Lyrikgottesdienst
  • Bildpredigt zum Karsamstag
  • Bildpredigt zu Dürers Selbstporträt aus dem Jahr 1500
  • Umgebung predigen: Berg - eine Versuchung
  • Umgebung predigen: Kreisverkehr
  • Bonhoeffer - ein Vorbild im Glauben (Biografiepredigt zum 73. Todestag am 9. April)
  • Predigt zum Weltgebetstag aus Surinam

Ich hoffe sehr, die Reichhaltigkeit unserer Themen und die theologische wie sprachliche Qualität unserer Autorinnen und Autoren erleichtern Ihren Dienst in der Passionszeit, für die ich Ihnen und den Ihnen Anvertrauten besonders Gottes Segen wünsche.

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