Liedpredigt: Wo Gott der Herr nicht bei uns hält (EG 297) – Justus Jonas/Martin Luther

Er hatte sich gewünscht, dass es am Ende Martin Luther sei, der ihn auf seiner letzten Reise begleiten würde. Seine labile Gesundheit ließ den festen Gedanken in ihm entstehen, dass er, obwohl deutlich jünger, früher sterben würde als der väterliche Freund. Es kam anders - man mag es Zufall nennen oder Fügung, für seine letzte Mission konnte Luther auf den treuen Mitarbeiter nicht verzichten. Er brauchte den klugen und beschlagenen Juristen, den geschickten und besonnenen Vermittler im Streit der Mansfelder Grafen. Die Reise war für beide beschwerlich, die Wege waren vereist, Luther fühlte sich müde und schwach. Die Fahrt führte ihn an den Anfang zurück, nach Eisleben, dem Ort seiner Geburt.
Gemeinsam gelingt es, den Streit zu schlichten, aber für die Rückkehr reicht die Kraft nicht mehr. Am 18. Februar 1546 steht Justus Jonas am Sterbebett des Freundes. Er ist es, der dem Reformator die Augen zudrückt, die Sterbepredigt hält und den Leichnam nach Wittenberg bringt. Der Öffentlichkeit berichtet er von diesen letzten Stunden, um zu dokumentieren, dass Luther in tiefer Glaubenszuversicht starb. Das war der letzte Dienst, der ihm blieb.
Sein Leben wäre ohne Luther anders verlaufen, manches teilte er mit dem Reformator: Wie dieser hatte er Jura studiert, auch in Erfurt, aber er hatte sein Examen abgeschlossen und wurde zum Doktor promoviert, hielt Vorlesungen und war im Freundeskreis sehr geschätzt. Anders als Luther gehörte er zu dem Humanistenkreis, der sich in Erfurt gebildet hatte. Wie sie alle verehrte er Erasmus von Rotterdam, folgte seinem Aufruf ad fontes und beschäftigte sich mit den griechischen Quellen. Und es war auch Erasmus, der ihm riet, zur Theologie zu wechseln und sich der Heiligen Schrift zu widmen. Also studierte Jonas auch noch Theologie, wurde ebenfalls in diesem Fach promoviert und hielt Vorlesungen über die Bibel.

Als Kurfürst Friedrich der Weise für seine Universität einen Professor für Kirchenrecht suchte, empfahl Spalatin ihn dem Monarchen mit den Worten, dass er „ein junger Mann und frommer gelehrter Priester sei, in beiden Sprachen, Latein und Deutsch, beredt, liest auch in Theologie und predigt“. Eine große Gemeinde solle er haben, und wenn er lese, kämen an die 600 Hörer. Für damalige Zeit eine unfassbar große Anzahl.
1521 kommt Jonas nun nach Wittenberg, er trifft auf Luther, und das wird die entscheidende Begegnung seines Lebens. Die Erfurter Humanisten haben Luther irgendwie zu den Ihren gezählt, der Reformator wäre damit sicherlich nicht unbedingt einverstanden gewesen. Dafür geschieht das andere, dass Jonas, einer der führenden Erfurter Köpfe, auf Seiten Luthers tritt. Erasmus sieht die Entwicklung mit Sorge, allein, es ist schon entschieden. Luther ist auf dem Weg zum Wormser Reichstag und Jonas begleitet ihn. Er wird immer wieder an seiner Seite stehen, wird zu seinem treusten Mitarbeiter werden, sei es in juristischen Fragen, sei es bei der Bibelübersetzung, zumindest im griechischen Teil, sei es in Fragen der Kirchenordnung und -verfassung. Mehr noch, er ist es, der Luther beisteht und tröstet. Als der Reformator seine dunkelsten Stunden durchlebte, stand ihm Jonas zur Seite. Am nächsten Tag sagte Luther: „Ich muss den Tag merken, ich bin gestern zur Schule gewesen.“ Sein Weg erschien ihm im Rückblick als Lebensschule.

Es war Jonas, der dafür sorgte, dass Luthers Rede aus Worms in den Druck kam. Rund 35 Schriften Luthers und Melanchthons übersetzte er, die einen ins Deutsche wie die 95 Thesen, die Streitschrift gegen Erasmus, aber auch das große dogmatische Werk Melanchthons. Im Grunde übersetzte er nicht, er erklärte, deutete und interpretierte. Und er sorgte letztlich dadurch dafür, dass die Schriften verstanden wurden und im Land weite Verbreitung fanden. Und er übertrug auch Texte ins Lateinische, damit sich die Gelehrten Europas mit den Lehren der Reformatoren auseinandersetzten.
Mit eigenen Schriften ist er kaum hervorgetreten, sieht man von der Verteidigung der Ehe von Geistlichen einmal ab, die er als frisch Verheirateter schrieb und in der er die Ehe als Schule der Mitmenschlichkeit beschrieb. Nicht einmal zehn Gedichte sind von ihm erhalten, vielleicht waren es auch mehr, aber nicht erheblich mehr. Er stand im Schatten des Größeren, zu ihm sah er auf, für ihn arbeitete und lebte er. Luther bestimmte seine gesamte Existenz. „Mi Jona“, redete ihn Luther an, als engsten Freund bezeichnete er ihn. Umgekehrt wäre Justus eine solche Anrede im Übrigen nicht in den Sinn gekommen, er spürte den Abstand. Dieser ist ein Mann, der konnte, was er wollte, sagte er später gegenüber einem Freund. Jonas gehört trotz aller Verdienste, die er sich um Luther und die Ausbreitung der Reformation erworben hat, in die zweite Reihe.

Als Luther auf der Wartburg war, reformierte er mit Karlstadt in Wittenberg den Gottesdienst. Und als Luther dazu aufrief, Lieder für den Gottesdienst zu schreiben, fühlte er sich angesprochen, obwohl er eigentlich gar nicht gemeint war. Warum er für sein erstes Lied den Psalm 124 auswählte, kann nicht mehr geklärt werden. Immerhin ersetzte Jonas im September 1523 im Stiftsgottesdienst die unbiblischen Gesänge durch Psalmen. Und wer sich die Situation der jungen Kirche vor Augen führt, kann die Entscheidung für den 124. Psalm leicht nachvollziehen. Mit dem Psalter hatte sich Jonas, wie auch all die anderen Reformatoren, intensiv beschäftigt. In Israel fanden sie die junge Kirche wieder, in den sie umgebenden Gefahren sahen sie das Papsttum am Werke. Im Grunde enthält dieser Psalm das reformatorische Credo: In der großen Glaubensnot hoffen sie allein auf Gott, er wird die Gemeinde retten und schützen, der Glaube wendet die Angst in Dank, aus der Klage wird das Lob.

Das Lied, das Jonas aus dem Psalm spinnt, ist im Grunde ein Kampflied. Er nimmt den Faden auf, verstärkt und erweitert ihn. Er geht mit dem Text nicht anders um als mit den Schriften Luthers in seinen Übersetzungen. Er interpretiert und deutet, er bezieht die alttestamentlichen Aussagen auf die konkrete Situation der evangelischen Kirche. Um 1523/24 ist das Erlebnis des Wormser Reichstages noch ganz frisch, Luther ist gebannt, das Neue Testament liegt übersetzt vor, die Trennung von der römisch-katholischen Kirche ist damit endgültig vollzogen, die Zukunft ist ungewiss. Papst und Kaiser haben keinen Zweifel daran gelassen, dass sie die Reformation mit Gewalt bekämpfen werden.

„Sie stellen uns wie Ketzern nach,/ zu unserm Blut sie trachten. / Noch rühmen sie sich Christen hoch, / die Gott allein groß achten. / Ach Gott, der teure Name dein / muss ihrer Schalkheit Deckel sein. / Du wirst einmal aufwachen.“

Diese Strophe ist wie drei weitere ausgelassen worden, aber sie zeigt sehr deutlich, in welchem Geist dieses Lied entstanden ist. Irenik wie Ökumene war nicht die Sache des 16. Jahrhunderts. Aber es geht auch nicht vordergründig um Polemik oder Kampf, sondern um Glaubenszuversicht und Trost. Letztlich ist es Gott, der die Sache der Menschen führt. „Mit unsrer Macht ist nichts getan, wir sind gar bald verloren; es streit’ für uns der rechte Mann, den Gott hat selbst erkoren“ (EG 362,2), wird Luther Jahre später dichten, wird es Jahr um Jahr am Reformationsfest gesungen werden. Das ist reformatorische Hoffnung und das ist im Kern auch alttestamentliche Hoffnung. Gott führt die, die auf ihn hoffen, zum Sieg. Alle Menschenkraft ist letztlich nur „Menschenwitz“, von höherer Stätte werden die Pläne der Gegner aufgedeckt werden, alle Klugheit nutzt da nichts.

Dass Glaube mehr zählt als die Vernunft, das war die Lebenserkenntnis des Justus Jonas. Das war das Credo dieses so gelehrten und hoch gebildeten Mannes, dieses einstigen Humanisten, der sich so entschieden auf Seiten Luthers stellte. Die sechste Strophe fasst dieses Bekenntnis in ganz eigene Worte - im Gesangbuch ist es die fünfte Strophe, es ist die große Troststrophe der evangelischen Kirche. Die Paradiestür, von der Luther sprach - diese Gnadentür ist geöffnet. Vernunft kann das nicht begreifen, aber das Kreuz verspricht uns die Gnade. Angst und Sorge münden in Lob und Dank.

Luther hat kurze Zeit nach Jonas den 124. Psalm ebenfalls in einem Lied nachgedichtet, statt acht Strophen sind es drei, statt Deutung und Aktualisierung ist es eine Nachdichtung, die sich eng an den biblischen Wortlaut hält. Er nimmt das Motiv der Flut auf, die alles zu ertränken droht. Im Psalm klingen hier die Chaosmächte an. Er spricht von der Falle, die zerbrochen ist, nur knapp entrinnt der Vogel dem Verderben. Dennoch, auf Gott ist Verlass, er rettet, wenn auch in letzter Minute. „Aus dem Wissen um die eine Hilflosigkeit des Menschen wächst hier die Kraft des Glaubens, der sich ganz verlässt auf den, der allein allen Gefahren gewachsen ist“ (S. 521), so fasst der Alttestamentler Artur Weiser die Botschaft des 124. Psalms zusammen. Aus der „Erfahrung der wunderbaren Gotteshilfe“ wächst der Dank für die Rettung, quillt die Kraft neuer Zuversicht.

Noch ist die Reformation nicht gerettet, noch sehen sich ihre Männer und Frauen Gefahren gegenüber, die sie nicht einschätzen können. Auf ihrer Seite haben sie allein das Wort, haben sie allein Gott - aber was und wen könnten sie mehr haben? Und möge die Welt auch murren, sie bauen auf den, der Himmel und Erde gegründet hat. Der Blick geht in die Zukunft, voller Trost und Zuversicht sehen die evangelischen Christen in die kommende Zeit. Dass den Glaubenden viel abverlangt werden wird, das bekommt Justus Jonas in einem besonders starken Maße zu spüren. Nach dem Tod Luthers wird sein Leben und das seiner Familie viele Jahre unstet und bedroht sein.

Der zuversichtliche Grundtenor des Psalms findet sich sowohl bei Jonas wie Luther wieder, das mag dazu geführt haben, dass man beide Lieder im Evangelischen Gesangbuch miteinander kombinierte. Dass man Luthers Choral „Wär Gott nicht mit uns diese Zeit“ die erste Strophe raubte und das Lied des Jonas geradezu halbierte, das zerstört den Aufbau und die Struktur beider Dichtungen. Allerdings wird dieses Lied damit auch zu einem großartigen Dokument der Freundschaft dieser beider Männer, die sich kongenial ergänzten. Von ihrer ersten Begegnung 1521 an sind beide ihren Weg gemeinsam gegangen, an den Trennungen litten beide gleichermaßen, sie vereinte beide der evangelische Glaube, der Trost und die Zuversicht aus dem Wort. Davon singt ihr Lied, ein wahrhaft reformatorisches, ein im tiefsten Sinne evangelisches Lied.

Literatur: Siegfried Bräuer, „Wo Gott der Herr nicht bei uns hält.“ Justus Jonas als Kirchenlieddichter, in: Justus Jonas (1493-1555). Beiträge zur 500. Wiederkehr seines Geburtstages, Nordhausen 1993, S. 76-95; derselbe, Wo Gott der Herr nicht bei uns hält, Liederkunde zum Evangelischen Gesangbuch, hg. von Gerhard Hahn und Jürgen Henkys, Band 3 (Heft 13), Göttingen 2007, S. 80-84; Walter Delius, Justus Jonas. 1493-1555. Gütersloh 1952; Siegfried Fornaçon, Justus Jonas, MGG 7, S. 156-157; Hans-Günter Leder, Justus Jonas, TRE 17, S. 234-238; Inge Mager, „da war viel ein anderer Mann“. Justus Jonas - Ein Leben mit und für Luther, in: Luther und seine Freunde. „... damit ich nicht allein wäre.“, Wittenberger Sonntagsvorlesungen. Evangelisches Predigerseminar 1998, S. 10-27; Martin Schellbach, Justus Jonas, Essen 1941; Artur Weiser, Die Psalmen (ATD 14/15), Göttingen, 6. Aufl. 1963

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