Kleomedes - und die Olympischen Spiele

Gott kennt den Entwurf, und Gott liebt die Bruchstücke, die übrig sind. Es lohnt sich, sich mit den Scherben auf den Weg zu machen.

Es gab einen großartigen griechischen Sportler zur Zeit der antiken Olympischen Spiele. Er hieß Kleomedes und stammte aus Astypalaia. Er gewann bei allen möglichen Wettkämpfen, in Delphi, in Isthmia, in Nemea. Nur nicht in Olympia. Aus Verzweiflung, weil er nie bei den Olympischen Spielen gewann, wurde er wahnsinnig. In diesem Wahnsinn dringt er in ein Schulgebäude ein und bringt es zum Einsturz. Sechzig Kinder werden von den Trümmern erschlagen. Unser wahnsinniger antiker Leistungssportler Kleomedes flieht unter den Steinwürfen der aufgebrachten Bürger. Er wird nie mehr gesehen.
Ein olympisches Schicksal. Nur der Sieg zählt. In den Büchern stehen noch die Zweiten und die Dritten. In der Ruhmeshalle nur die Sieger. Da riecht es nach Schweiß, Kraftraum, Trainingslager, Verzicht auf Wein, gutes Essen und Geschlechtsverkehr. Da winkt das Kloster, ja da drohen sogar die blutenden Wunden, die sich immer wieder besonders eif­rige Christen geschlagen haben um ihres züchtigen Lebens willen. Und heute drohen die Dopingproben. (Gut so!)

In Korinth gab es Leute, die übers Ziel hinausgeschossen sind. Siegestrunken wa­ren sie. In Euphorie. Hatten sich so weit von der Realität entfernt, dass sie über den Problemen der Menschen schweb­ten. Sie wa­ren sich der Wohltat Gottes durch Jesus persönlich sicher. Sie dachten nicht mehr im Traum daran, dass damit der Weg, der Lauf erst begonnen hat. Sie vergaßen in ihrem Glück ein­fach die Not um sich. Sie ließen alles beim Alten. Sie feierten ihre Erlösung und ließen andere sich die Hände schmutzig machen.
Läufer und Faustkämpfer treten auf. Und allen, die antreten zum Lauf oder zum Kampf, allen ist die Goldmedaille versprochen. Sie laufen nicht ins Ungewisse. Sie wissen: Wenn wir laufen, gewinnen wir. Und dann bleiben sie stehen und feiern, bevor sie über­haupt gelaufen sind. Sie feiern schon, machen Luftschläge, Trockenschwimmen und lassen andere rennen.
So seid ihr, sagt Paulus. So seid ihr. (1. Korinther 9,24ff)
Das ist mit der geschenkten Freiheit nun nicht gemeint, dass ich mich auf Jesu Lorbeeren ausruhen könnte. Da kann noch eine Menge passieren.

Paulus erzählt von sich selbst: Mit hängender Zunge renne ich von Stadt zu Stadt, verdiene meinen Lebensunterhalt als Arbeiter und lasse keine Möglichkeit aus, von Christus zu erzählen. Ich hetze zwei-, dreimal durch Kleinasien, ich verzichte aufs Heira­ten, ich nehme Schwierigkeiten in Kauf - und ihr zweifelt an meinem Glauben, an meiner Berufung.
Ihr lacht über mich, weil ich mich so abmühe, weil ich mich immer wie­der neu umstelle, hier auf Juden, dort auf Griechen. Hier muss ich Frauen überzeugen und dort mich mit Männern auseinan­dersetzen. Ihr lacht über meine Versuche, die Reichen von ih­rem Kult um Geschäfte und Geld wegzubringen und den Armen eine neue Aussicht zu geben.
Ihr sitzt in Korinth, haut euch den Bauch voll, feiert die Auferstehung Christi und lacht über diesen Halbverrückten, der auf so vieles verzichtet, sich mit seinen Krankheiten, mit Wind und Wetter und allen möglichen Ärgernissen herumschlägt, während nach eurer Einstellung längst alles gelaufen ist.
Nein, sage ich euch: Nichts ist gelaufen, wenn euch das Evangelium keine Beine macht. Nichts geht, wenn ihr nicht geht. Ihr lasst den versprochenen Preis liegen. Das ganze Leben laufen wir, und ein Ende des Laufens wäre ein Ende des Lebens.
So wie der Reiter vor einem entscheiden­den Sprung sein Pferd - so sagt man in der Fachsprache - „versammelt“, so brauche ich Leib und Seele und Verstand bei­sammen, wenn ich als Christ leben will.

Wenn ich mir anschaue, wofür in unserem Land geschuftet wird, wofür sich Menschen quälen, sogar entfremden, sich aufgeben und benutzen lassen, unter welchen Bedingungen z. T. heute noch malocht wird in Tag- und Nacht- und Schicht- und Akkordarbeit, dann sind die endlosen Staus auf der Autobahn, der Leistungsdruck im Betrieb, die gnadenlose Konkurrenz der Firmen, die Quälerei in den Fitnessstudios, die Abmagerungskuren, die Terminhetze und die hemmungslose Ausgrenzung Schwacher und Alter aus der Werteskala die heutigen Peitschenhiebe, Geißelungen auf bloßer Haut.
Nimm Leib, Seele und Verstand zusammen!

Bonhoeffer re­det vom fragmentarischen Leben. Zwei Passagen aus seinem „Widerstand und Ergebung“.
„Wir sind aufgewachsen in der Erfahrung unserer Eltern und Großeltern, der Mensch könne und müsse sein Leben selbst planen, aufbauen, gestalten, es gebe ein Lebensziel, zu dem der Mensch sich entschließen und das er dann mit ganzer Kraft auszuführen habe und auch vermöge. Es ist aber unsere Erfahrung geworden, dass wir nicht einmal für den kommenden Tag zu planen vermögen, dass das Aufgebaute über Nacht zer­stört wird und unser Leben im Unterschied zu dem unserer Eltern gestaltlos oder doch brüchig geworden ist.“ (Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. S. 324 (leicht verändert)
„Es kommt wohl nur darauf an, ob man dem Bruchteil unseres Lebens noch ansieht, wie das Ganze eigentlich angelegt und gedacht war und aus welchem Material es besteht.“ (a. a. O., S. 246)

Unser Leben, als wunderbarer Gesamtentwurf Gottes zur Bereicherung dieser Welt gedacht, kann sehr wohl in Brüche ge­hen, auf Umwegen stocken. Es ist aber trotzdem nicht ein Wegwerfartikel, sondern eine Kostbarkeit.
Gott kennt den Entwurf, und Gott liebt die Bruchstücke, die übrig sind. Es lohnt sich, sich mit den Scherben auf den Weg zu machen. Und alles nur Mögliche dafür einzusetzen, dass die Scherben nicht auf dem Müll, sondern in den Händen Gottes und in den Händen lieber Mitmenschen landen.
Ein Christ ist ein Mitmensch, der angeknackst und wund sein mag. Er wird Haare und Zähne verlieren. Auch die Kraft seiner Muskeln und die Straffheit seiner Haut.
Aber nicht sein Gesicht und den aufrechten Gang.

Allen Autorinnen und Autoren danke ich herzlich für einen großartigen Monat September.

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