Liedpredigt zu EG 30 "Es ist ein Ros entsprungen"

„Es ist ein Ros entsprungen“ ist ein altes Rätsellied, das ursprünglich nur aus zwei Strophen bestand. Strophe eins formuliert die Rätselfrage. Strophe zwei gibt die Antwort. Lassen Sie uns darin einstimmen und es näher betrachten.

EG 30, 1.2 (Orgel/Gemeinde)

Wann immer ich dieses Lied singe, freue ich mich. Zum einen, weil ich des Rätsels Lösung kenne und obendrein auch noch die biblische Prophezeiung, die dahinter steht, vor allem aber, weil ich weiß und glauben darf, dass sich diese wundervolle Verheißung mit der Geburt Jesu Christi erfüllt hat. Das macht mich froh und zuversichtlich.
Ob es anderen auch so geht? Zumindest zählt dieses Lied zu den beliebtesten Weihnachtsliedern. Woran mag das wohl liegen? Ich vermute, dass ein Grund dafür die so bezaubernde Melodie ist. Ein weiterer Grund mag das Bild der Rose sein, die mitten im kalten Winter blüht. Mich jedenfalls berührt dieses Bild zutiefst. Wann immer ich im Winter in einem verschneiten oder von Raureif überzogenen Garten eine blühende Rose entdecke, bleibe ich staunend stehen und fühle mich an dieses Lied erinnert. Dann werde ich von einer großen und stillen Freude erfüllt, und die Rose wird mir zu einem Zeichen, das auf das große Wunder der Menschwerdung Gottes hinweist. Der Prophet Jesaja hat es bereits 500 Jahre vor Jesu Geburt angekündigt. Wir finden seine Worte in unserem Gesangbuch direkt nach unserem Lied abgedruckt: ...

Jesaja 11,1.2

Zur Zeit Jesajas erachtete man die Dynastie der Könige Israels als erloschen. Bildlich gesprochen war ihr Stammbaum gefällt. Das Volk Israel war ins Exil nach Babylon verschleppt worden und wähnte sich aller Zukunft beraubt. Doch der Prophet Jesaja sah das anders. Er sah einen neuen Trieb, der aus dem abgehauenen Baumstumpf Isais hervorbricht und der von Gottes Geist erfüllt sein wird. Dieser neue Spross wird, wie es in den folgenden Versen dann bei Jesaja eindrücklich geschildert wird, Frieden bringen und den Armen Gerechtigkeit verschaffen. Jesaja sieht ihn vor seinem geistigen Auge aufwachsen: Gottes Heilsbringer, Gottes Messias, der aus dem Hause Davids stammt, dessen Vater Isai ist, in unserem Lied auch Jesse genannt.

Die Rose in unserem Lied ist also genau genommen ein Reis, ein unverhofft hervorbrechender zarter, neuer Trieb. Dass aus dem Reis in unserem Lied eine Rose im kalten Winter wurde, ist zwar biblisch unkorrekt, aber zugleich auch irgendwie geheimnisvoll schön und poetisch.
Die Volksfrömmigkeit erzählt die Legende von einem Mönch, der zur Weihnachtszeit in seinem verschneiten Klostergarten eine blühende Rose entdeckt und daraufhin dieses Lied gedichtet haben soll. Der Wahrheitskern dieser Legende ist, dass die älteste überlieferte Handschrift unseres Liedtextes tatsächlich von einem Mönch namens Conradus aus Trier stammt. In seinem Nachlass befand sich ein persönliches Notiz- und Andachtsbuch mit Gebeten, geistlichen Gedanken und Texten. Darunter findet sich auch der Text der ersten beiden Strophen unseres Liedes. Zu datieren ist der Eintrag etwa auf das Jahr 1587/88. Textwissenschaftler gehen jedoch davon aus, dass der Kartäusermönch die Zeilen aus der Erinnerung heraus aufgeschrieben hat und dass sie ihm möglicherweise von Kindesbeinen an vertraut waren. Gut möglich, dass es ursprünglich ein Kinderrätsel war, das erst später zum Rätsellied wurde. Strophe eins formuliert das Rätsel. Sie fragt: „Wer ist diese Rose?“ Strophe zwei gibt die Antwort. Die lautete ursprünglich noch so: „Das Röslein, das ich meine, davon Jesaja sagt, ist Marie die reine, die uns das Blümlein bracht.“
Diese Textfassung findet sich bis heute im katholischen Gesangbuch. Maria ist nach dieser Lesart der Rosenstock, und das von ihr geborene Kind ist dessen Knospe. Das war im Mittelalter eine gängige Interpretation. Die Rose avancierte in dieser Zeit zu einem Symbol für Maria und stand für Reinheit und Unversehrtheit. Bilder von Maria im Rosenhag oder auch der Rosenkranz haben hier ihren Urprung.

Dass Maria der von Jesaja angekündigte Spross aus dem Hause Davids sein soll, überrascht jedoch evangelische Ohren. Denn die Bibel überliefert keinen Stammbaum Marias, wohl aber den Stammbaum Jesu (Matth 1). Dennoch wurde Maria von der alten Kirche als der Zweig aus dem Baumstumpf Isais gesehen, was auf die damals zugrunde liegende lateinische Bibelübersetzung, die Vulgata, zurückzuführen ist. Aufgrund einer Assoziation, bedingt durch die klangliche Ähnlichkeit der lateinischen Worte „virgo“ und „virga“, zu Deutsch: „Rute“ und „Jungfrau“, schloss man, dass sich die Prophezeiung wohl auf Maria beziehen musste. Aus dieser Deutungstradition ging unser Lied als ein reines Marienlied hervor. Zunächst erhielt es seinen festen Platz in der klösterlichen Messfeier am Geburtsfest Marias (8. September). Als es jedoch nur zehn Jahre nach seiner Niederschrift durch den Mönch Konrad mit der uns heute noch bekannten Melodie in einem katholischen Gesangbuch aus Köln - Speyer abgedruckt wurde, war es plötzlich in aller Munde. Das Gesangbuch war für den Gottesdienst, die Messe zusammengestellt worden. Zugleich war es ein Gesangbuch für die Masse, für das Volk, das ausdrücklich zum Gebrauch „in den Heusern und auff dem Feld“ gedacht war. Es verbreitete sich schnell im ganzen Land. Der Buchdruck machte es möglich. So wurden die geistlichen Gesangbücher in deutscher Sprache schnell zu den wichtigsten Vermittlern der christlichen Botschaft. Sie avancierten regelrecht zur Bibel des kleinen Mannes.

Als ich eine promovierte Kirchenmusikerin spontan fragte, was ihr zur Melodie des Liedes in den Sinn käme, sagte sie zu meiner Überraschung: „Eine einfache Melodie, die die Leute gerne singen. Sie geht schlicht an der Tonleiter entlang, wird aber durch den Wechsel von Viertel und halben Noten und die zwei Pausen in der Mitte interessant. - Eigentlich ist die Melodie gar nicht so wichtig. Wichtig ist die Botschaft des Liedes. Wenn sie die zum Klingen bringt, hat sie ihren Zweck erfüllt.“

In der Fachliteratur, die sie mir dann noch hat zukommen lassen, wurde ich darauf aufmerksam gemacht, dass die Melodie mit dem hohen C beginnt und lange diese hohe Tonlage hält - bis sie sanft absteigt. Ich erfuhr, dass sie in der alten ionischen Kirchentonart geschrieben ist, die vor allem bei Kinder- und Weihnachtsliedern verwendet wurde. Die ersten beiden Melodiezeilen werden gleich noch einmal wiederholt und kehren am Ende zum dritten Mal wieder. So entsteht ein schlichter und zugleich geheimnisvoll zarter Klangraum, ja fast schon ein heiliger Klangtempel, in dessen Mitte die Kernaussage des Liedes zu finden ist. Diese Mitte wird zusätzlich durch zwei Pausen abgesetzt und gerahmt. Wir halten also förmlich den Atem an, bevor wir in diese Mitte eintreten und die zentrale Botschaft des Liedes singen, und wir verharren in andächtiger Stille, nachdem wir sie ausgesprochen haben.

Ich schaue auf die so hervorgehobenen zentralen Zeilen aus der 1. und 2. Strophe und lese nur vier bzw. fünf Worte: „ ... und hat ein Blümlein bracht ... aus Gottes ewgem Rat ...“ Das vermeintliche Marienlied hat demnach eine unendlich kostbare, christologische Mitte. Das ganze Evangelium steckt in diesen beiden kleinen Zeilen. Sie erzählen von der Geburt Christi und zeigen uns Gottes Heilswillen für die ganze Welt, den Gott von Ewigkeit her in seinem Herzen trägt. Im Johannesevangelium klingt das so: (Joh. 3,16) „Denn also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.“

„ ... und hat ein Blümlein bracht“ (Str. 1), „aus Gottes ewgem Rat“ (Str. 2) Das ist Weihnachtsevangelium pur. Die geheime Mitte unseres Liedes erzählt von Christi Geburt. Darum trug das Lied schon in der ersten Gesangbuchveröffentlichung die Überschrift: „Das alt Catholisch Trierisch Christkindlein“. Fortan fand es in den Gesangbüchern seinen Platz unter der Rubrik „Advent-Weihnachten“.
Auch die Formulierungen „mitten im kalten Winter“ und „wohl zu der halben Nacht“ weisen auf Weihnachten hin. „ ... mitten im kalten Winter“, damit ist die Zeit der Wintersonnenwende gemeint, also der Tag, an dem wir Christi Geburt feiern; und „… wohl zu der halben Nacht“ benennt die Stunde, in der wir die Christmette feiern.

Gerade mal zehn Jahre nach seiner Ersterscheinung im katholischen Gesangbuch von Köln - Speyer wurde das Lied von dem evangelischen Kirchenmusiker Michael Praetorius entdeckt. Er schrieb dazu den wundervollen und bis heute in unserem Gesangbuch abgedruckten vierstimmigen Satz. Zudem machte er das Lied für Protestanten kompatibel, indem er die 2. Strophe umschrieb und die Jesaja-Prophezeiung biblisch korrekt auf Jesus hin auslegte. Er lenkte dadurch den Blick weg von Maria, hin auf das Kind, das sie geboren hat. Dennoch verschwand das Lied im Zuge der Aufklärung zunächst aus unseren Gesangbüchern, bis es von dem aus Bayreuth stammenden evangelischen Pfarrer Friedrich Layritz wiederentdeckt und 1844 durch zwei weitere Strophen ergänzt wurde. Es war Layritz ein großes Anliegen, uns die Seligkeit vor Augen zu führen, die uns mit der Geburt Jesu geschenkt ist. Stimmen wir in seine 3. Strophe ein.

EG 30,3 (Orgel/Gemeinde)

Layritz bleibt bei dem Bild des Blümleins als Symbol für das von Gott verheißene Kind. „Das duftet uns so süß.“ Ich denke an den besonderen Duft eines Neugeborenen. Ich denke an Jesu Geburt und ich denke an sein Leben und Sterben, an seinen Tod am Kreuz (Eph 5,2), in dem auch unser Leid und Sterben aufgehoben ist - im doppelten Sinne des Wortes: aufgehoben! (Offb. 21) Der Tod, das Leid, unsere Schuld, Versagen und Selbstverurteilung: Sie sind in und durch Christus überwunden. Sie haben nicht das letzte Wort. Gottes Liebe zieht uns ins Leben - auch durch das Dunkel des Todes hindurch. „Mit seinem hellen Scheine vertreibt’s die Finsternis“: Christus, das Licht der Welt. Christus, das Licht meines und deines Lebens! Es hat österlichen Glanz! Das ist Gottes ewiger Rat (Str. 2), dass Gott uns in Christus erwählt hat und geliebt und zum Leben bestimmt hat, bevor die Welt erschaffen wurde (Eph 1,4). Jesus Christus, unsere Zuversicht und unsere Hoffnung, unser Friede, unsere Freude und unsere Kraft, unser Bruder und unser guter Hirte, unser Herr und unser Gott, unser Leben, „wahrer Mensch und wahrer Gott“: die leuchtende Mitte der 3. Strophe, die zur leuchtende Mitte unseres Lebens werden will. Das ist wahre Seligkeit! Kein Wunder, dass diese 3. Strophe auch ins katholische Gesangbuch aufgenommen wurde.

Nicht so die 4. Strophe.
Im Evangelischen Gesangbuch ist sie zwar abgedruckt, aber sie wird selten gesungen. Vielleicht, weil unsere Welt darin als ein einziges Jammertal gesehen wird. So sehen wir sie nicht gerne und schon gar nicht an Weihnachten. Und doch wissen auch wir um unzählige Zeiten, Orte und Schicksale, an denen Menschen unendlich leiden. Gut, wenn wir unsere Augen und unsere Herzen nicht davor verschließen. Gott will, dass den Elenden geholfen und Menschen, die im Dunkeln sitzen, Hoffnung und Zukunft geschenkt wird; dass Gottes Reich unter uns wächst, dass Friede und Gerechtigkeit unter uns blühen und dass Versöhnung, Güte und Barmherzigkeit unser Miteinander prägen. Am Ende soll Gottes Himmel allen offen stehen. Hat es Gott nicht gerade deshalb Weihnachten werden lassen?! Die 4. Strophe unseres Liedes ist eine Gebetsstrophe, die uns in ihrer geheimen Mitte diesen Himmel vor Augen stellt. Sie lässt uns unser Leben vertrauensvoll in Gottes gute Hände legen. Stimmen wir darin ein:

EG 30,4 (Orgel/Gemeinde)

Vorschlag zur Gestaltung des Altarraumes: Große Wurzel mit Rose; Bildhinweis: Sieger Köder: „Die Blume aus dem toten Stamm“.

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